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Ethnologische Forschung
Probleme und Hoffnungen in der modernen Stadt

Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Migration: in vielen Städten bündeln sich die Probleme - und dennoch zieht es weltweit die Menschen dorthin. Denn Städte gelten auch als Orte der Hoffnung. Nun wird nun der Zusammenhang zwischen urbanem und prekärem Leben untersucht.

Von Dagmar Röhrlich | 18.04.2019
Graffiti an einer Hauswand: "Mieterhöhung, Modernisierung - was tun? 1. Nichts unterschreiben, 2. Mit Nachbarinnen reden, 3. Mieterberatung aufsuchen"
In vielen Städten sind Wohnungsnot und steigende Mietpreise große Probleme - wie hier in Berlin-Neukölln (imago/stock&people/IPON)
Smog, Staub, Dreck und viel Armut: Knapp 20 Millionen Einwohner leben in Kairo, viele davon in Slums - und jedes Jahr ziehen mehr Menschen vom Land in die Megacity.
"Städte sind Orte der Hoffnung, weil sie Orte der sozialen Freiheit sind, Orte, in denen der Traum von der Selbstverwirklichung wahr werden kann."
Dr. Brian Campbell vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle. Doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheint die Hoffnung auf ein besseres Leben in den Städten trügerischer denn je:
"Egal wo, überall auf der Welt haben die Menschen Probleme, über die Runden zu kommen, bleiben zu können, wo sie sind. Ihre Arbeitsplätze scheinen immer unsicherer zu werden, langfristige Pläne zu machen immer schwieriger, ebenso die Erwartungen für das eigene Leben zu erfüllen. Das alles schafft neue Probleme. Ganze Gesellschaften scheinen sich nicht weiter zu entwickeln, was zu Gefühlen der Verletzlichkeit, von Verlust, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit führt."
Das betrifft Menschen in Europa ebenso wie in Amerika, in Asien ebenso wie in Afrika. Überall nimmt ein Teil der Bevölkerung das Leben als zunehmend prekär wahr: als wirtschaftlich und sozial unsicher, vom Abstieg bedroht - als machtlos und ausgeliefert.
Die Städte seien so etwas wie Fenster auf die Entwicklungen, die derzeit abliefen - und die das urbane Leben prägen, unterstreicht Dr. Christian Laheij vom Max-Plack-Institut für ethnologische Forschung in Halle:
"Uns interessiert, ob dieses Gefühl, am Rand zu stehen, aufgrund von Faktoren, die das städtische Leben kennzeichnen, besondere Formen annimmt: aufgrund von Faktoren wie Bevölkerungsdichte, Anonymität, dem Leben unter Fremden, dem engen Nebeneinander von arm und reich. Derzeit ist jedoch die Frage, ob das Prekariat in den Städten durch die Globalisierung und dadurch, wie Digitalisierung und Internet die Wirtschaft verändert, neue Formen annimmt? Können solche Entwicklungen das Gefühl einer prekären Lebenssituation verstärken?"
Mehr als die Hälfte aller Menschen lebt in Städten
Prekariat, so erläutert Brian Campbell, trete heute rund um die Welt in unterschiedlichen Formen auf.
"Prekariat geht weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus. Es geht um mehr als um Arbeit und ein regelmäßiges Einkommen, sondern beispielsweise auch um den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Auch die Umwelt spielt eine Rolle, wenn Menschen in belasteten Gebieten leben oder verschmutztes Wasser trinken müssen. Es gibt auch eine rechtliche oder politische Prekarität, wenn Menschen keine Staatsbürgerschaft besitzen und vor Gericht nicht für ihr Recht und ihr Menschenrecht kämpfen können. Dieses Phänomen ist weltweit sehr verbreitet. Es gibt auch eine Form des religiösen Prekariats, wenn Menschen nicht in der Lage sind, ihren religiösen Verpflichtungen nachzukommen, was für Gläubige im Nachleben schlimme Folgen haben könnte."
Armenviertel mit Wellblechhütten am Stadtrand von Addis Abeba, Hauptstadt Äthiopiens
Armenviertel mit Wellblechhütten am Stadtrand von Addis Abeba, Hauptstadt Äthiopiens (imago/imagebroker)
Trotzdem leben seit 2007 mehr Menschen in den Städten als auf dem Land: Derzeit sind es rund 55 Prozent der 7,62 Milliarden Menschen auf der Erde, 2050 sollen es, einer UN-Schätzung zufolge - fast 70 Prozent sein. Viele Faktoren befeuern die Wanderungsbewegungen in die Städte, erklärt Brian Campbell.
Beispiel Afrika: "Meine Kollegen, die in Afrika arbeiten, reden ständig von Landnahmen, wenn Investoren oder Konzerne landwirtschaftlich genutzte Flächen kaufen, ohne dass die Bauern in den Dörfern etwas davon erfahren. Plötzlich können sie nicht mehr arbeiten, müssen fort. Oder der Klimawandel: Er kann im ländlichen Raum ganze Gebiete für die Landwirtschaft unbrauchbar machen. Was sollen die Menschen dann anderes machen als in die Städte zu ziehen? "
In den Städten bündeln sich die Probleme: Migration, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, explodierende Mietpreise, Kriminalität, Armut. Auch in Deutschland ist die Armutsquote - einer aktuellen Studie zufolge - in Großstädten höher als auf dem Land. Lag 2016 der Anteil der Sozialleistungsempfänger bundesweit bei 10,1 Prozent der Bevölkerung, sind es in Städten mit über 100.000 Einwohnern 14,0 Prozent.
Gefühl der Ohnmacht
Und auch in Deutschland gibt es Proteste in den Städten. Sie entzünden sich vor allem an hohen Mieten und der Gentrifizierung. In Berlin begann ein Volksbegehren zur Enteignung großer Wohnungskonzerne. Die Städter wehren sich gegen die prekäre Lage auf einem Wohnungsmarkt, auf dem Hunderttausende von Wohnungen fehlen. Die Menschen fühlen sich ohnmächtig: auch durch die Globalisierung, den Einfluss der Finanzmärkte auf die Realökonomie und die Veränderungen in internetgetriebenen Märkten, meint Professor Ida Susser vom City College New York:
"Uns ist die Macht verloren gegangen, die wir durch die Gewerkschaften und die alten Arbeiterparteien einmal im Wohlfahrtsstaat hatten. Die Arbeiterschaft hat durch die neuen Informationstechnologien auf vielen unterschiedlichen Wegen ihren Einfluss verloren, durch Firmen wie beispielsweise airbnb, Uber, Lyft und andere Apps."
Internetbasierte, global operierende Firmen wie Amazon oder auch die IT-Unternehmen seien nicht mehr auf nationaler oder gar lokaler Ebene integriert. Die Folge:
"Während der vergangenen 150 Jahre haben die Menschen auf nationaler Ebene dafür gesorgt, dass Wohlstand auch umverteilt wird, sie haben sich einen Wohlfahrtsstaat erkämpft. Globalisierte Unternehmen haben sich von diesen nationalen Fesseln befreit. Den Menschen ist es noch nicht gelungen, für diese weltweit operierenden Unternehmen demokratische Interventionsmöglichkeiten zu entwickeln. Die können deshalb viele Regulierungen umgehen."
Mit ihren Protesten versuchten die Menschen die Entwicklungen wieder einzufangen, neue Formen der Demokratie zu entwicklen.
Christian Laheij: "Kapital, das nicht mehr wirklich an nationale Grenzen gebunden ist, das einfach in eine Stadt investiert, aber auch wieder abgezogen werden kann, wenn es in einer anderen mehr Profit gibt, das verstärkt die Unsicherheit des urbanen Lebens. Diese Entwicklungen gleichen sich interessanterweise rund um die Welt, ob es nun Kinshasa betrifft, Atlanta oder Barcelona. Das gilt auch für die Auswirkungen des Tourismus auf die Städte oder die Folgen der De-Industrialisierung, wenn Unternehmen aus den Städten ziehen."
Verlust der Sicherheit für Europäer ein Schock
Allerdings, so erklärt Christian Laheij, würden diese Entwicklungen von der Bevölkerung sehr unterschiedlich wahrgenommen. Im globalen Süden sei es eher der normale Gang der Dinge, dass es den Kindern nicht unbedingt besser gehe als der eigenen Generation. Und so reagierten sie anders, nicht mit dergleichen Wut, sondern sie versuchten, jede Chance zu ergreifen, die sich ihnen biete, so Christian Laheij. In Europa allerdings bedeutet diese Erfahrung der Unsicherheit nach vielen Jahrzehnten des Sozialstaats etwas Neues, Unerwartetes - einen Schock:
"Sie erleben ein großes Gefühl des Verlusts und dass das nicht so sein sollte. Man sollte nicht ängstlich und unsicher in die Zukunft sehen. Zumindestens in Europa sind wir mit dem Gedanken aufgewachsen, dass dieser Wohlfahrtsstaat für uns sorgen und dass das Leben immer besser werden wird. Das wird jetzt in Frage gestellt, und darauf reagieren die Menschen sehr wütend."
Anhänger der Gelbwesten-Bewegung stehen bei den Protesten in Toulouse in einem Nebel aus Tränengas.
Anhänger der Gelbwesten-Bewegung protestieren in Toulouse (AFP/Pascal Pavani)
Zum Beispiel in Paris, wo Ida Susser Protestbewegungen untersucht.
"Ich habe in Paris die protestierenden Bahnarbeiter befragt, die Studenten von "Nuit debout", die sich vor allem gegen die Liberalisierung des Arbeitsrechts richteten, dann kamen die Gelbwesten, eine ganz andere Gruppe aus Rentnern und Menschen vom Land."
Mit den Gelbwesten lag der Ursprung einer Protestbewegungen nicht mehr in der Stadt, sondern auf dem Land: Die Menschen wehrten sich gegen die geplante Erhöhung der Treibstoffabgaben, forderten mehr direkte Demokratie. Ida Susser:
"Die Protestierenden fühlen sich zum Schweigen gebracht, ausgelöscht, ungehört. Darüber sind sie wütend - und diese Wut spiegelt sich in den zerbrochenen Fenstern wider. Die Bevölkerung fühlt sich enteignet, die Menschen haben das Gefühl, verloren zu haben. Immer mehr Entscheidungen fallen nicht auf Ebene des Nationalstaates, sondern auf globaler oder EU-Ebene. Die Menschen vor Ort haben noch kein Instrument, um darauf demokratisch Einfluss zu nehmen, fühlen sich entmachtet."
Ob Stadt oder Land - die Gefühle, die hinter den Protesten stehen, scheinen sich zu gleichen. Christian Laheij:
"Dieses Gefühl ist unserer Meinung nach ein wichtiges Merkmal dieser Zeit - vor allem in den Städten."