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EU-Kommissionspräsidentin Von der Leyen
"Wir erleben einen externen Schock durch das Coronavirus"

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) will den EU-Staaten "maximale Beinfreiheit" ermöglichen, um ihren Unternehmen durch die Coronakrise zu helfen. Die EU werde etwa Verschuldungsregeln lockern, sagte sie im Dlf. Beim Thema Grenzschließungen hätten die EU-Staaten ihre Lektion gelernt.

Ursula von der Leyen im Gespräch mit Christoph Heinemann | 20.03.2020
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) spricht bei einer Pressekonferenz in Brüssel
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU (picture alliance/ EU/ XinHua)
Die Unternehmen seien unverschuldet in die aktuelle Notlage geraten, betonte von der Leyen (CDU). "Die sind eigentlich gesund." Die Nationalstaaten müssten deshalb der Wirtschaft eine Brücke bilden zu der Zeit nach der Bewältigung der Virus-Ausbreitung. "Wenn wir das Virus erfolgreich bekämpft haben, brauchen wir all diese Unternehmen, die wir jetzt stützen." Gingen die Unternehmen dagegen in Massen pleite, werde es später um ein Vielfaches schwieriger sein, aus der Krise wieder herauszukommen, so von der Leyen.
Die EU werde daher nun großzügig sein und unter anderem die Verschuldungsregeln für die EU-Staaten lockern. Generell gelte, dass alle Instrumente und Mittel zur Krisenbewältigung geprüft würden: "Was hilft, wird eingesetzt." Auch "Corona-Bonds" seien eine Option.
Mit Blick auf die Entscheidung einzelner EU-Mitgliedsstaaten, ihre nationalen Grenzen zu schließen, sagte die EU-Kommissionspräsidentin, der Warenfluss innerhalb Europas müsse aufrecht erhalten werden. "Ich verstehe den Reflex - aber wenn man wahllos Grenze schießt, schneidet man unseren Wirtschaftskreislauf ab." Sie habe deutlich gemacht, dass das so nicht gehe. Inzwischen hätten die Länder ihre Lektion gelernt.
Im Deutschlandfunk-Interview bezog die EU-Kommissionspräsidentin auch Stellung zu den Verhandlungen über ein Brexit-Folgeabkommen mit der britischen Regierung.
Christoph Heinemann: Frau von der Leyen, könnte die Europäische Union an Corona scheitern?
Ursula von der Leyen: Wir stemmen uns mit ganzer Kraft dagegen und mobilisieren auch alles, was Europa an Möglichkeiten hat – insbesondere auf diesen beiden Feldern, dem Feld der Gesundheit und der Wirtschaft. Bei der Wirtschaft ist es so, oder wir erleben ja gerade das Dilemma: Um das Virus zu bekämpfen, müssen wir das öffentliche Leben soweit runterfahren wie irgendwie möglich. Aber das schadet natürlich massiv unserer Wirtschaft. Auf diesen beiden Feldern gilt es, mit aller Kraft alles einzusetzen, was wir haben, um die Wirtschaft in Gang zu halten und gleichzeitig den Gesundheitsschutz für die Bevölkerung zu ermöglichen.
"Unternehmen sind ja an sich gesund"
Heinemann: Bleiben wir bei der Wirtschaft. Für 750 Milliarden Euro will die Europäische Zentralbank unter anderem Staatsanleihen aufkaufen. Werden jetzt weiter Staatsdefizite finanziert?
von der Leyen: Die Situation ist ja so: Dadurch, dass das öffentliche Leben quasi lahmgelegt ist und unzählige Betriebe keinerlei Aufträge mehr kriegen, Menschen auch kaum noch konsumieren - der gesamte Unterhaltungssektor, Transport, Tourismus; ich brauche ja nur einige Stichworte zu nennen -, dadurch erleben wir einen externen Schock durch das Virus, dass nicht verschuldet Unternehmen in eine Notlage geraten. Die sind ja an sich gesund.
Und es gibt ein zweites: Normalerweise auf der europäischen Ebene ist Europa die Schiedsrichterin für ganz strenge Wettbewerbsregeln. Wir haben Strukturfonds, wir haben Verschuldungsregeln, die sehr hart und streng sind. Was müssen wir jetzt machen? Jetzt müssen wir den Mitgliedsstaaten ermöglichen, maximale Beinfreiheit zu haben, um gezielt diesen Unternehmen, die jetzt in der Krise sind, helfen zu können. Das heißt, wir geben ihnen sehr viel Freiheit bei Staatsbeihilfen. Wir sind sehr viel großzügiger jetzt bei den Verschuldungsregeln. Jetzt müssen die Staaten Geld in ihre Wirtschaft pumpen. Wir haben selber einen großen milliardenschweren Strukturfonds für Investitionen aufgelegt, so dass die Mitgliedsstaaten in den Arbeitsmarkt, in die Unternehmen hinein Direktkredite geben können. Und wie Sie eben sagten: Die EZB setzt ihre ganze maximale Kraft auch ein.
Dahinter steht der Gedanke, dass jetzt die Nationalstaaten diesen Unternehmen diese Brücke bilden müssen bis zu der Zeit, wo das öffentliche Leben wieder angekurbelt wird und sie wieder die Aufträge kriegen. Das sind gesunde Unternehmen. Die müssen wir halten, damit wir wieder aus der Krise dann auch stark rauskommen.
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Corona Bonds - "Was hilft, wird eingesetzt"
Heinemann: Es geht vor allen Dingen auch um die Finanzierung von Staatspapieren oder Anleihen. Befürworten Sie, befürwortet die Europäische Kommission Corona-Bonds, gemeinsame Ausgaben von Anleihen der Euroländer?
von der Leyen: Schauen Sie, das Prinzip ist jetzt, wir gucken alle Instrumente an, und das, was hilft, wird eingesetzt. Das gilt auch für Corona-Bonds. Wenn sie helfen, wenn sie richtig strukturiert sind, werden sie eingesetzt. Das gleiche gilt jetzt für die Verschuldensregeln. Wir lockern sie so weit, dass die Staaten alle Möglichkeiten haben, Finanzmittel einzusetzen, um ihre Wirtschaft zu stärken.
Was ist der logische Gedanke dahinter? Wir werden alle leiden unter dieser Wirtschaftskrise. Aber wenn das Virus erfolgreich bekämpft ist und wir wieder auf dem Aufwärtsweg sind, dann brauchen wir all diese Unternehmen, die wir jetzt stützen, um wieder Wirtschaftskraft auch zu erlangen. Wenn wir jetzt das abwürgen, wenn die Unternehmen in eine Massenpleite gehen, wenn Massenarbeitslosigkeit entsteht, dann wird es um ein Vielfaches schwerer sein, aus dieser tiefen Krise wieder rauszukommen. Deshalb ist es jetzt richtig, flexibel zu sein, großzügig zu sein, alles einzusetzen, um unsere gesunden Unternehmen zu stützen und die Menschen in Arbeit zu halten. Das ist das Prinzip auch der Kurzarbeit. Alles richtig.
Heinemann: Das heißt, Sie schließen nicht aus, dass die Euro-Bonds, die ja bisher verhindert wurden, jetzt virusbedingt unter anderem Namen kommen werden?
von der Leyen: Ich mag nicht gern diese Vermischung von zwei Feldern, sondern man muss fragen, wofür werden sie strukturiert und wie werden sie eingesetzt. Das sind Themen, mit denen wir jetzt, die europäischen Institutionen, in diesen Tagen zusammensitzen. Ich sage es noch mal: Wir gucken alles an. Alles das, was in dieser Krise hilft, wird eingesetzt, weil wir stützen unsere Wirtschaft ohne Wenn und Aber.
Heinemann: Frau von der Leyen, die Bilder von langen Staus an der deutsch-polnischen Grenze wirken bis in den Mittelstand. Wir haben heute vor sieben Uhr ein Gespräch mit Gereon Schäfer gesendet. Er ist Inhaber des Unternehmens Geukes GmbH Maschinenbau in Bocholt. Er sorgt sich um die Lieferkette.
O-Ton Gereon Schäfer: "Für Warenströme müsste man auf jeden Fall die Grenzabwicklung so einfach wie möglich machen. Das wird ja auch überall betont, dass der Strom von Waren dadurch nicht behindert werden soll. Allein die Staus an den Grenzen zeigen, dass das nicht alles realisiert werden kann."
"Wahllose Grenzschließungen schneiden Wirtschaftskreislauf ab"
Heinemann: Wir haben in den Nachrichten gemeldet, dass sich diese Staus inzwischen aufgelöst haben. Kann man garantieren, dass diese Verzögerungen endgültig beendet werden?
von der Leyen: Ich glaube, die Mitgliedsstaaten haben da ihre Lektionen gelernt. Am Anfang hat jeder das gemacht, was er für richtig hielt, und einfach die nationalen Grenzen geschlossen in Schengen. Das war ausgesprochen schwierig, weil ich verstehe ja den Reflex, dass man die eigene Bevölkerung auf dem Sektor der Gesundheit schützen möchte. Das ist völlig richtig. Aber wenn man dann so wahllos die Grenzen schließt und gar nichts mehr durchgeht, schneiden wir förmlich unseren Wirtschaftskreislauf ab und machen schwere Schäden.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel für die Schutzbekleidung. Die wird zum Beispiel teilweise hergestellt in Großbritannien. Die Verteilzentren sind in Deutschland. Die Diagnose-Kits werden in Italien hergestellt. Jetzt kann sich jeder vorstellen, wenn wir da die Warenströme unterbrechen, was das bedeutet innerhalb Europas, und das gilt für jedes Gut, was hergestellt wird. Wir haben deshalb sehr intensiv mit den Mitgliedsstaaten gearbeitet und deutlich gemacht, dass das so nicht geht. Die Außengrenzen haben wir gemeinsam jetzt geschützt, damit nicht mehr Menschen nach Europa kommen, die sich infizieren können und dann das Gesundheitssystem weiter belasten, aber innerhalb Europas muss der Warenfluss aufrecht erhalten sein. Wir haben Vorfahrtslinien eingerichtet. Wir haben mit Satellitenbildern den Staaten auch gezeigt, was sie sich selber antun, indem sie sich selber wirtschaftlich auch abschneiden. Jetzt geht es langsam besser, aber ich glaube, das ist auch eine Lektion, die jetzt gelernt worden ist. Nur gemeinsam bewältigen wir dieses Virus.
Heinemann: Was funktioniert denn im Augenblick gemeinsam?
von der Leyen: Im Augenblick funktioniert gut gemeinsam, jetzt nur mit Blick auf die Virusbekämpfung, dass wir gemeinsam einkaufen, Schutzbekleidung weltweit und Beatmungsgeräte zum Beispiel und andere medizinische Geräte, die wir dringend brauchen. Da ist von Vorteil die Wirtschafts- und Kaufkraft, die die gesamte Europäische Union zusammen hat. Ich habe mit meinem Kommissar für den Binnenmarkt Kontakt aufgenommen mit allen Firmen, die herstellen, und gebeten, deutlich die Produktion heraufzufahren, fragen auch natürlich, wo können wir euch entlasten. Wir haben andere Firmen gebeten, ihre Produktionsstraßen umzustellen und jetzt nur noch dieses medizinische Material herzustellen.
Sehr gut funktioniert jetzt auch die Zusammenarbeit mit China. Ich habe vorgestern mit dem Premier telefoniert. Er hat sich sehr wohl erinnert, dass im Januar – dort hatten wir unser erstes Telefonat wegen Corona – die Europäische Union sofort über 50 Tonnen Material nach China geschickt hat, und er sagt zurecht, jetzt ist es an uns, euch zu helfen. Das heißt, wir haben jetzt auch die Produktionswege aufgemacht nach China und können dort auch weiter einkaufen. Dies alles, was ich jetzt geschildert habe, funktioniert gut mit der europäischen gemeinsamen Einkaufskraft.
Das Wirtschaftliche haben wir eben durchgesprochen und wie gesagt, im Binnenmarkt diesen Druck auch durchzusetzen, dass der Binnenmarkt wieder funktioniert. Das geht nur gemeinsam von der europäischen Ebene her.
"Beim gemeinsamen Einkauf die Marktmacht herstellen"
Heinemann: Frau von der Leyen, die Kommission möchte einen strategischen Vorrat für die Corona-Bekämpfung anlegen. Deutschland, so ist jetzt zu lesen, macht dabei offenbar nicht mit. Wie solidarisch verhält sich Berlin in der Krise?
von der Leyen: Ich habe große Solidarität und Zusammenarbeit mit Deutschland in meiner täglichen Erfahrung. Es sind ja Tausende von Themen und Problemen, die wir jeden Tag gemeinsam auch bewältigen. Hier wollte ich vor allen Dingen beim gemeinsamen Einkauf die Marktmacht herstellen. Wir haben 24 Mitgliedsstaaten, die dafür sehr dankbar sind. Stellen Sie sich kleinere Mitgliedsstaaten am Weltmarkt vor; die haben kaum eine Chance. Aber die Europäische Union, das ist kraftvoll, da können wir auch was durchsetzen.
Heinemann: Wenn alle mittäten!
von der Leyen: Ja, gut. Das sind schon sehr, sehr viele, wenn man sich überlegt, 24 Mitgliedsstaaten. Das ist im Interesse ja der Mitgliedsstaaten selber. – Was wir nicht unterschätzen sollen: Weltweit ist die Nachfrage hoch. Deshalb ist es für uns auch so wichtig, dass wir gezielt mit Firmen gesprochen haben, zum Beispiel Bekleidungsfirmen, dass die jetzt ihre Produktion umstellen und Schutzkleidung herstellen, ganz gezielt auch das Angebot erhöhen.
Heinemann: Nun ist auch noch Michel Barnier positiv getestet worden. Was bedeutet das jetzt für die Verhandlungen über ein Brexit-Folgeabkommen mit der britischen Regierung?
von der Leyen: Die Verhandlungen gehen weiter. Michel Barnier ist ohne jegliche Symptome. Er ist zuhause. Wir haben die üblichen Isolationsmaßnahmen ergriffen. Das gilt auch für sein Team. Aber wir alle arbeiten jetzt inzwischen mit Videokonferenzen. Ich habe zum Beispiel jeden Morgen um neun alle meine wichtigsten Kommissarinnen und Kommissare. Da geht es um die Gesundheitskommissarin, die Kommissarin für den Binnenmarkt, für die Innengrenzen, den Kommissar für den Binnenmarkt, für die Finanzen. Das funktioniert. Wir haben vor wenigen Tagen G7 per Videokonferenz gemacht. Das heißt, die modernen Kommunikationsmittel, die nutzen wir jetzt allesamt intensiv. Das muss weitergehen, sowohl die Verhandlungen für den Brexit, aber vor allen Dingen auch hier innerhalb der Europäischen Union die Problemlösungen und die Arbeit für den Weg aus dieser Krise heraus in angemessener Zeit. Das muss alles nahtlos weitergehen.
"Britische Regierung muss selber entscheiden"
Heinemann: Angemessene Zeit. Rechnen Sie damit, dass die Regierung Johnson die Verhandlungsfrist verlängern wird?
von der Leyen: Das muss die Regierung von Boris Johnson selber entscheiden. Wir sind hier in der stärkeren Position. Wir haben einen gewaltigen Binnenmarkt und es ist im Interesse der Briten, an diesem Binnenmarkt teilzunehmen. Wir haben da bestimmte Regeln. Wir sind verhandlungsbereit, das ist ganz wichtig. Wir machen mit aller Kraft weiter, wie gesagt auch über die Videokonferenzen geht das. Wir sind offen für Gespräche, aber die Entscheidung muss die Regierung von Boris Johnson selber fällen.
Heinemann: Frau von der Leyen, hat irgendjemand in Brüssel in diesen zugegeben sehr schwierigen Zeiten noch die Migrantinnen und Migranten im Blick, die in Griechenland unter unmenschlichen Bedingungen leben?
von der Leyen: Ja, selbstverständlich! Denn Sie wissen – ich glaube, es ist jetzt 14 Tage her -, dass wir mit aller Kraft uns darum bemüht haben, an der griechisch-türkischen Grenze erstens das enorme Konfliktpotenzial wieder zu deeskalieren und für die Menschen, die dort gefangen waren, Lösungen zu finden. Und der zweite Blick natürlich auf die Inseln. Hier haben wir – Sie wissen das – letzte Woche dafür gesorgt, dass unbegleitete Jugendliche zunächst einmal von den Inseln auf die Mitgliedsländer verteilt werden. Aber wichtiger ist – und da ist die Kommissarin sehr intensiv mit den griechischen Behörden vor Ort beschäftigt -, dass wir alles tun, um die Verhältnisse auf den Inseln zu entlasten, zu verbessern und vor allen Dingen Vorsorge zu betreiben, falls das Corona-Virus dort ankommt. Und wir wissen aus Erfahrung, es ist eine Frage der Zeit. Es ist keine Frage ob, sondern es ist eher eine Frage wann, und deshalb – und das tun wir – bereiten wir uns jetzt darauf vor. Das ist sehr schwer, mit großen Problemen behaftet, weil viel zu viele Menschen auf viel zu engem Raum dort leben. Nichts desto trotz: Wir müssen uns diesem Thema stellen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.