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EU-Kommissar Verheugen begrüßt Dreier-Gipfel

Koczian: In unserem Berliner Studio begrüße ich nun EU-Kommissar Günter Verheugen. Guten Morgen, Herr Verheugen.

    Verheugen: Guten Morgen, Herr Koczian.

    Koczian: Ihr Ressort bezieht sich auf die Erweiterung, doch die Kommission ist ein kollegiales Gremium. Sie kann nicht die Geschäfte des Rates besorgen, aber sie kann mitreden. Beginnen wir also mit dem Aktuellen: Jacques Chirac, Tony Blair und Gerhard Schröder treffen sich zum Thema Irak, was nicht nur heißt, dass man Europas Verhältnis zu den USA ins reine bringen will, sondern vor allem, dass man untereinander eine gemeinsame Position bezieht. Doch worauf gründet sich die Hoffnung, dass bei der nächsten internationalen Herausforderung nicht doch wieder die unterschiedlichen nationalen Interessen das Verhalten dirigieren?

    Verheugen: Lassen Sie mich zunächst sagen, dass aus der Sicht der Kommission dieses Treffen uneingeschränkt zu begrüßen ist und der Versuch, zu mehr Zusammenhalt in der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu kommen. Ich verbinde mit diesem Treffen in der Tat die Hoffnung, dass wir ein Stück nach vorne kommen bei dem Versuch, Europa in Zukunft mit einer Stimme sprechen zu lassen, und zwar deshalb, weil die Erfahrungen der Irak-Krise, in der sich Europa so sehr an den Rand manövriert und marginalisiert hat, ja geradezu traumatisch ist. Alle Beteiligten müssen ein Interesse daran haben, eine stärkere europäische Rolle zu garantieren. Wir sind jetzt in der Situation, in der die Amerikaner auf Europa viel stärker angewiesen sind als sie es ursprünglich gedacht haben. Hier sollte wirklich eine gemeinsame europäische Haltung gefunden werden.

    Koczian: Nun zur Erweiterung der Union: Die Esten haben zugestimmt, die Letten werden es tun. Sind Sie als zuständiger Kommissar mit dem Zeitplan zufrieden, oder geht es zu schnell oder zu gemächlich?

    Verheugen: Nein, wir sind ganz genau im Zeitplan. Die Beitritte von zehn Ländern, darunter acht aus Mittel- und Osteuropa sind für den 1. Mai 2004 vorgesehen. Deshalb ist es gut, dass heute in Lettland der politische Entscheidungsprozess auf der Seite der zukünftigen Mitgliedsländer abgeschlossen wird. Der Ratifizierungsprozess in den Mitgliedsländern läuft noch. Wir rechnen damit, dass bis Ende diesen Jahres auch das erledigt ist. In Deutschland ist es ja bereits abgeschlossen: Bundestag und Bundesrat haben dem Erweiterungsvertrag bereits zugestimmt. Die Neuen werden also am 1. Mai 2004 ihre Plätze einnehmen, und ich kann auch heute schon sagen und garantieren, dass danach die Welt nicht untergehen wird, und dass Europa sowohl in den Institutionen wie auch in den Politiken einwandfrei funktionieren wird.

    Koczian: Welche weiteren Beitrittskandidaten halten Sie für auf gutem Wege, und wo gibt es noch Zweifel?

    Verheugen: Wir haben noch zwei Kandidaten, die sich jetzt vorbereiten auf den Endspurt der Verhandlungen. Das sind die beiden südosteuropäischen Länder Bulgarien und Rumänien, die eine sehr große strategische Bedeutung für die Sicherheit Europas haben, und die unbedingt Mitglied werden sollten. Sie werden auch Mitglied. Das vorgesehene Beitrittsdatum ist das Jahr 2007. Wenn beide Länder sich große Mühe geben, ist das auch erreichbar. Dann haben wir die Türkei, das ist aber eine andere Situation. Mit der Türkei verhandeln wir nicht. Bei der Türkei geht es darum, festzustellen, ob sie die politischen Beitrittsvoraussetzungen überhaupt erfüllt. Das wollen wir am Ende des nächsten Jahres tun. Mehr Beitrittskandidaten gibt es im Augenblick nicht. Es liegt ein Antrag von Kroatien vor. Den prüfen wir gerade in der Kommission. Mein Kollege Chris Patten und ich werden den Bericht und die Empfehlungen im Frühjahr des nächsten Jahres vorlegen. Alle anderen Nachbarländer haben keine Beitrittsperspektive, jedenfalls keine unmittelbare. Deshalb rede ich mit den Nachbarländern, wie zum Beispiel der Ukraine oder Russland oder den nordafrikanischen Ländern und den Staaten im Nahen Osten darüber, wie wir in individuellen Aktionsplänen unser Potenzial an politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit so stark wie möglich ausschöpfen können, um zu verhindern, dass die Erweiterung der Europäischen Union neue Grenzen schafft.

    Koczian: Voraussetzung eines Beitritts ist der "acquis communautaire", die Gemeinschaftsstandards. Nun konnte man gerade bei den Balten sehen, wie schwer es fallen kann, wenn einfach die Fachkräfte nicht vorhanden sind, wie zum Beispiel Arbeitsrechtler. Wie realistisch sind dann die Beitrittswünsche, die gerade von Ihnen vorgetragen wurden?

    Verheugen: Sie sind realistisch, weil wir uns ja anders als bei früheren Beitritten nicht darauf beschränkt haben, das Gemeinschaftsrecht zu verhandeln. Der Schwerpunkt unserer Arbeit lag ja darin, die künftigen Mitglieder in die Lage zu versetzen, das Gemeinschaftsrecht auch anzuwenden. Das wirklich Einmalige, Ungeheuere und historisch so Besondere an dieser Aufgabe war ja die Gleichzeitigkeit der vollständigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation dieser Staaten und der Vorbereitung auf den EU-Beitritt. Sie haben vollkommen Recht: Große Rechtsgebiete existierten in diesen Ländern überhaupt nicht, also mussten sie erst geschaffen werden. Es mussten auch erst die Strukturen geschaffen werden, um beispielsweise Wettbewerbsrecht oder Umweltrecht oder was auch immer durchzusetzen. Das haben wir getan. Wir haben keine Verhandlungskapitel abgeschlossen, wenn wir nicht sicher waren, dass die entsprechenden Mittel, die entsprechenden Instrumente und das entsprechende Personal zur Verfügung stehen, um die Politik dann auch zu verwirklichen. Das ist ganz neu an diesem Prozess. Deshalb sitze ich ja auch so ruhig hier und kann auch ruhig schlafen, weil ich weiß, dass das die am besten vorbereitete Erweiterung in der Geschichte der europäischen Einigung ist.

    Koczian: Wir sprachen nun von den Beitrittswilligen. Andererseits wachsen Zweifel. Ein Beispiel ist die Absage der Schweden an den Euro. Verliert Europa an Attraktivität?

    Verheugen: Mein Eindruck ist das genaue Gegenteil. Ich habe täglich mit Menschen zu tun, die unbedingt am Prozess der europäischen Einigung teilhaben wollen. Ich glaube auch nicht, dass das Nein der Schweden zum jetzigen Zeitpunkt zum Euro eine Absage an Europa ist. Die Schweden haben zum jetzigen Zeitpunkt nicht einsehen mögen, warum es für sie ein Vorteil sein soll, die Schwedenkrone aufzugeben und den Euro zu übernehmen. Ich bin nicht ganz sicher, ob die außerordentlich komplizierten Zusammenhänge der internationalen Wirtschaftspolitik und der internationalen Währungspolitik wirklich von jedem, der mit Nein gestimmt hat, voll übersehen worden sind. Wir müssen es aber akzeptieren und können auch gar nicht anders. Die Folgen sind unangenehm, denn man muss damit rechnen, dass der Zustand, dass wir eine unterschiedliche Dichte der Integration in Europa haben, noch für einige Zeit weiter bestehen wird. Die Gefahr besteht, dass die Mitglieder der Eurozone, also die Länder, die den Euro haben, sich schneller in Richtung Integration bewegen als die Länder, die ihn nicht haben. Die neuen Länder kriegen ihn übrigens alle, jeder zur richtigen Zeit.

    Koczian: Ein Grund für die Zweifel der Schweden mag ja der Umgang mit dem Stabilitätspakt gewesen sein. Die Zerstrittenheit über den Irak war spektakulär, aber ist das Zerstörungspotenzial, das im Umgang mit den Stabilitätskriterien liegt, nicht viel gefährlicher, wie zum Beispiel Jean-Pierre Raffarin sagt, es sei seine Aufgabe, den Franzosen Arbeit zu verschaffen und nicht irgendwelche Statistiker in irgendwelchen Amtsstuben zufrieden zu stellen?

    Verheugen: Diese Aussage würde ich nicht kritisieren. Darum geht es ja auch nicht. Es geht nicht darum, dass irgendwer irgendwelche Statistiker zufrieden stellen soll. Es geht darum, dass sich die Mitgliedsstaaten aus guten Gründen gemeinsame Regeln gegeben haben, die respektiert werden sollen, wenn man will, dass eine gemeinsame Währung auch funktioniert. Die Kommission hat hier eine ganz klare Rolle: Die Kommission ist die Hüterin der Verträge. Wir haben dafür zu sorgen, dass die Verträge eingehalten werden. Die Kommission erwartet von allen Mitgliedern - auch von Frankreich -, dass sie eine Politik betreiben, die die Ziele des Stabilitäts- und Wachstumspaktes respektiert und sich daran orientiert.

    Koczian: Anders als Gerhard Schröder und Jacques Chirac beispielsweise will Kommissionspräsident Romano Prodi die Verfassungsentwürfe wieder aufschnüren, stößt damit aber weder im Parlament noch bei den Regierungen auf viel Gegenliebe. Das Aufschnüren kann das Öffnen der Büchse der Pandora an Wünschen bedeuten. Die Kommission ist natürlich wie immer einer Meinung mit dem Präsidenten. Ist sie das aber in diesem Falle ganz intensiv?

    Verheugen: Ja. Der Präsident hat keine Privatmeinung vertreten, sondern hat sich auf einen förmlichen Beschluss der Kommission gestützt, den wir am Mittwoch dieser Woche nach langen, langen und intensiven Beratungen gefasst haben. Wir haben den Konvent ja ohnehin mit sehr intensiven Beratungen begleitet, und ich muss sagen, ich teile die Auffassung des Präsidenten voll und ganz. Ich kann nicht erkennen, wieso der Hinweis auf einige Stellen in dem Vertragswerk, die schwach sind und auf einige Stellen, die eindeutig klärungsbedürftig sind, bedeutet, dass das gesamte Werk in Frage gestellt wird. Lassen Sie mich das mal in aller Offenheit sagen. Dieses Mädchen Pandora kenne ich schon, seit ich im politischen Leben bin, also 35 Jahre. Immer, wenn jemand nicht diskutieren will, wird Pandora vorgeschickt. Mich beeindruckt das nicht mehr sonderlich. Ich glaube, dass es ohne weiteres möglich ist, sowohl den Zeitplan einzuhalten als auch das Projekt insgesamt auf Kurs zu halten, ohne die erkennbaren Schwachstellen einfach weiter bestehen zu lassen. Ich muss Ihnen wirklich sagen: Die Konstruktion, dass wir ab 2009 eine Kommission mit zwei Klassen haben sollen mit dem Ergebnis, dass zum Beispiel auch Deutschland ab 2009 überhaupt nur noch in jeder zweiten Kommission gleichberechtigt vertreten wäre, ist nicht praktikabel. Da wir für lange Zeit keine Chance mehr haben werden, die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union anzupassen - dieser Vertrag, das sage ich Ihnen voraus, wird für lange Zeit der letzte Versuch sein, die europäische Architektur zu definieren -, sollten wir uns Mühe geben und ein Werk abliefern, das nicht mit Mängeln behaftet ist. Das bedeutet nicht, dass das Werk insgesamt in Frage gestellt wird. Ganz und gar nicht.

    Koczian: Letzte Frage: Sozialpsychologische Untersuchungen sehen die Prävalenz des Nationalstaatlichen darin begründet, dass man der Nation die Umverteilungskompetenz zutraut, also die Fähigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich erträglich zu gestalten. Eben dies tut aber auch die EU zum Beispiel mit den Regionalfonds, ohne davon im Sinne der Identifikation zu profitieren, also europäische Identität zu fördern. Woran liegt es? Nettozahler jammern ja ständig und Empfänger sprechen nicht darüber.

    Verheugen: Das ist wirklich wahr. Sehr oft passiert es mir, dass ich auf große Infrastrukturprojekte stoße, die von Europa finanziert werden, ohne dass ein Mensch in der Region weiß, dass Europa das finanziert hat. Einmal müssten wir vielleicht etwas mehr den Grundsatz beherzigen: "Tu nicht nur Gutes, sondern rede auch darüber", zum anderen sollte doch etwas stärker beleuchtet werden, dass die europäische Kohäsionspolitik oder auch die Politik europäischer, zwischenstaatlicher Solidarität, nicht klassische Sozialpolitik ist, sondern sie ist eine Politik, die ganz im eigenen Interesse, auch der reichen Mitgliedsländer liegt. Ich erinnere mich an ein großes Wort von Willy Brandt, glaube ich, der gesagt hat: "Wir dürfen nicht glauben, dass es uns auf Dauer gut geht, wenn es unseren Nachbarn nicht gut geht". Genau so ist es. Die reichen Länder in der Europäischen Union profitieren langfristig davon, wenn es an ihren Rändern keine Armutsinseln gibt, sondern wenn auch an ihren Rändern prosperierende Volkswirtschaften entstehen. Das ist vernünftig, das ist sinnvoll, und das läuft übrigens auch erfolgreich. Irland zum Beispiel ist eine Erfolgsstory ohnegleichen. Das gleiche gilt für Portugal und Griechenland. Es wird auch gelten für die zehn neuen Mitgliedsländer, die ja alle von Anfang an Nettoempfänger sein werden. Mein Eindruck ist aber, dass in den neuen Mitgliedsländern dieser Gedanke etwas stärker verwurzelt ist und die Menschen da sehr genau wissen, dass wir bereit sind, ihnen zu helfen.

    Koczian: In den Informationen am Morgen hörten Sie EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. Danke nach Berlin.

    Verheugen: Vielen Dank.