Ferrero-Waldner: Ich glaube, zuerst einmal muss man diesen Schritt enorm begrüßen. Es ist wichtig, dass hier die Regierung sich jetzt auf die Bildung einer neuen Regierung der nationalen Einheit geeinigt hat. Aber ich sage, es ist natürlich damit die Situation noch nicht endgültig entschärft, sondern ich glaube, das ist ein guter Schritt auf diesem Weg.
Gerner: Wo bleiben die Risiken aus Ihrer Sicht?
Ferrero-Waldner: Die Risiken sind klar immer noch die albanischen Extremisten, die es natürlich gibt. Die Frage ist immer noch die, wie weit können sie Mitglieder der albanischen Minderheit weiter für sich gewinnen und solidarisieren.
Gerner: Die UCK will weiter wie eine Hydra, hat sie angekündigt, vom Kosovo-Gebiet aus militärisch vorstoßen. Angesichts dessen gibt es erste Stimmen, die eine Ausweitung des KFOR-Mandates auf Mazedonien vorschlagen. Schließen Sie das aus?
Ferrero-Waldner: Ausschließen sollte man gar nichts, aber ich glaube, es ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Ich glaube derzeit sind wir froh, dass einmal das gelungen ist. Das war sicher jetzt ein schöner Verhandlungserfolg für Solana, dem ich hier auch wirklich ausdrücklich Lob aussprechen möchte. Ich habe aber in früheren Statements wie Sie wissen darauf hingewiesen, dass diese Gefahr besteht und dass man hier nicht leichtfertig mit diesen schwierigen Fragen umgehen sollte. Ich glaube aber auch, dass es für uns sehr, sehr wesentlich sein wird, Mazedonien die europäische Perspektive wieder vor Augen zu führen. Wir haben doch kürzlich erst das Stabilisations- und Assoziationsabkommen unterschrieben. Gleichzeitig glaube ich müssen eben auch die ethnischen Fragen angesprochen werden. Das ist eine große Chance!
Gerner: Sie haben es eben selbst angedeutet: bei der Gleichberechtigung der albanischen Minderheit, immerhin ein Drittel in Mazedonien, ist noch nicht genug geschehen. Was steht noch aus? Was muss die Regierung in Skopje noch leisten?
Ferrero-Waldner: Ich glaube, hier muss es zu einer Stärkung der individuellen Bürgerrechte kommen. Hier ist einfach sehr, sehr viel noch nicht umgesetzt. Schauen Sie, es können zum Beispiel nicht einmal alle albanischen Mazedonier Polizisten werden. Es sind hier eine ganze Reihe von Dingen, die im normalen Leben ihren Niederschlag finden. Ich glaube, es muss einfach so sein, dass Mazedonien ein Staat wird, der aus slawischen Mazedoniern und albanischen Mazedoniern besteht. Das sollte auch in der Form einer Präambel zum Beispiel in der Verfassung aufgenommen sein.
Gerner: Frau Ferrero-Waldner, warum rebelliert Ihrer Meinung nach die UCK auf mazedonischem Gebiet? Ist es mit dem Hintergedanken, das Kosovo endgültig von Serbien zu lösen?
Ferrero-Waldner: Jedenfalls habe ich jetzt nicht mit den Terroristen gesprochen. Das kann ich Ihnen daher nicht sagen. Aber ich glaube, man versucht hier klar die Lage zu nützen, die derzeit eben für die Albaner noch nicht befriedigend ist. Daher glaube ich kann man den Extremisten nur den Boden unter den Füßen entziehen, wenn man die ethnischen Albaner sozusagen gleichberechtigt.
Gerner: Erschwert das Pulverfass Balkan die ohnehin schon schwere Osterweiterung?
Ferrero-Waldner: Das glaube ich nicht. Ich glaube, die Erweiterung - ich nenne sie lieber Erweiterung als Osterweiterung, weil sie eine Erweiterung in alle Richtungen ist - ist ein ganz wichtiges Projekt der Europäischen Union, wird auch kommen und ist auch für mich die erste Priorität.
Gerner: Erlauben Sie mir, meinerseits bei dem Begriff EU-Osterweiterung zu bleiben. Das bringt die EU dieser Tage ja sichtlich ins Schwitzen. EU-Kommissar Verheugen sieht wachsende Widerstände wie er sagt. Wer oder was ist verantwortlich dafür, dass das skeptische Klima in den vergangenen Wochen sich in der öffentlichen Meinung vieler Länder breit macht?
Ferrero-Waldner: Ich denke, in vielen Ländern kommt man jetzt erst darauf, dass wir in einem echten Verhandlungsprozess sind und dass hier natürlich auch Kompromisse eingegangen werden müssen.
Gerner: Aber zum Beispiel zu dieser Übergangsfrist von sieben Jahren sagt der polnische Außenminister Bartoszewski, das mache die Polen zu europäischen Bürgern zweiter Klasse?
Ferrero-Waldner: Das stimmt nicht, denn die Polen selber verlangen alleine über 60 Übergangsregelungen und haben zum Beispiel für den Grundverkehr im ländlichen Bereich 18 Jahre Übergangszeit verlangt. Wenn man selber so etwas verlangt, dann kann man eigentlich nicht sagen, dass man Bürger zweiter Klasse sein wird, wenn zwei Länder, Deutschland und Österreich, die hier besonders berührt und betroffen sind, Übergangsfristen von sieben Jahren fordern, die ohnehin flexibel angewandt werden können.
Gerner: Eine deutsche Sorge ist auch, dass zuhauf billige Arbeitskräfte auf den Markt kommen können und sich somit die Arbeitslosigkeit in Deutschland vergrößert. Ist diese Sorge begründet?
Ferrero-Waldner: Ich denke, es ist zumindest eine Migrationsbewegung möglich, denn gerade beispielsweise die Polen sind relativ mobil. Das haben auch viele Studien gezeigt. Ich glaube, man muss deshalb eben vorsichtig und behutsam diese Öffnung durchführen. Wir wollen ja etwas erreichen. Wir wollen, dass die Erweiterung für alle eine Erfolgsstory wird. Das sollten letzt auch die Beitragskandidatenländer erkennen.
Gerner: Glauben Sie, dass es dann noch im Sinne Ihrer österreichischen Koalition schwierig werden könnte, den Herrn Heider an der Leine zu halten?
Ferrero-Waldner: Das glaube ich überhaupt nicht, denn es steht ganz klar bei uns im Regierungsübereinkommen, dass wir positiv zur Erweiterung stehen, unter Berücksichtigung einer Reihe von Problemfragen, die eben von uns auch abgearbeitet werden müssen. Das ist nicht eine Sache von Herrn Heider, sondern das ist eine Sache aller Österreicher.
Gerner: Österreichs Außenministerin Benita Ferrero-Waldner war das im Gespräch, und jetzt ist am Telefon Janos Martonyi, Außenminister von Ungarn. Schönen guten Morgen!
Martonyi: Guten Morgen!
Gerner: Herr Martonyi, es gibt in den letzten Wochen einen zunehmend skeptischeren Ton in der Diskussion um die NATO-Osterweiterung in den Mitgliedsstaaten der EU. Beunruhigt Sie das?
Martonyi: Ich habe das nicht bemerkt. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Ich habe vielleicht das Gegenteil festgestellt. Ich habe beispielsweise die Meinungsumfrage innerhalb der deutschen Zeitschriften gelesen, wonach etwa 80 Prozent aller deutschen Befragten den Betritt der Ungarn unterstützen. Wie könnte ich also mehr verlangen? Wenn also 80 Prozent der Deutschen unseren Beitritt unterstützen so bedeutet dies, dass die öffentliche Meinung vollkommen hinter uns steht und auch die Mehrheit der öffentlichen Meinung in den anderen Mitgliedsstaaten den Beitritt unterstützt.
Gerner: Wie stehen Sie denn zur Frage der Übergangsregelung? Ich hatte eben schon Ihren polnischen Amtskollegen Bartoszewski angesprochen. Der sieht durch die fünf bis sieben Jahre, die es dauern soll, bis Arbeitnehmer aus Osteuropa ungehindert auf den jetzigen EU-Arbeitsmarkt kommen können, seine Mitbürger als Menschen zweiter Klasse. Können Sie das nachvollziehen? Können Sie dem zustimmen?
Martonyi: Wir waren ja immer der Meinung, dass es was Ungarn anbelangt nicht nötig und unbegründet wäre, vorläufige Maßnahmen auf diesem Gebiet anzuwenden. Wir haben jedoch auch immer gesagt, dass wir bereit sind, darüber zu verhandeln. Wir wollen auch die Schwierigkeiten unserer Freunde, also gewisser Mitgliedsstaaten verstehen. Wir hoffen natürlich auch darauf, dass unsere Freunde unsere Probleme verstehen werden. Ich muss aber nochmals betonen: es gibt noch keine gemeinsame Position, was die Freizügigkeit von Arbeitskraft anbelangt. Wir warten noch immer darauf. Wenn diese vorhanden sein wird, dann werden wir darüber verhandeln.
Gerner: Aber mit fünf bis sieben Jahren haben Sie keine Probleme?
Martonyi: Wir haben Probleme mit diesem Entwurf. Das ist also gar nicht unserer Standpunkt, was in diesem Entwurf der Kommission steht. Ich muss immer wieder betonen, dass es bezüglich Ungarn unbegründet und unnötig wäre, vorläufige Maßnahmen überhaupt anzuwenden.
Gerner: Dahinter steckt ja eine Sorge, auch eine Sorge nicht weniger Deutscher bis hin in Regierungskreise, dass massive Arbeitswanderung von Arbeitnehmern aus Osteuropa in den Westen stattfinden könnte. Halten Sie diese Sorge für begründet?
Martonyi: Diese Sorgen sind unbegründet, und zwar nicht nur unseres Erachtens, sondern auch laut der Beurteilung unserer deutschen Freunde. Man hat ja schon vielmals gesagt, was Ungarn anbelangt, dass diese Ängste nicht begründet sind. Es handelt sich vielleicht um ein psychologisches Phänomen. Man muss das ja auch ernst nehmen. Dem stimme ich zu. Aber laut aller möglichen Studien und Analysen wurde schon festgestellt, dass im Falle Ungarns diese Angst keine Begründung hat.
Gerner: Das heißt auch Ihre Arbeitnehmer in Ungarn würden eher auf dem heimischen Arbeitsmarkt bleiben, auch bei der EU-Osterweiterung? Dort gibt es genug Arbeit?
Martonyi: Selbstverständlich brauchen wir Arbeitskräfte. Wir haben eine Wachstumsrate zwischen fünf und sechs Prozent im vierten oder fünften Jahre. Die ungarische Wirtschaft entwickelt sich ganz rasch. Leider sind unsere demographischen Daten ziemlich schlecht, wie allerdings auch in Deutschland. Wir rechnen damit, dass wir in ein paar Jahren wie in gewissen Gebieten schon jetzt Arbeitskräfte benötigen. Dazu kommt auch noch, dass die ungarischen Arbeitnehmer ganz wenig mobil sind. Es ist sehr schwer, sie zu überzeugen, zum Beispiel von Ostungarn nach Westungarn zu gehen. Mit Rücksicht auf all diese Faktoren glaube ich, dass diese Angst keine Begründung hat.
Gerner: Harr Martonyi, wann will Ungarn in die EU?
Martonyi: Wir haben ein Ziel. Wir werden am Ende 2002 vollkommen fertig sein, was unsere Vorbereitung anbelangt. Wir wollen am 1. Januar 2003 Mitglied der Union werden.
Gerner: Das ist sehr optimistisch gerechnet?
Martonyi: Man kann darüber diskutieren, ob es wahrscheinlich ist oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist vielleicht eine andere Frage. Es scheint mir mehr wahrscheinlich zu sein, dass Ungarn am 1. Januar 2004 Mitglied der Union sein wird.
Gerner: Janos Martonyi war das, Außenminister von Ungarn, zur EU-Erweiterungsdebatte. - Haben Sie herzlichen Dank nach Budapest!
Link: Interview als RealAudio
Gerner: Wo bleiben die Risiken aus Ihrer Sicht?
Ferrero-Waldner: Die Risiken sind klar immer noch die albanischen Extremisten, die es natürlich gibt. Die Frage ist immer noch die, wie weit können sie Mitglieder der albanischen Minderheit weiter für sich gewinnen und solidarisieren.
Gerner: Die UCK will weiter wie eine Hydra, hat sie angekündigt, vom Kosovo-Gebiet aus militärisch vorstoßen. Angesichts dessen gibt es erste Stimmen, die eine Ausweitung des KFOR-Mandates auf Mazedonien vorschlagen. Schließen Sie das aus?
Ferrero-Waldner: Ausschließen sollte man gar nichts, aber ich glaube, es ist der Zeitpunkt noch nicht gekommen. Ich glaube derzeit sind wir froh, dass einmal das gelungen ist. Das war sicher jetzt ein schöner Verhandlungserfolg für Solana, dem ich hier auch wirklich ausdrücklich Lob aussprechen möchte. Ich habe aber in früheren Statements wie Sie wissen darauf hingewiesen, dass diese Gefahr besteht und dass man hier nicht leichtfertig mit diesen schwierigen Fragen umgehen sollte. Ich glaube aber auch, dass es für uns sehr, sehr wesentlich sein wird, Mazedonien die europäische Perspektive wieder vor Augen zu führen. Wir haben doch kürzlich erst das Stabilisations- und Assoziationsabkommen unterschrieben. Gleichzeitig glaube ich müssen eben auch die ethnischen Fragen angesprochen werden. Das ist eine große Chance!
Gerner: Sie haben es eben selbst angedeutet: bei der Gleichberechtigung der albanischen Minderheit, immerhin ein Drittel in Mazedonien, ist noch nicht genug geschehen. Was steht noch aus? Was muss die Regierung in Skopje noch leisten?
Ferrero-Waldner: Ich glaube, hier muss es zu einer Stärkung der individuellen Bürgerrechte kommen. Hier ist einfach sehr, sehr viel noch nicht umgesetzt. Schauen Sie, es können zum Beispiel nicht einmal alle albanischen Mazedonier Polizisten werden. Es sind hier eine ganze Reihe von Dingen, die im normalen Leben ihren Niederschlag finden. Ich glaube, es muss einfach so sein, dass Mazedonien ein Staat wird, der aus slawischen Mazedoniern und albanischen Mazedoniern besteht. Das sollte auch in der Form einer Präambel zum Beispiel in der Verfassung aufgenommen sein.
Gerner: Frau Ferrero-Waldner, warum rebelliert Ihrer Meinung nach die UCK auf mazedonischem Gebiet? Ist es mit dem Hintergedanken, das Kosovo endgültig von Serbien zu lösen?
Ferrero-Waldner: Jedenfalls habe ich jetzt nicht mit den Terroristen gesprochen. Das kann ich Ihnen daher nicht sagen. Aber ich glaube, man versucht hier klar die Lage zu nützen, die derzeit eben für die Albaner noch nicht befriedigend ist. Daher glaube ich kann man den Extremisten nur den Boden unter den Füßen entziehen, wenn man die ethnischen Albaner sozusagen gleichberechtigt.
Gerner: Erschwert das Pulverfass Balkan die ohnehin schon schwere Osterweiterung?
Ferrero-Waldner: Das glaube ich nicht. Ich glaube, die Erweiterung - ich nenne sie lieber Erweiterung als Osterweiterung, weil sie eine Erweiterung in alle Richtungen ist - ist ein ganz wichtiges Projekt der Europäischen Union, wird auch kommen und ist auch für mich die erste Priorität.
Gerner: Erlauben Sie mir, meinerseits bei dem Begriff EU-Osterweiterung zu bleiben. Das bringt die EU dieser Tage ja sichtlich ins Schwitzen. EU-Kommissar Verheugen sieht wachsende Widerstände wie er sagt. Wer oder was ist verantwortlich dafür, dass das skeptische Klima in den vergangenen Wochen sich in der öffentlichen Meinung vieler Länder breit macht?
Ferrero-Waldner: Ich denke, in vielen Ländern kommt man jetzt erst darauf, dass wir in einem echten Verhandlungsprozess sind und dass hier natürlich auch Kompromisse eingegangen werden müssen.
Gerner: Aber zum Beispiel zu dieser Übergangsfrist von sieben Jahren sagt der polnische Außenminister Bartoszewski, das mache die Polen zu europäischen Bürgern zweiter Klasse?
Ferrero-Waldner: Das stimmt nicht, denn die Polen selber verlangen alleine über 60 Übergangsregelungen und haben zum Beispiel für den Grundverkehr im ländlichen Bereich 18 Jahre Übergangszeit verlangt. Wenn man selber so etwas verlangt, dann kann man eigentlich nicht sagen, dass man Bürger zweiter Klasse sein wird, wenn zwei Länder, Deutschland und Österreich, die hier besonders berührt und betroffen sind, Übergangsfristen von sieben Jahren fordern, die ohnehin flexibel angewandt werden können.
Gerner: Eine deutsche Sorge ist auch, dass zuhauf billige Arbeitskräfte auf den Markt kommen können und sich somit die Arbeitslosigkeit in Deutschland vergrößert. Ist diese Sorge begründet?
Ferrero-Waldner: Ich denke, es ist zumindest eine Migrationsbewegung möglich, denn gerade beispielsweise die Polen sind relativ mobil. Das haben auch viele Studien gezeigt. Ich glaube, man muss deshalb eben vorsichtig und behutsam diese Öffnung durchführen. Wir wollen ja etwas erreichen. Wir wollen, dass die Erweiterung für alle eine Erfolgsstory wird. Das sollten letzt auch die Beitragskandidatenländer erkennen.
Gerner: Glauben Sie, dass es dann noch im Sinne Ihrer österreichischen Koalition schwierig werden könnte, den Herrn Heider an der Leine zu halten?
Ferrero-Waldner: Das glaube ich überhaupt nicht, denn es steht ganz klar bei uns im Regierungsübereinkommen, dass wir positiv zur Erweiterung stehen, unter Berücksichtigung einer Reihe von Problemfragen, die eben von uns auch abgearbeitet werden müssen. Das ist nicht eine Sache von Herrn Heider, sondern das ist eine Sache aller Österreicher.
Gerner: Österreichs Außenministerin Benita Ferrero-Waldner war das im Gespräch, und jetzt ist am Telefon Janos Martonyi, Außenminister von Ungarn. Schönen guten Morgen!
Martonyi: Guten Morgen!
Gerner: Herr Martonyi, es gibt in den letzten Wochen einen zunehmend skeptischeren Ton in der Diskussion um die NATO-Osterweiterung in den Mitgliedsstaaten der EU. Beunruhigt Sie das?
Martonyi: Ich habe das nicht bemerkt. Das muss ich Ihnen ganz ehrlich sagen. Ich habe vielleicht das Gegenteil festgestellt. Ich habe beispielsweise die Meinungsumfrage innerhalb der deutschen Zeitschriften gelesen, wonach etwa 80 Prozent aller deutschen Befragten den Betritt der Ungarn unterstützen. Wie könnte ich also mehr verlangen? Wenn also 80 Prozent der Deutschen unseren Beitritt unterstützen so bedeutet dies, dass die öffentliche Meinung vollkommen hinter uns steht und auch die Mehrheit der öffentlichen Meinung in den anderen Mitgliedsstaaten den Beitritt unterstützt.
Gerner: Wie stehen Sie denn zur Frage der Übergangsregelung? Ich hatte eben schon Ihren polnischen Amtskollegen Bartoszewski angesprochen. Der sieht durch die fünf bis sieben Jahre, die es dauern soll, bis Arbeitnehmer aus Osteuropa ungehindert auf den jetzigen EU-Arbeitsmarkt kommen können, seine Mitbürger als Menschen zweiter Klasse. Können Sie das nachvollziehen? Können Sie dem zustimmen?
Martonyi: Wir waren ja immer der Meinung, dass es was Ungarn anbelangt nicht nötig und unbegründet wäre, vorläufige Maßnahmen auf diesem Gebiet anzuwenden. Wir haben jedoch auch immer gesagt, dass wir bereit sind, darüber zu verhandeln. Wir wollen auch die Schwierigkeiten unserer Freunde, also gewisser Mitgliedsstaaten verstehen. Wir hoffen natürlich auch darauf, dass unsere Freunde unsere Probleme verstehen werden. Ich muss aber nochmals betonen: es gibt noch keine gemeinsame Position, was die Freizügigkeit von Arbeitskraft anbelangt. Wir warten noch immer darauf. Wenn diese vorhanden sein wird, dann werden wir darüber verhandeln.
Gerner: Aber mit fünf bis sieben Jahren haben Sie keine Probleme?
Martonyi: Wir haben Probleme mit diesem Entwurf. Das ist also gar nicht unserer Standpunkt, was in diesem Entwurf der Kommission steht. Ich muss immer wieder betonen, dass es bezüglich Ungarn unbegründet und unnötig wäre, vorläufige Maßnahmen überhaupt anzuwenden.
Gerner: Dahinter steckt ja eine Sorge, auch eine Sorge nicht weniger Deutscher bis hin in Regierungskreise, dass massive Arbeitswanderung von Arbeitnehmern aus Osteuropa in den Westen stattfinden könnte. Halten Sie diese Sorge für begründet?
Martonyi: Diese Sorgen sind unbegründet, und zwar nicht nur unseres Erachtens, sondern auch laut der Beurteilung unserer deutschen Freunde. Man hat ja schon vielmals gesagt, was Ungarn anbelangt, dass diese Ängste nicht begründet sind. Es handelt sich vielleicht um ein psychologisches Phänomen. Man muss das ja auch ernst nehmen. Dem stimme ich zu. Aber laut aller möglichen Studien und Analysen wurde schon festgestellt, dass im Falle Ungarns diese Angst keine Begründung hat.
Gerner: Das heißt auch Ihre Arbeitnehmer in Ungarn würden eher auf dem heimischen Arbeitsmarkt bleiben, auch bei der EU-Osterweiterung? Dort gibt es genug Arbeit?
Martonyi: Selbstverständlich brauchen wir Arbeitskräfte. Wir haben eine Wachstumsrate zwischen fünf und sechs Prozent im vierten oder fünften Jahre. Die ungarische Wirtschaft entwickelt sich ganz rasch. Leider sind unsere demographischen Daten ziemlich schlecht, wie allerdings auch in Deutschland. Wir rechnen damit, dass wir in ein paar Jahren wie in gewissen Gebieten schon jetzt Arbeitskräfte benötigen. Dazu kommt auch noch, dass die ungarischen Arbeitnehmer ganz wenig mobil sind. Es ist sehr schwer, sie zu überzeugen, zum Beispiel von Ostungarn nach Westungarn zu gehen. Mit Rücksicht auf all diese Faktoren glaube ich, dass diese Angst keine Begründung hat.
Gerner: Harr Martonyi, wann will Ungarn in die EU?
Martonyi: Wir haben ein Ziel. Wir werden am Ende 2002 vollkommen fertig sein, was unsere Vorbereitung anbelangt. Wir wollen am 1. Januar 2003 Mitglied der Union werden.
Gerner: Das ist sehr optimistisch gerechnet?
Martonyi: Man kann darüber diskutieren, ob es wahrscheinlich ist oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit ist vielleicht eine andere Frage. Es scheint mir mehr wahrscheinlich zu sein, dass Ungarn am 1. Januar 2004 Mitglied der Union sein wird.
Gerner: Janos Martonyi war das, Außenminister von Ungarn, zur EU-Erweiterungsdebatte. - Haben Sie herzlichen Dank nach Budapest!
Link: Interview als RealAudio