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Tagesschau: "Es sind Tausende von Flüchtlingen, die auf der sogenannten Balkanroute unterwegs sind. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Kroatien geschlossen hat, weichen sie nun über Slowenien aus, um weiter Richtung Norden zu gelangen."
Angela Merkel: "Es ist eine schwierige Aufgabe, vielleicht die schwierigste seit der Wiedervereinigung."
Horst Seehofer: "Wir sind der festen Überzeugung, dass diese große historische Aufgabe, die Integration von Flüchtlingen in unserem Land nicht auf Dauer zu haben sind, wenn wir nicht zu einer Obergrenze für die Zuwanderung bei den Flüchtlingen kommen."
heute-journal: "Seit Wochen harren in Idomeni mehr als 10.000 Menschen aus. Ihre Hoffnung, über Mazedonien doch noch weiter nach Westeuropa, vor allem Deutschland, zu gelangen, muss eigentlich von Tag zu Tag gesunken sein."
Reporter: "An der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien verschärft sich die Lage. Migranten rissen einen Stacheldraht teilweise ein. Zudem soll es zu Schlägereien zwischen Angehörigen verschiedener Nationalitäten gekommen sein."
Frauke Petry: "Dass zur Grenzsicherung Beamte auch Waffen tragen, von denen niemand will, dass sie eingesetzt werden, letztlich habe ich nicht mehr gesagt."
Sigmar Gabriel: "Wenn Deutschland es nicht schafft, diesen Menschen eine neue Heimat zu geben, wer soll es dann schaffen?"
heute-journal: "Herr De Maizière, man hat den Eindruck aus "Wir schaffen das" ist inzwischen doch ein "Hilfe, wir sind überfordert" geworden." Thomas De Maizière: "Nein, wir schaffen das nicht ohne so Weiteres. Das ist schon eine große Anstrengung."
Angela Merkel: "Wir schaffen das, denn Deutschland ist ein starkes Land."
Wir schaffen das – seit einem Jahr ist dieser Satz in der Welt. Angela Merkel sprach ihn am 31. August 2015 zum ersten Mal. Die drei Worte haben mittlerweile einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Was die Kanzlerin damals noch nicht wusste: Am Ende des Jahres sollten es 1,1 Millionen Menschen sein, die in Deutschland Zuflucht suchten. Rund eine halbe Million Asylanträge wurden gestellt - so viele wie niemals zuvor.
Ein Jahr im Zeitraffer. Welche Fragen wurden aufgeworfen, welche sind beantwortet, welche bleiben? Und: Wer denkt über die tagespolitische Aktualität hinaus nach?
Angela Merkel: "Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger. Es stimmt: Es ist eine besonders herausfordernde Zeit, in der wir leben. Aber es stimmt auch: Wir schaffen das. Denn Deutschland ist ein starkes Land."
Zweifel an Merkels Aussage
Zunächst bestätigten die Medien dieses Bild von Deutschland und den Deutschen: September 2015: Am Münchener Hauptbahnhof halten die Menschen Willkommens-Plakate in die Luft. Sie klatschen, während Scharen von Flüchtlingen an ihnen vorbei ziehen. 7.000 Flüchtlinge kommen allein an diesem Tag in München an. Kein Problem für die Deutschen - so scheint es. Der Begriff der Willkommenskultur entsteht. Ein Bild - das sich in Umfragen allerdings so nicht wiederfindet: In einer von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage vom September 2015 befürchten 62 Prozent der Befragten: Der Zuzug von Flüchtlingen überfordere die deutsche Bevölkerung. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Umfrage der German Longitudinal Election Study, ebenfalls von September. 48 Prozent sagen hier, es mache ihnen Angst, dass so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Nur rund 33 Prozent geben an, dass Deutschland den Zustrom verkraftet. Überspitzt könnte man sagen: Nur ein Drittel der Deutschen glaubt noch an Merkels "Wir schaffen das".
Vor allem an der Anzahl der Flüchtlinge reiben sich Politiker, Bürger, Medien und Wissenschaft. Sollen alle Flüchtlinge, die wollen, nach Deutschland dürfen? Oder soll es eine Obergrenze geben? Auf den ersten Blick eine einfache Ja- oder Nein-Frage, auf den zweiten Blick ist sie hochkomplex. Zu komplex vielleicht für den politischen und medialen Alltagsbetrieb samt ihrer Erregungskurven? Die Erregungskurve steigt mit der Zahl der Flüchtlinge, aber sie sinkt nicht, wenn weniger Flüchtlinge kommen.
Am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen wird grundsätzlicher nachgedacht. Hier sucht der Politikwissenschaftler Volker Heins zusammen mit Kollegen der Universitäten Dortmund, Bochum und Duisburg-Essen nach einer Ethik der Migration. Ethik statt Erregung, Begründung statt Befindlichkeit. Dafür könnte jetzt, nach einem Jahr die Zeit reif sein, meinen die Forscher. Am Anfang der Ethik steht die Begriffsklärung: Wer ist Flüchtling, wer Migrant?
Volker Heins: "Flüchtlinge sind zunächst einmal Leute, die, um ihre elementaren Menschenrechte zu sichern, an dem Ort, an dem Sie sich befinden, nicht bleiben können, die gezwungen sind, sich zu bewegen. Und dann gibt es natürlich eine internationale Flüchtlingskonvention, das heißt, das ist ein Status der verliehen wird - Kriegsflüchtling insbesondere. Während Migranten normalerweise Personen sind oder Familien, die freiwillig aus unterschiedlichen Motiven ihren Lebensmittelpunkt in ein anderes Land verlagern."
Im Kern geht es um die Frage: Haben Staaten das Recht - im moralischen, nicht im juristischen Sinne - nach Gutdünken Einwanderungswillige abzuweisen? In der realen Welt passiert das: Staaten machen ihre Grenzen dicht!
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Tagesschau: "Es sind Tausende von Flüchtlingen, die auf der sogenannten Balkanroute unterwegs sind. Nachdem Ungarn seine Grenze zu Kroatien geschlossen hat, weichen sie nun über Slowenien aus, um weiter Richtung Norden zu gelangen."
heute-journal: "Wer es dieser Tage von der Türkei nach Griechenland schafft, muss nach dem Flüchtlingsabkommen mit Ankara damit rechnen, sofort zurückgeschickt zu werden."
Tagesschau: "Dänemark hat den Zugverkehr mit Deutschland angesichts der Flüchtlingskrise vorerst gestoppt. Damit verwehrt das Land hunderten Flüchtlingen die Durchreise, die in Schweden Asyl beantragen wollen."
Begründungsbedürftigkeit von Grenzen
Eine zweite Frage schließt sich an: Sind diese Grenz-Schließungen überhaupt moralisch vertretbar? In der philosophischen Debatte gibt es zwei Positionen. Die erste geht von einem globalen Recht auf Bewegungsfreiheit aus:
Volker Heins: "Wir alle halten es für selbstverständlich, dass wir uns zwischen Duisburg, Essen, Berlin, Stuttgart und neuerdings auch im ganzen Schengen-Raum frei bewegen können. Wir würden es zu Recht für eine Menschenrechtsverletzung halten, wenn uns gesagt würde: Sie kommen hier nicht raus aus Duisburg oder Essen. Und es gibt jetzt eine Position, die sagt: Eigentlich gibt es keine starken philosophischen Gründe, warum man dieses Recht auf Bewegungsfreiheit nicht als ein globales Recht für alle Individuen behaupten können müsse. Also eigentlich hat jeder Mensch das Recht, dahin zu gehen, wo er will.
Der kanadische Politikwissenschaftler Joseph Carens gilt als berühmter Vertreter dieses Ansatzes. Dieser Logik folgend, schlägt er die Aufhebung von staatlichen Grenzen vor. Auf die Flüchtlingskrise bezogen bedeutet das, es gibt keine moralisch-legitime Begrenzung der aufzunehmenden Flüchtlinge bzw. sogar der aufzunehmenden Menschen. Auch aus einer christlichen Perspektive ist nur schwer zu begründen, warum nicht alle Hilfesuchenden Menschen von einem Staat aufgenommen werden sollen. Grundlage dafür ist beispielsweise folgende Passage aus dem Matthäus-Evangelium.
"Denn ich war hungrig, und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich nicht aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir keine Kleidung gegeben. Amen, ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan" (Mt 25, 42- 46).
Aber auch für eine Begrenzung der aufzunehmenden Flüchtlinge lassen sich Argumente finden. Der Ansatz, dem Volker Heins und seine Kollegen folgen, geht zunächst von einem Staatsbild aus, das gleichzusetzen ist mit einer Vereinigung. Menschen tun sich zusammen, um gemeinsam Regeln des Zusammenlebens aufzustellen.
Volker Heins: "Und zu diesen Regeln gehören natürlich auch Regeln des Ausschlusses. Wenn Sie einen Verein gründen, legen Sie fest, unter welchen Bedingungen, wer diesem Verein beitreten kann. Auch das ist keineswegs eine völlig verrückte Position, von David Miller vertreten und vielen anderen. Dass es politische Gemeinschaften gibt, die sich gegründet haben, die sich Verfassungen gegeben haben, die man deuten kann im Lichte eines Gesellschaftsvertrages. Wo sich eben Bürgerinnen und Bürger zusammengetan haben, um ein bestimmtes Gemeinwesen zu gründen, aufzubauen und zu pflegen. Daraus ergeben sich, so scheint es, legitime Rechte zu bestimmen, wer da eigentlich dem Verein beitreten kann von außen. Und auch wie die Regeln sind intern."
Michael Walzer: "Grenzen essentiell für einen funktionierenden Staat"
Wichtig hierbei ist: Der Staat muss für seine Bürger funktionsfähig bleiben. Die geltenden Regeln müssen bestehen bleiben. Das geht nur mit funktionierenden Grenzen, argumentiert der US-amerikanische Philosoph Michael Walzer. Denn würde man die Mauern des Staates niederreißen, würde man nicht eine Welt ohne Mauern schaffen, sondern vielmehr tausend kleine Festungen errichten. Beispiele dafür wären Slums, Ghettos und Parallelgesellschaften. Dazu kommt eine Überforderung des Staates. Im schlimmsten Fall ein Kollaps.
Auf der einen Seite stehen also offene Grenzen, ein Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit und in der aktuellen Flüchtlingssituation Hilfe für alle. Auf der anderen Seite geht es um einen starken Staat mit klaren Regeln, der nur in begrenztem Maße helfen kann und soll. Diese Ansätze lassen sich auch in der politischen und medialen Debatte wiederfinden.
Die politische Debatte ist zunächst geprägt von einer Binnensicht: Wie kann Deutschland den Flüchtlingsstrom alleine bewältigen?
Auch die moral-philosophische Debatte folgt in weiten Teilen der Betrachtung einzelner Staaten. Matthias Hoesch vom Philosophischen Seminar der Universität Münster denkt anders. Er hat einen philosophischen Wettbewerb gewonnen. "Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?", lautete die Frage der Gesellschaft für analytische Philosophie.
Matthias Hoesch: "Wie viele Flüchtlinge wir aufnehmen müssen, hängt in meinem Modell sehr stark davon ab, wie viele Flüchtlinge unsere Nachbarstaaten aufgenommen haben, aus denen die Flüchtlinge zu uns kommen. Deutschland ist ja nicht am Rande eines Bürgerkriegslandes gelegen, sondern inmitten Europas. Und die Frage, ob wir weitere Flüchtlinge aufnehmen müssen, die an unserer Grenzen stehen, oder ob wir irgendwann sagen können, jetzt machen wir die Grenzen dicht, hängt wesentlich davon ab, ob die europäischen Länder, aus denen die Flüchtlinge zu uns kommen, eben ihrerseits ihre moralischen Pflichten erfüllt haben."
Demnach dürfen Staaten genau dann ihre Grenzen dicht machen, wenn ein Nachbarstaat sein Soll nicht stärker erfüllt hat, als man selbst. Beispiel Schweden: Anfang 2016 führte Schweden wieder Grenzkontrollen ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Land im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl weit mehr Flüchtlinge aufgenommen als die Nachbarn Dänemark, Norwegen oder Finnland. Eine Entscheidung, die nach Hoeschs Argumentation moralisch legitim ist.
Offene Grenzen, starker Staat oder eine an den Nachbarstaaten ausgerichtete Grenzpolitik: Wie kann man die Position von Kanzlerin Angela Merkel vor diesem Hintergrund interpretieren?
Eigentlich regelt das sogenannte Dublin-3-Abkommen EU-weit, dass ein Asylverfahren in dem Land aufgenommen wird, in dem der Asylbewerber zum ersten Mal die Europäische Union betreten hat. Da die meisten Flüchtlinge die EU an ihren Außengrenzen erreichen, sind vor allem diese Staaten zuständig, also etwa Griechenland, Italien oder Spanien.
Der tatsächliche Ansturm hat diese Regelung aber über Bord geworfen: Alle Flüchtlinge vor den deutschen Grenzen zurück in ihre Ankunftsländer zu schicken, war schlichtweg nicht möglich. Damit kann Angela Merkels "Wir schaffen das" zuerst als Reaktion auf de-facto offene Grenzen verstanden werden. Mittlerweile wandert ihr Blick aber auch zu den Nachbarn. "Wir schaffen das" sagt sie nur noch mit Einschränkungen.
Merkel: "Mir ist sehr wichtig, dass wir eine spürbare Reduzierung der Flüchtlinge bekommen, indem wir bei den Fluchtursachen ansetzen, indem wir aber auch bei nationalen Maßnahmen ansetzen wie bei besseren Rückführungen für abgelehnte Asylbewerber."
Suche nach Klassifizierung
Der Ausweg aus der Debatte ist für Angela Merkel also ein Kompromiss: Jedem Bürgerkriegs- und politischen Flüchtling muss geholfen werden. Migranten dagegen, die etwa aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland wollen, dürfen nicht bleiben. So einfach sich diese Klassifizierungen erst einmal aufzählen lassen - in der Realität gibt es Grauzonen. Bereiche, in denen ein Mensch nicht eindeutig als Flüchtling oder als Migrant zu definieren ist.
Die Wissenschaftler rund um das Projekt Ethik der Immigration, so wie Volker Heins, arbeiten genau an einer solchen Klassifizierung. Sie können vielleicht einmal bei der praktischen Entscheidung helfen, wer darf hier bleiben und wer nicht. Einigkeit herrscht in der philosophischen Debatte darüber, welche Rolle rassistische oder diskriminierende Motive dabei spielen dürfen. In der Realität spielen sie bereits eine Rolle: etwa in Ungarn, wo Ministerpräsident Orban vor allem muslimische Flüchtlinge ablehnt.
Volker Heins: "In der philosophischen Diskussion gibt es niemanden, der zum Beispiel eine Position, wie sie Ungarn oder andere Länder vertreten, für gerechtfertigt hält. Diese Position wird nirgendwo vertreten, dass Staaten ein absolutes Recht haben, Menschen nach Gutdünken abzuweisen. Das ist so, wie wenn man im Café sagt: Sie kommen hier nicht rein, weil Sie schwarz sind."
Aber welche Rolle spielt dabei die Angst vor Fremden? Dass Ängste als Begleiterscheinungen des aktuellen Flüchtlingsstroms auftreten, ist erst einmal nichts Ungewöhnliches, sagt Professor Volker Heins:
"Das ist immer so. Das ist auch in den klassischen Einwanderungsgesellschaften so gewesen, wenn Sie sehen, wie Italiener oder Iren lange Zeit in den USA betrachtet wurden. Und die Vorurteile, die es da gab. Das ist erstmal das, was immer passiert. Es gibt dann eben Prozesse der wechselseitigen Angleichung. Früher hat man das als Assimilation beschrieben: Die Fremden passen sich an uns an. Heute geht man eher von einem wechselseitigen Prozess aus. Alles verändert sich dadurch. Und genau davor haben die Menschen ja auch Angst."
Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur - ein Instrument, dass sich Populisten zunutze machen. Etwa Björn Höcke, der Vorsitzende der AfD in Thüringen, hier bei Demonstrationen in Erfurt:
Björn Höcke: "Erfurt, liebe Freunde, Erfurt ist nicht spießig. Erfurt ist schön. Erfurt ist schön deutsch und schön deutsch soll Erfurt bleiben! Vergessen wir nie: Der Syrer, der zu uns kommt, der hat noch sein Syrien. Der Afghane, der zu uns kommt, der hat noch sein Afghanistan. Und der Senegalese, der zu uns kommt, der hat noch seinen Senegal. Wenn wir unser Deutschland verloren haben, dann haben wir keine Heimat mehr."
Fremdenfeindlichkeit aus Sicht der Verantwortungsethik
Ist Angst vor Fremden als Argument in der ethischen Debatte legitim?
Der Philosoph Konrad Ott betrachtet diesen Aspekt in seinem Essay "Zuwanderung und Moral" aus der Perspektive der Verantwortungsethik, also einer Ethik, die sich auf die Folgen des Handelns konzentriert. Für Verantwortungsethiker neigen Menschen allgemein zur Fremdenfeindlichkeit. Sie ähnele einem Schwelbrand, wie man ihn von Kohleflözen und Torffeuern kenne, der kaum jemals endgültig zu löschen sei und oberirdisch immer wieder aufflammen könne.
Moralisch sei Fremdenfeindlichkeit aus Sicht der Verantwortungsethik trotzdem nicht zu billigen. So sieht es auch Politikwissenschaftler Volker Heins. Für ihn ist derjenige, der mit Angst vor Fremden Politik macht, ein Rassist. Man müsse allerdings differenzieren, wann sich diese Ängste auf Erfahrungen stützen. Zum Beispiel die junge Frau, die sich vor arabischen jungen Männern rund um den Kölner Hauptbahnhof fürchtet. Nach Heins haben Politik und Medien die Aufgabe, Ängste auf ihren realen Kern zu überprüfen und gegebenenfalls die Menschen, die Angst haben, zu schützen. Dabei sind aber nicht alle für eine solche Überprüfung zugänglich:
"Wir haben es natürlich teilweise zu tun mit einer vorrationalen Weltanschauung, die kategorisch sagt: Muslime sind rückwärtsgewandt und gewalttätig - zum Beispiel. Und wenn man Leuten, die so denken, Beispiele nennt von anderen Muslimen, die hier leben, die hier arbeiten, Steuern zahlen. Dann sagen sie: Naja, das sind halt Ausnahmen. In der Masse der Bevölkerung glaub ich sehr wohl, dass es moralische Intuitionen gibt, die eben nicht rassistisch sind, und das Leute auch Argumenten zugänglich sind."
Die moral-philosophische Debatte macht klar: Eine einfache Formel, welches Land, wie viele Flüchtlinge aufnehmen soll, gibt es nicht. Alle Flüchtlinge aufzunehmen, womöglich sogar alle Migranten aufzunehmen, würde letztlich zu einem Staat ohne Grenzen, radikal zu Ende gedacht, sogar zur Auflösung von Nationalstaaten führen. Damit wäre womöglich aber auch der Schutz der Schutzbedürftigen nicht mehr garantiert. Obergrenzen dagegen wirken willkürlich.
Das macht deutlich: Die moral-philosophische Debatte schafft es bisher nicht, eine klare Antwort auf die Frage "Obergrenze oder nicht?" zu geben. Wird sie damit etwa umsonst geführt? Keineswegs! Rechte mögen die Flüchtlingskrise für Diskriminierung und Fremdenhass ausnutzen. Linke mögen damit den Weg in den Kommunismus nach der marxistischen Lesart begründen: hin zu einer Gesellschaft ohne Grenzen, ohne Klassen.
Die moral-philosophische Debatte aber macht klar: Wer Obergrenzen fordert, ist nicht gleich ein Rassist. Wer offene Grenzen fordert, nicht gleich linksextrem. Die Philosophie setzt bei der Flüchtlingskrise den Positionen an den politischen Rändern das Argument entgegen. Genau dieser Befund ist das Verdienst der Debatte über eine Ethik der Migration. Sie ist es, die die Diskussion über die Aufnahme von Flüchtlingen überhaupt erst weiter möglich macht.