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EU-Beitritt der Türkei

Gerner: Die Türkei ist politisch-geographisch die Brücke zwischen Europa und dem Orient. Ganz geheuer ist das nicht allen. Jene Politiker, die die Werte des christlichen Abendlandes in der Türkei nicht zweifelsfrei aufgehoben sehen, tun sich schwer mit einem EU-Beitritt Ankaras. Den wiederum will eine Partei so bald als möglich, eine Partei, die sich neu etablieren will, Neue Türkei. Gebildet hat sie Ismael Cem, der ehemalige Außenminister, und der buhlt jetzt als Parteigründer eifrig um einen Türken, der seine Heimat längst in Deutschland hat, den Unternehmer Vural Öger, Chef von Öger-Tours, dem größten Anbieter von Türkeireisen in Deutschland. Vural Öger ist jetzt am Telefon. Herr Öger, es gibt Meldungen, wonach sie der neuen Partei von Ismael Cem beigetreten seien. Sie seien sogar für ein Regierungsamt im Gespräch, immer vorausgesetzt, dass die Cem-Partei nach den vorgezogenen Neuwahlen, die ja jetzt feststehen, erfolgreich sein wird. Warum drängt es Sie in die Politik?

    Öger: Es ist teilweise richtig. Der Generalsekretär dieser neuen Partei ist ein persönlicher Freund, ein sehr guter Freund von mir. Sie haben bei der Einführung richtig gesagt, dass die Türkei sich an einem Scheideweg befindet, und das ist auch meine Meinung. Bei den nächsten Wahlen wird sich die Zukunft dieses Landes entscheiden. Da ich die Verhältnisse in Deutschland sehr gut kenne, habe ich auch über dieses Thema mit Ismael Cem beraten. Wir haben ein langes zweistündiges Gespräch geführt. Es wurde von der Presse hier sehr heftig aufgenommen. Es waren über 50 Journalisten, die vor der Tür warteten. Am nächsten Tag haben sie etwas ungeduldig gesagt, ich sei der Partei beigetreten und würde in die türkische Politik reingehen. Offen gesagt, ich denke nicht, dass ich einfach in die Politik in Ankara reingehen werde, aber ich werde diese Partei mit all meinen Kräften auf dem Weg nach Europa unterstützen. Ich kann mir vorstellen, dass ich vielleicht einen Sonderposten der Regierung für EU-Fragen oder Deutschland-Fragen bekomme.

    Gerner: Sind Sie ungeduldig, dass die Bemühungen der Türkei, der EU beizutreten, nicht so richtig vorankommen?

    Öger: Ja, ich bin ungeduldig. In der Türkei wird sehr viel debattiert, und so manche Politiker in Ankara wissen nicht, worum es geht. Die Türkei muss zunächst die Kopenhagener Kriterien erfüllen, das heißt die Rechte für die Minderheiten, der Demokratisierungsprozess, die Einhaltung der Menschenrechte. Das ist die politische und demokratische Europäisierung der Türkei und die notwendigen Kriterien, die in dem Vertrag von Kopenhagen festgelegt worden sind, die übrigens auch als Bedingungen für jedes EU-Mitglied gelten. Und die Türkei stellt teilweise gewisse Bedingungen nach eigenen Vorstellung her, was natürlich nicht geht. Da sage ich ganz offen: Das Haus, in das die Türkei will, hat bestimmte Regeln, und die Türkei muss zunächst diese Regeln erfüllen. Teilweise denken Leute in Ankara noch in Mustern, die im Kalten Krieg vorhanden waren. Man muss begreifen, dass sich die Welt seit 1989 verändert hat, dass sich Europa verändert hat. Was Europa ausmacht, ist ein Zivilisationsprojekt, nicht ein Projekt, um so schnell wie möglich reich zu werden, wie manche Türken denken.

    Gerner: Was passiert, wenn die EU der Türkei Ende des Jahres keine konkrete Beitrittsperspektive gibt? Driftet das Land dann möglicherweise in einen Islamismus ab?

    Öger: Die Gefahr ist wirklich gegeben. Das ist auch einer der Hauptgründe für mein Engagement hier, denn es ist durchaus möglich, dass eine Islamisten-Partei mit bis zu 20 Prozent der Stimmen sogar den Ministerpräsidenten stellen kann. Also Europa sollte hier wirklich sehr vorsichtig sein. Eine brüske Ablehnung wie vor vier Jahren in Helsinki könnte in der Türkei Kräfte freisetzen und die progressiven, pro-europäischen Kräfte zurückschlagen. Also Europa muss der Türkei eine Beitrittsperspektive gewähren. Ohne die Türkei kann Europa nie eine politische Macht werden; es wird immer eine Wirtschaftsmacht bleiben, aber politisch wird es ein Zwerg bleiben.

    Gerner: Wenn deutsche Politiker sagen, die Türkei sei nicht reif für die EU unter anderem, weil ihr der gemeinsame Fundus christlicher Werte fehlt, macht das die türkischen Bürger wütend, oder motiviert es sie?

    Öger: Das macht sie wütend, weil Europa sich nicht über die Religion definieren darf, sondern über die Werte, über die Verfassung, über die Werte, die wir durch Humanismus und Aufklärung erreicht haben. Das müssen nicht unbedingt christliche Werte sein. Es kommt noch dazu, dass in Europa über neun Millionen Muslime leben. Probleme mit dem Mutterland der Türken könnten auch Probleme für das harmonische Zusammenleben der Türken in Deutschland mit sich bringen. Also durch eine Europäisierung der Türkei könnte sogar der Migrationsdruck nach Europa, nach Deutschland nachlassen. In jeder Hinsicht wäre die Türkei ein Gewinn, und ich muss sagen: Man muss nicht unbedingt ein Christ sein, um die Werte des Humanismus und der Demokratie zu praktizieren.

    Gerner: Sie haben ja den deutschen Pass. Wenn Sie jetzt in der türkischen Politik aktiv werden, müssen Sie den dann wieder abgeben? Wären Sie bereit, ihn aufzugeben für das Engagement in der türkischen Politik?

    Öger: Ich müsste ihn abgeben, aber, wie gesagt, es ist nicht vorgesehen, nach Ankara in die Politik zu gehen. Ich glaube, dass ich auch von Deutschland aus eine Menge dazu beitragen kann. Es geht auch darum, die deutsche Seite, die europäische Seite mit Argumenten zu überzeugen. Ich glaube, da bin ich eher in Europa gefragt als in der Türkei selbst, denn 75 Prozent der Türken wollen ja in die EU, aber nur 30 Prozent der Deutschen sind für einen EU-Beitritt der Türkei. Da gibt es eine Menge Überzeugungsarbeit, die ich nach meinen Möglichkeiten leisten werde. Wenn es zum Beginn der Aufnahmeverhandlungen kommen würde, wäre mein politisches Ziel erreicht. Mehr Ziele hätte ich eigentlich nicht. Das ist, kurz erklärt, wie ich mein Engagement sehe.

    Gerner: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio