"Für uns ist die Zeit jetzt furchtbar und perspektivlos. Zum einen weil wir ganz massiv durch die Coronakrise betroffen sind, unsere Schweine können nicht mehr so geschlachtet werden, wie das normalerweise so ist."
Denn einige Schlachthöfe sind coronabedingt geschlossen; die Schlachtkapazitäten haben sich um rund ein Viertel reduziert. In der Ferkelaufzucht und in der Mast stauen sich die Tiere – bundesweit nach Angaben von Landwirten rund 400.000 Schweine. Für den Lührs-Hof heißt das: die Tiere stehen enger zusammen, das kann zu Problemen beim Tierschutz führen. Und – paradox – je fetter die Tiere, desto weniger bekomme man für das Schweinefleisch, sagt Christine Lührs.
Außerdem ist der Preis in den Keller gegangen: Mit einem Kilopreis von 1,60 könne man wirtschaftlich überleben, jetzt liege der Preis unter 1,30. Und dann fühlt sich die Landwirtin, die sich als Kirchenparlame
ntarierin in der hannoverschen Landeskirche engagiert, mit ihren Sorgen allein gelassen.
Die Nöte der Landwirte
"Unsere Gesellschaft besteht noch nicht mal mehr aus einem Prozent Landwirtschaft; der Rest der Bevölkerung arbeitet in völlig anderen Berufen - und das merken wir, weil es keinen Bezug mehr zu unserer heutigen Landwirtschaft in der Gesellschaft gibt."
Neue Auflagen beispielsweise gegen das Artensterben würden zu mehr Kosten führen:
"Wenn die Anforderung der Gesellschaft ist, dass wir doch bitte Blühstreifen auf den Feldern säen und pflegen, dann müssen wir sagen, das tun wir gern, aber ihr müsst uns dafür bezahlen, wir können das nicht umsonst machen."
Ricarda Rabe weiß um die Nöte der Landwirte. Die Pastorin ist in der hannoverschen Landeskirche zuständig für den "Kirchlichen Dienst auf dem Lande".
"Die Nerven liegen so blank bei vielen in der Landwirtschaft, weil eben diese Kombination von: Wir wissen nicht, ob wir genug Geld verdienen, mit dem was wir tun; wir kriegen Druck von Seiten der Abnehmer, Preisdruck, wir kriegen Druck von Seiten der Politik, die gefühlt alle Naselang die Richtlinien ändert, wir kriegen Druck von der Gesellschaft, und aus den Dörfern. Deshalb sind die Empfindlichkeiten so hoch."
Industrielle Schattenseiten
Ricarda Rabe hat als "Bauern-Pastorin" die Interessen der Landwirte im Blick; aber sie sagt auch:
"Dieses enggetaktete System kommt jetzt an seine Grenze, zeigt, dass da was in eine nicht so gute Richtung läuft. Ich glaube tatsächlich, diese Industrialisierung – so große Vorteile sie auch hat, die hat auch ihre Schattenseiten, die wird jetzt sichtbar."
Zu diesen Schattenseiten gehört auch und gerade die Fleischverarbeitung in Großunternehmen – vorzugsweise durch Arbeitsmigranten aus Rumänien, Bulgarien und Polen. Peter Kossen, katholischer Priester aus dem Münsterland, engagiert sich seit Jahren für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen dieser osteuropäischen Arbeiter. Er spricht von "Sklaverei" in der Fleischindustrie:
"Leute kommen hierher, natürlich freiwillig; dann ist die erste Erfahrung schon, dass das, was versprochen wurde, nicht eingehalten wurde, dass Wohnungen überbelegt sind, viele teurer sind, dass Entlohnung eben nicht so stattfindet, wie in Aussicht gestellt. Wenn Menschen dann mal hier sind, werden ihnen mehrere Rechnungen aufgemacht für den Transport hierher, für die Beschaffung der Arbeitsstelle. Manchmal tut sich da ein imaginärer Schuldenberg auf, der abgearbeitet werden muss. Die Deutungshoheit, wann denn Schulden bezahlt sind, liegt dann beim Arbeitgeber. So werden manchmal Menschen über Jahre hingehalten."
Parallelgesellschaft im Graubereich
Peter Kossen wundert sich immer wieder, dass solche menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen mitten im Deutschland des 21. Jahrhunderts hingenommen werden:
"Da gibt es Hunderttausende Menschen, die in unserer sozialen Marktwirtschaft unter Verhältnissen leben, die eigentlich nicht mehr möglich sein sollten in unserem Rechtssystem."
Peter Kossen ist in seiner katholischen Kirche eher ein Einzelkämpfer.
"Wir sind als Kirche immer sehr versucht, sehr bürgerlich zu sein, und diese Menschen ganz aus dem Blick zu verlieren."
Der Priester aus Lengerich, der innerlich so aufgewühlt ist und äußerlich so ruhig wirkt, wünscht sich ein deutliches Signal der Bischöfe:
"Ich glaube, das wäre ein gewaltiger Aufschlag, wenn die katholischen und evangelischen Bischöfe ein klares Sozialwort sprechen würden und nicht so ausgewogen wie das letzte, was im Grund keinen interessiert. Wenn wir nicht den Mut haben, auch anstößig zu sein, dann werden wir auch nichts anstoßen. Und da wünsche ich mir von den Bischöfen den Mut, anstößig zu sein."
Die Bundesregierung will nun das System der Werksvertragsarbeit mit den zahlreichen Subunternehmern in der Fleischindustrie unterbinden. Die osteuropäischen Arbeiter sollen künftig direkt bei Fleischunternehmen wie Tönnies angestellt werden. Für Peter Kossen zumindest ein Hoffnungsschimmer:
"Die Chance besteht. Ich bin in den letzten Jahren auch skeptischer geworden, was einen entscheidenden Wandel betrifft. Nur wenn die Gesellschaft das einfordert, dass Arbeitsmigranten auch wirklich wertgeschätzt und integriert werden, nur dann besteht die Chance, dass sich grundlegend etwas ändert. Das Gesetz ist wichtig, aber es kann nur ein Anfang sein. Ich bin da wirklich mittlerweile einigermaßen skeptisch, was diese Neuaufbrüche betrifft."
Mentalitätswandel gefordert
Kossen fordert einen gesellschaftlichen Mentalitätswandel – eine Wertschätzung dafür, dass die Erzeugung von Fleisch seinen Preis hat:
"Die Leute geben für den Grill schon mal 2000 Euro aus, aber die Wurst darf nur 89 Cent kosten, die auf diesem Grill gegrillt wird."
Eine Wurst für 89 Cent bekommt man bei Jens van Bebber nicht. Der Landwirt aus der Grafschaft Bentheim versucht mit seinem Offen-Stall-Konzept, Wirtschaftlichkeit, Tierwohl und Umweltschutz zu verbinden.
Vor sechs Jahr ist er von der konventionellen Schweinehaltung zum offenen Stall umgestiegen - mit einer anderen Rasse und mehr Platz für die Tiere. Er weist auf eine Stallung mit 18 Tieren. Die Schweine haben hier einen Liegebereich, einen Futterbereich und einen Platz zum Koten.
"Das ist jetzt sozusagen Aktivitätsverhalten, das ist so eine Spielphase, die sie zu dieser Tageszeit haben. Weil die eben auch Platz haben, können die auch frei hin- und herrennen. Die können auf 12 Meter Länge nach hinten und vorne rennen, deshalb auch diesen freudigen Grunzgeräusche."
"Das Hauptargument für mich und meine Frau war, dass wir in der konventionellen Schweinehaltung es nicht mehr für möglich gesehen haben, unserer Verantwortung den Tieren gegenüber gerecht zu werden, weil wir nicht mehr die Möglichkeit gesehen haben, die eigenen Ansprüche des Tieres umsetzen zu können."
Tier als Leitfaden
Die aktuelle Krise in der Fleischindustrie und in der Schweinehaltung scheint ihm recht zu geben:
"Es gibt die Systemfrage: Möchte man in einem System Tiere halten, das nach der Ökonomie ausgerichtet ist; nach einem ökonomisch berechneten Schweineplatz wirtschaften zu können, ohne die tatsächlichen Ansprüche des Tieres in den Vordergrund zu stellen, oder ich gehe einen anderen Weg und sage: das Tier mit seinen Ansprüchen ist mein Leitfaden. Das steht im Zentrum meiner Betrachtung und alles andere, was sich daraus ergibt, muss sich danach ausrichten."
Doch eine solche Ausrichtung hat seinen Preis. Jens van Bebber ist Teil einer Vermarktungskette, die mit der gehobenen Gastronomie zusammenarbeitet. Sein Fleisch ist zwei- bis dreimal so teuer wie das aus der konventionellen Massentierhaltung. Ohne weitere gesetzliche Vorgaben für das Tierwohl in den Ställen bleibt das Offen-Stall-Konzept noch eher ein Nischenprodukt.
Auf dem Hof von Christine Lührs setzt man weiter auf die konventionelle Schweinehaltung. Eine Tierhaltung, die auch in ihrer Kirche oft kritisiert werde, sagt die Protestantin Christine Lührs. Auf der Synode, also im Kirchenparlament der hannoverschen Landeskirche, werde sie als Landwirtin manchmal angefeindet. Und auch im Gottesdienst – gerade an Erntedank – fühle sie sich oft fehl am Platz:
"Wo viele Landwirte häufig enttäuscht sind, wenn sie Erntedank in die Kirche gehen und der Pastor erzählt was von Naturschutz und eigentlich nur davon, wie schlecht es die Landwirtschaft heute macht, und die Schuld ist an der Verunreinigung des Wassers und der Böden. Ich bin irgendwann mal mit meinem Mann zum Erntedankgottesdienst gegangen und dann kam genau das, und er geht nicht wieder mit. Das ist doch kein Erntedank. Wir danken, wenn wir nach drei Wochen unsere schönen Ferkel von der Sau absetzen und es sind schöne kräftige Ferkel. Dann danken wir."
Der Graben zwischen der konventionellen Landwirtschaft und den Kirchen ist tiefer geworden. Das sagt auch Pastorin Ricarda Rabe, die hannoversche Referentin für die Kirche auf dem Lande. Rabe, die selbst auf einem Bauernhof groß geworden ist, hat eigentlich viel Verständnis für die Landwirte, aber:
"Viele Landwirte haben auch den Bezug zur Kirche verloren: Sie glauben, dass sie selber alles können und brauchen den Schöpfer nicht mehr. Wir singen ja immer zu Erntedank: Wir pflügen und wir streuen den Samen auf das Land, doch Wachstum und Gedeihen stehen in des Himmels Hand. Und diesen zweiten Teil, den hat mancher vergessen."