Dienstag, 19. März 2024

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EU-Bildungspolitik
"Die EU ist ein Spätzünder"

"Das Europäische Parlament ist kein maßgeblicher Akteur der Bildungspolitik", sagte Politikwissenschaftlerin Kerstin Martens im Dlf. Vor den 1990er-Jahren habe das Thema nur eine untergeordnete Rolle gespielt, heute sei die EU hauptsächlich in den Bereichen Berufsbildung und Hochschulbildung aktiv.

Kerstin Martens im Gespräch mit Stephanie Gebert | 23.05.2019
Eine Studentin hält an der SRH Hochschule Berlin ein Buch über das Erasmus-Programm und Informationsbroschüren über Auslandspraktika in den Händen
Erst mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurden in der EU Zuständigkeiten im Bereich der Bildung geregelt, sagte Politikwissenschaftlerin Kerstin Martens im Dlf (dpa / Jens Kalaene)
Stephanie Gebert: Bildung ist Ländersache – ein Satz, der nicht mehr in Stein gemeißelt ist. Seitdem das Kooperationsverbot aufgeweicht wurde, darf auch der Bund, zum Beispiel bei der Digitalisierung der Schulen, mitmischen. Aber wie viel Bildungspolitik wird eigentlich auf europäischer Ebene betrieben, und was kommt bei uns ganz konkret davon in Deutschland an? Da wollen wir draufschauen bei "Campus und Karriere" vor der Europawahl am Sonntag, und zwar mit Kerstin Martens, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Sie forscht auch auf diesem Gebiet Europäische Bildungspolitik. Schönen guten Tag!
Kerstin Martens: Ja, guten Tag, Frau Gebert!
Gebert: Wer über europäische Bildungspolitik nachdenkt, dem fällt vielleicht als Erstes das Austauschprogramm für Studierende und Azubis ein, Erasmus+, dann natürlich der Bologna-Prozess, also die Vereinheitlichung der Studiengänge und der Abschlüsse – beides ist jetzt eigentlich schon, wenn man genau hinschaut, Jahrzehnte her, dass man es angestoßen hat. An welchen Stellen wird denn aktuell von der EU Bildungspolitik so betrieben, dass wir sie auch zu spüren bekommen?
Martens: Der Bologna-Prozess an sich ist ja ein Prozess, der außerhalb der EU angestoßen wurde. Vor 20 Jahren unterzeichneten 29 Staaten damals die Bologna-Erklärung, dass sie einen europäischen Hochschulraum schaffen wollten. Und Sie merken schon an der Zahl – es waren damals 29, heute sind es inzwischen 48 –, dass der Bologna-Prozess weit über die EU hinausreicht.
Neben allen europäischen Staaten sind auch viele andere Staaten Mitglied im Bologna-Prozess, also Kasachstan, Aserbaidschan oder auch Russland, das heißt, der Bologna-Raum hat letztlich Außengrenzen zu China. Aber die Ziele des Bologna-Prozesses, also vor allen Dingen Wettbewerbsfähigkeit und Mobilität zu fördern, das sind auch Ziele, die die EU immer schon hatte. Und die EU möchte gerne sogar noch einen Schritt weitergehen, also einen europäischen Bildungsraum schaffen, der dann sich nicht nur auf die Hochschulbildung bezieht, sondern auf eigentlich alle Bildungsprozesse ausgeweitet werden kann.
Bildung ist Sache der Mitgliedsstaaten
Gebert: Sie sagen, es soll immer weitergehen beziehungsweise eine Ausweitung auch von der Hochschule hin zu den anderen Bildungsbereichen insgesamt im europäischen Raum geben. Wenn wir uns das mal genauer anschauen, von der Schule über die berufliche Bildung, wie viel Einfluss kann denn die EU da nehmen, auf diese einzelnen Bildungsbereiche?
Martens: Man muss dazu erst mal sagen, die EU ist an sich ein Spätzünder, wenn es um den Bereich Bildung geht. Bis Anfang der 90er-Jahre spielte Bildung eigentlich eine untergeordnete Rolle im europäischen Einigungsprozess, erst mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurden da Zuständigkeiten geregelt. Da wurde allerdings ganz klar auch gesagt, Bildung ist Sache der Mitgliedsstaaten, aber die EU soll unterstützen, dass qualitativ hochwertige allgemeine und berufliche Bildung geleistet wird.
Und seit dem Vertrag von Amsterdam 1999 gibt es dafür dann auch rechtliche Grundlagen, dass verschiedene weitere Programme geschaffen werden können. Man muss aber sagen, hauptsächlich ist die EU in den Bereichen Berufsbildung und Hochschulbildung aktiv. Das hat einfach auch damit zu tun, dass sie vor allen Dingen in den 90er-Jahren Bildung als Schlüssel zur Verringerung von Jugendarbeitslosigkeit erkannt hat, aber nach und nach hat man sich auch anderen Bildungsbereichen angenommen in der EU.
Gebert: Nehmen wir vielleicht die Berufsbildung – fällt Ihnen da ein konkretes Beispiel ein, wo wir hier in Deutschland spüren, aha, da hat die EU, hat Europa Einfluss?
Martens: Ja, vielleicht ein schwieriges Beispiel, weil wir in Deutschland sind ja eigentlich sozusagen immer ein Vorbild in der Berufsbildung. Aber die EU hat gerade im Zuge des Bologna-Prozesses gelernt und hat den sogenannten Kopenhagen-Prozess – das ist eigentlich ein Prozess, der versucht, die Berufsbildung in Europa auch vergleichbarer zu machen –, und den hat die EU von sich aus angestoßen.
Parlament lehnte ungarischen Bildungs-Kommissar zunächst ab
Gebert: Wir wählen ja nun am Sonntag das EU-Parlament, dem wird häufig ein Demokratiedefizit bescheinigt, also wenig Einflussmöglichkeit. Wo können denn die Parlamentarier im Bildungsbereich Einfluss nehmen?
Martens: Das Parlament an sich hat ja fünf Kompetenzen: Es wirkt an der Gesetzgebung mit, es entscheidet zusammen mit dem Rat über die Finanzen, es hat Kontrollrechte, es kann die Kommission bestellen und es kann politische Debatten initiieren. Das ist jetzt erst mal prinzipiell im Bereich Bildung genauso wie in anderen Bereichen auch. Man muss sich aber immer wieder vor Augen führt, dass Bildung Sache der Mitgliedsstaaten ist, also dass der Handlungsspielraum hier doch eingeschränkt ist, und das gilt auch für das Europäische Parlament. Es hat aber einen Ausschuss für Kultur und Bildung, CULT genannt, der neben Bildung und Kultur aber auch Medien, Sport und Jugend abdeckt, der hat also ein recht breites Spektrum.
Man muss allerdings sagen, in der wissenschaftlichen Literatur zu Bildung und EU wird das Europäische Parlament kaum wahrgenommen. Man kann durchaus sagen, dass das Europäische Parlament kein maßgeblicher Akteur im Bereich der Bildungspolitik ist oder war – mit vielleicht einer großen Ausnahme: Als nämlich der aktuelle Kommissar für den Bereich Bildung zur Wahl stand – das ist zurzeit Tibor Navracsics –, da hat das Parlament ihn zunächst abgelehnt.
Tibor Navracsics gehört der Fidesz an, ist also ein ungarischer Jurist, der vor allen Dingen durch seine Justizreform in Ungarn in die öffentliche und auch europäische Kritik gekommen ist, weil er einfach maßgeblich daran beteiligt war, die Mediengesetzgebung in Ungarn auf den Weg zu bringen. Und da hat das EU-Parlament 2014 ihn als Kommissar zunächst abgelehnt, und man hat ihm dann die Zuständigkeit für Bürgerrechte entzogen. Das heißt, der macht jetzt Bildung, Kultur, Jugend, Sprachen und Sport, aber nicht Bürgerrechte.
Gebert: Und welche Aufgaben hat er da oder wie viel macht hat der EU-Bildungskommissar, der jetzt aus Ungarn stammt?
Martens: Er ist natürlich jetzt nicht so bekannt wie eine Margrethe Vestager, die für Wettbewerbsrecht zuständig ist. Seine Generaldirektion initiiert Projekte, die einen europäischen Mehrwert schaffen, die europäische Identität fördern, die Vermittlung europäischer Werte vorantreiben sollen. Also ganz konkret sorgt er dafür, dass Erasmus oder Erasmus+ weitergeht, weiterentwickelt wird, dass die Beteiligung der EU am Bologna-Prozess fortgeführt wird, das sind so seine Zuständigkeitsbereiche.
Gebert: Ist das ein Kandidat im Moment, der Tibor Navracsics, der seine Macht auch wirklich ausnutzt, oder ist er eher ein zurückhaltender Kommissar im Moment?
Martens: Ich würde sagen, er ist jetzt nicht besonders in Erscheinung getreten, von daher, glaube ich, ist es jetzt nicht jemand, der große, neue Dinge auf den Weg gebracht hat, die jetzt große mediale Öffentlichkeit erlangt haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.