Jochen Spengler: Wir fassen mal zusammen: Das Dublin-Abkommen und Schengen ausgehöhlt, vielleicht suspendiert, Dänemark scheidet aus der gemeinsamen Innenpolitik aus, Osteuropa verweigert die Flüchtlingssolidarität, die Eurokrise schwelt weiter, Großbritannien liebäugelt mit einem EU-Austritt.
Am Telefon ist der EU-Kenner und langjährige Professor für Politikwissenschaft an der Uni Münster. Guten Tag, Professor Wichard Woyke.
Wichard Woyke: Guten Tag, Herr Spengler.
Spengler: Herr Woyke, wenn Sie auf den Zustand der EU blicken, welches Attribut kommt Ihnen da in den Sinn: Jämmerlich, besorgniserregend, bemitleidenswert?
Woyke: Besorgniserregend, denn die Krisen haben Sie ja aufgezählt und die Krisen sind ja teilweise schon länger, die die EU vor sich herschiebt und wo sie Lösungen versucht zu finden. Aber wir haben es im Augenblick mit der allmächtigen und überragenden Flüchtlingskrise zu tun, die sich wirklich zu einer Krise entwickelt hat, und da sehen wir jetzt, dass wir Probleme bekommen und dass die Osterweiterung inhaltlich, was die Werte angeht, in den Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas, also in den neuen Beitrittsländern nicht überall dementsprechend angekommen ist, wie wir uns das gedacht hatten.
Spengler: Aber sind wir deren Schulmeister?
Woyke: Wir sind nicht deren Schulmeister. Aber wir können darauf verweisen, dass sie ja einem Bündnis oder einem Staatenbund, Staatenverbund, wie das Bundesverfassungsgericht sagt, beigetreten sind, das bestimmte einheitliche Politiken vorsieht. Und ich denke, gerade bei der Flüchtlingskrise haben wir den berühmten Artikel 78 aus dem Vertrag über die Asylpolitik, also dem Anwendungsvertrag.
Spengler: Mir ist der jetzt nicht bekannt. Den müssten Sie uns jetzt noch mal erläutern, was da drinsteht.
Woyke: Ja. Da heißt es beispielsweise, die Union wird eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz gestalten, mit der einem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Erhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung gewährleistet werden soll. Und dann werden einzelne Formen aufgeführt und schlussendlich besagt der berühmte Paragraph drei dieses Artikels: "Befinden sich ein oder mehrere Mitgliedsstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatenangehörigen in einer Notlage, so kann der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedsstaaten erlassen."
Spengler: In einer Notlage, Herr Professor Woyke, sind wir.
Woyke: Ja, ganz genau.
Spengler: Der Rat erlässt aber nichts.
Woyke: Ganz genau, und deswegen hat der Rat mit Mehrheit auch beschlossen, die Flüchtlinge zu verteilen.
Spengler: Da ging es aber um 120.000. Wir reden ja inzwischen von Millionen. Und diese 120.000, die Verteilung klappt ja auch nicht.
Woyke: Ja! Das ist ja das Problem. Da haben Sie vollkommen recht. Das heißt, Verträge sind Papier und Makulatur, wenn sie keine Anwendung finden, und die Europäische Union ist eine Veranstaltung, die sich aus den Mitgliedsstaaten zusammensetzt, Verbund, wie das Verfassungsgericht sagt, und von daher gibt es keine Zwangsgewalt. Ich kann lediglich vielleicht über Restriktionsmaßnahmen nachdenken und die wichtigsten Restriktionsmaßnahmen sind natürlich die Geldzufuhr. Aber das kann ich erst in einem langwierigen Prozess machen, der nicht unmittelbar wirken kann.
"Gemeinsame Flüchtlings- und Asylpolitik der EU entwickeln"
Spengler: Das heißt aber doch, dass das ganze System der EU dann krank ist, wenn sich keiner mehr an die Regeln hält.
Woyke: In dem Moment, wenn sich keiner mehr an die Regeln hält, dann ja. Aber wir sehen ja, dass sich auch zehn Staaten daran halten. Das ist natürlich von 28 die Minderheit und das zeigt, dass hier dieses System revisionsbedürftig ist. Und die EU hat ja nun eine Strategie, eine Flüchtlingsstrategie entwickelt, die auf drei Säulen fußt. Aber die erste Säule, die Verteilung der Flüchtlinge, klappt nicht. Die zweite Säule mit der Türkei als der Staat, der seine Außengrenze stärker schützen soll, ist offensichtlich am letzten Wochenende vom Gipfel realisiert worden. Und die dritte Säule, die Registrierungszentren, die an den Außengrenzen der EU eingeführt werden sollen, ist auf dem Weg. Also es ist sicherlich nicht kurzfristig zu realisieren. Es bleibt die Hoffnung, dass es mittel- und langfristig klappt.
Spengler: Nun hat ausgerechnet der EU-Ratspräsident Donald Tusk gestern mit seinem Interview für heftige Kritik gesorgt, jedenfalls hierzulande. In dem hat er gesagt, die Flüchtlingswelle ist zu groß, um sie nicht zu stoppen. Hat er damit nicht im Grunde das formuliert, was Mehrheitsmeinung in Europa ist, und sind wir die Geisterfahrer in Europa?
Woyke: Wenn Sie das so ausdrücken wollen, kann man das so ausdrücken.
Spengler: Aber was heißt das dann für uns? Dann müssen wir uns doch nach den anderen richten und nicht die anderen alle nach uns.
Woyke: Ich denke aber, dass inzwischen auch die Flüchtlingspolitik von Frau Merkel eine andere geworden ist als damals unmittelbar nach der Erklärung, dass sie hier willkommen sind, denn sie sprechen inzwischen auch von Kontingenten. Und das bedeutet natürlich, dass hier innerhalb der Europäischen Union eine Willensbildung zurzeit verläuft, die darauf hinausläuft - und Sie können das Problem nicht anders lösen -, dass Sie in der Tat diese gemeinsame Flüchtlings- und Asylpolitik in der EU entwickeln müssen, und es wird nur so zu lösen sein, indem tatsächlich die einheitliche Asylpolitik dann stattfindet und dass Anreize seitens der Brüsseler Zentrale an die Mitgliedsstaaten gegeben werden, auch finanzielle Anreize, sodass es überhaupt nicht dazu kommen kann, dass es hier ein Verteilungsproblem gibt.
Spengler: Wenn Europa doch nicht Ihrer Hoffnung zufolge zu einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik finden sollte, wie groß ist dann die Gefahr, dass uns der ganze Laden zusammenbricht?
Woyke: Diese Gefahr sehe ich noch nicht. Diese Gefahr würde ich erst dann sehen im Jahr 2017, wenn Frau Le Pen tatsächlich in Frankreich Präsidentin würde, und sie ist ja eine dezidierte Nationalistin, die den Austritt aus dem Euro will und über die EU hat sie noch nicht gesprochen, und wenn auch in anderen Ländern die Nationalisten dominieren würden. Dann wäre es tatsächlich sehr, sehr schlecht um den europäischen Integrationsprozess bestellt und dann würde es sicherlich zu einer Rückentwicklung kommen, wobei offen ist, wie diese Rückentwicklung dann aussehen könnte.
"Trend zur Nationalisierung ist aufzuhalten"
Spengler: Es gibt ja diesen Trend zur Nationalisierung, zu nationalstaatlichen Lösungen. Ist dieser Trend noch aufzuhalten und wenn ja wie?
Woyke: Ich denke schon, dass dieser Trend aufzuhalten ist, denn es gibt ja bestimmte Bereiche, die nationalstaatlich gar nicht zu regeln sind.
Spengler: Etwa?
Woyke: Wenn wir an die Eurokrise denken, da wäre manchen Staaten ihre Währung um die Ohren geflogen, wenn sie nicht im Euro gewesen wären. Und das Gleiche ist auch mit der Asylpolitik. Die kann ich auch nicht national alleine machen, wenn ich so was wie Schengen und offene Grenzen habe. Dann muss ich tatsächlich gemeinsame Politik betreiben, einheitliche Politik betreiben, und das braucht lange, lange Zeit, um sich durchzusetzen.
Spengler: Es gibt nach wie vor gute Gründe für die Europäische Union. Das meint jedenfalls Professor Wichard Woyke. Herr Woyke, danke für das Interview heute Mittag.
Woyke: Gerne.
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