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EU-Flüchtlingspolitik
"Zutiefst unsolidarische Regelung"

Der Europareferent der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl, Karl Kopp, hat die Pläne der EU-Kommission zur Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU kritisiert. Die Menschen könnten nicht zwangsverteilt werden, sagte Kopp im DLF. Er forderte ein neues europäisches System der Flüchtlingsaufnahme.

Karl Kopp im Gespräch mit Bettina Klein | 27.05.2015
    Afrikanische Flüchtlinge sitzen in Tripolis nach ihrer Verhaftung auf dem Boden.
    "Wir haben eine riesige humanitäre Krise vor den europäischen Grenzen", sagte Karl Kopp von Pro Asyl im DLF. (picture-alliance/dpa/EPA/Str)
    Bettina Klein: Fast seit Monaten hat uns dieses Thema beschäftigt, heute nun hat die EU-Kommission wie angekündigt ihre neuen Detail-Vorschläge vorgelegt, wie sie Flüchtlinge, die in die Europäische Union drängen, anders als bisher auf die einzelnen Mitgliedsstaaten verteilen will.
    Jörg Münchenberg, Korrespondent in Brüssel, über die Details.
    Die EU-Kommission will heute noch offiziell vorstellen, wie sie sich die Aufteilung der Flüchtlinge in der Europäischen Union in Zukunft vorstellt. Und das waren erste Informationen dazu von Jörg Münchenberg. Karl Kopp ist am Telefon und hat mitgehört. Er ist Europareferent der Organisation Pro Asyl. Ich grüße Sie, Herr Kopp!
    Karl Kopp: Guten Tag!
    Klein: Mit Ihnen wollen wir eine erste Bewertung vornehmen. Wie viel weiter sind wir denn nun mit diesen Beschlüssen, so sie denn kommen?
    Kopp: Wir sind kein Gramm weiter. Wir haben eine riesige humanitäre Krise vor den europäischen Grenzen und in den Grenzstaaten wir Griechenland und Italien. Es ist richtig, die Notstandsklausel oder die Solidaritätsklausel endlich mal zu zücken. Die Vorschläge sind nicht ausreichend. 40.000 aus den beiden Staaten, in Griechenland kommen von den 16.000, die da vielleicht begünstigt wären, die kommen in der Woche an momentan. Wir müssen also ein ganz anderes Instrumentarium entwickeln. Und es kann eines nicht gehen, dass man die Menschen zwangsverteilt. Das sind anerkannte Flüchtlinge de facto, und die sollen gegen ihre Interessen, gegen ihre familiären Bindungen oder Community-Strukturen irgendwo hin verteilt werden. Das kann nicht gut gehen, das ist nicht akzeptabel.
    "Wir brauchen Hilfe vor Ort"
    Klein: Sind es denn wirklich immer anerkannte Flüchtlinge, oder ist das in vielen Fällen vielleicht auch noch gar nicht klar?
    Kopp: Na ja, es ist offen, aber die Kommission will ja so einen Identifizierungsmechanismus entwickeln, wo praktisch Staaten wie Syrien, Eritrea, die eine hohe Anerkennungsquote haben, weitergeleitet werden. Aber wie gesagt, wir können nicht ein Monstrum, Dublin, was de facto gescheitert ist, diese Asylzuständigkeitsregelung - sie ist inhuman, sie ist unsolidarisch, durch ein anderes ersetzen, durch einen Zwangsumverteilungsmechanismus. Und wir brauchen viel mehr Möglichkeiten, dass beispielsweise in Griechenland die Leute direkt legal weiterreisen können. Wir brauchen Hilfe vor Ort. Da fehlt es an allem, an Unterkünften, an medizinischer Versorgung, an Essen, an Booten, an Transportmitteln. Die Situation ist so dramatisch, dass dieser Vorschlag wirklich ein kleines Besteck ist.
    Klein: Was Sie jetzt gerade angesprochen haben, Situation konkret vor Ort und die ganz praktische Hilfe für diejenigen, die ankommen, das wäre dann möglicherweise noch mal ein weiterer Schritt, aber da sind ja zunächst mal die einzelnen Staaten dann auch aufgefordert. Das wäre dann eine Aufgabe für die griechische Regierung in diesem Fall.
    Kopp: Ja, aber gut, Griechenland ist in der Krise, und es ist ja auch ganz klar, dass die Flüchtlinge, die jetzt ankommen, nicht die Flüchtlinge Griechenlands sind, sondern die Flüchtlinge Europas, und von daher muss Europa - das will der Kommissar auch - viel mehr investieren vor Ort, aber dann muss es auch schnell weitergehen. Wir können nicht - da kommen über 100.000 Menschen in der Ägäis an. Wir müssen die sehr schnell zu ihren Familien lassen. Da gibt es Möglichkeiten auch im Rahmen von dieser Asylzuständigkeitsregelung. Wir können auch Relocation machen, dass man Leute aktiv holt nach Deutschland oder in andere Staaten. Aber das muss schnell gehen, und es muss großzügig gehen, sonst kommen die Verhältnisse dort wirklich ins Rutschen.
    "Europäische Flüchtlingspolitik ist an zwei Punkten gescheitert"
    Klein: Sie haben gesagt, Herr Kopp, diejenigen, die ankommen, müssen das Recht haben, dann auch weiterzureisen. Das aber genau würde eine Abschaffung dieser Dublin-Regelung voraussetzen, die ja bisher sagt, zuständig sind die Ankunftsländer.
    Kopp: Aber das drückt doch schon aus, dass wir eine zutiefst unsolidarische Regelung haben, natürlich auch inhuman, weil in diesen Außenstaaten oft überhaupt keine Aufnahmebedingungen vorherrschen. Ich kann doch nicht eine syrische Familie auf die Parkbank von Italien verweisen oder irgendwie die Obdachlosigkeit von Kos oder Mittelini, sondern ich brauche ein europäisches System. Und es zeigt, dass das bestehende europäische System, de facto auch die europäische Flüchtlingspolitik an zwei Punkten gescheitert ist. Es sterben Tausende von Menschen vor den Grenzen, und es gibt keine Solidarität und keine Humanität innerhalb der Europäischen Union. Und der Vorschlag wird das nicht beenden.
    "Die Menschen wollen zu ihren Familien"
    Klein: Herr Kopp, das Elend ist groß, die Situation mehr als kritisch, das ist uns, glaube ich, allen klar. Von daher sind die Rufe nach mehr und besseren Regelungen und nach mehr Geld vor allen Dingen nur zu verständlich. Auf der anderen Seite muss man auch eben mit den Realitäten klar kommen, mit einer Europäischen Union mit vielen Mitgliedsstaaten. Sie haben vorhin die Regelung, die jetzt ansteht, als nicht ausreichend bezeichnet. Machen Sie uns einen Vorschlag: Was wäre noch realistisch und ausreichend gewesen in diesem Schritt, auch wenn man vielleicht nicht das ganze Elend auf einen Schlag hätte beseitigen können?
    Kopp: Ja gut, die familiäre Bindung, die Community-Strukturen sollten berücksichtigt werden. Das heißt, wir haben ganz klar, wir haben 130.000 Menschen aus Syrien in Deutschland, 90.000 aus dem Irak. Es ist naheliegend, dass die Menschen zu ihren Familien wollen. Und das sollte auch in einer Regelung beinhaltet sein. Anders würden wir gegen die Interessen die Leute verteilen nach Litauen, und dann würden sie irregulär weiterreisen. Da sind wir genau so weit wie vorher. Das ist keine Lösung. Wir können natürlich jetzt nicht ad hoc die Fehler der letzten 15 Jahre begradigen, aber wir müssen anfangen, ein neues System zu schaffen der Aufnahme, und das kann nicht Dublin sein.
    "Wir müssten proaktiv Leute in die Europäische Union holen"
    Klein: Das heißt, wenn Familien in Deutschland schon sind, sollen die auch nach Ihrer Meinung das Recht bekommen, eben ihre Verwandten und ihre Angehörigen nachzuholen, auch in dieses Land zu holen, wo sie eine neue Heimat gefunden haben.
    Kopp: Genau. Wichtig wäre natürlich, dass wir vorher auch Maßnahmen ergreifen, dass die Leute - die müssen ja nicht unbedingt, das ist ja der reine geografische Zufall, über Griechenland auf dem Seeweg einreisen und ihr Leben riskieren. Wir müssten proaktiv Leute eben in die Europäische Union holen. Deshalb haben wir auch die hohe Todesrate, weil wir zu wenig oder überhaupt keine legalen und gefahrenfreien Wege in Europa offerieren, und das wäre natürlich noch viel wichtiger. Dann könnten die Menschen direkt in das Land ihrer Wahl einreisen, in das Land ihrer familiären Bindung.
    Klein: Genau da sind wir aber wieder bei den konkreten Problemen vor Ort, die in Deutschland deutlich geringer sein mögen als in Griechenland, aber auch hier gibt es, Sie wissen es, einen großen Streit darum, wer steht eigentlich finanziell dafür gerade und kümmert sich. Und selbst in einem so reichen Land wir Deutschland sind wir noch weit von einer zufriedenstellenden Lösung entfernt. Also hat es dann Sinn, auf europäischer Ebene mehr Regelungen und mehr Flüchtlinge zu fordern, wenn eigentlich vor Ort auch bei uns gar nicht gewährleistet ist, dass die zufriedenstellend untergebracht werden.
    Kopp: Na ja, es gibt keine Alternative zum europäischen Schutzsystem, aber das Problem ist, dass wir seit 16 Jahren darüber verhandeln und noch nicht so weit gekommen sind. Das sind die Fehler der Vergangenheit. Und jetzt haben wir eine Riesen-Katastrophe, wir haben mehrere Tausend Tote allein in dem Jahr. Wir haben Elendsquartiere an den Außengrenzen, und wollen wir damit leben? Das heißt, wir brauchen aktiv eine Umkehr. Und das heißt natürlich im ersten Schritt, dass die Staaten, die etablierte Systeme haben, die sind im Zentrum und im Norden der Europäischen Union, weiterhin stärker gefordert sein werden.
    Klein: Die Einschätzung von Karl Kopp, Europareferent der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl mit einer ersten Einschätzung der neuen Vorschläge der EU-Kommission, wie sie Flüchtlinge künftig innerhalb der Europäischen Union verteilen will. Herr Kopp, ich danke Ihnen für das Gespräch!
    Kopp: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.