Dienstag, 23. April 2024

Archiv

EU-Parlament
"GroKo ist schädlich für Wettkampf der Argumente"

Eine Große Koalition (GroKo) zwischen der EVP und den Sozialdemokraten im EU-Parlament sei für die europäische Demokratie nicht gut, sagt Ska Keller. Die grüne Co-Spitzenkandidatin sieht zudem die Gefahr, dass eine GroKo keine parlamentarische Debatte mehr zulasse. Den erstarkten Rechtspopulisten im EU-Parlament spricht sie das Interesse an Inhalten ab. Diese betrieben nur Schaufensterpolitik.

Ska Keller im Gespräch mit Annette Riedel | 01.06.2014
    Ska Keller, Spitzenkandidatin der europäischen Grünen
    Ska Keller, Spitzenkandidatin der europäischen Grünen (picture-alliance/dpa/Hauke-Christian Dittrich)
    Annette Riedel: Frau Keller, gab es so etwas wie ein Aha-Erlebnis in Ihrem Dasein als Grünen-Spitzenkandidatin?
    Ska Keller: Ich hatte so ein Aha-Erlebnis, aber erst so drei Tage nach meinem Spitzenkandidatinnen-Dasein, als ich eben zwei Termine hatte mit Medien aus Großbritannien – durchaus etablierten Medien. Da war es für mich total erstaunlich zu sehen, wie die die Debatte sehen. Und zwar wurden da die Euro-Skeptiker hingestellt als diejenigen, die Reformen wollen und alle anderen als die, die Europa so lassen wollen, wie es ist. Und das fand ich sehr erstaunlich. Aber das war so eine Art Aha-Erlebnis von wegen, wie vielleicht manche Menschen die sehen, obwohl ich diese Beschreibung natürlich überhaupt nicht so stehen lassen würde.
    Riedel: Wir kommen zu dem, was Sie sich da vorstellen noch zurück. In der EU ist ja ein offener Machtkampf um die Besetzung des EU-Kommissionspräsidenten zwischen den Regierungen der EU-Länder auf der einen Seite und dem EU-Parlament ausgebrochen. Das EU-Parlament hat sehr schnell entschieden, sich angesichts der Mehrheitsverhältnisse hinter Jean-Claude Juncker zu stellen, den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei, Parteifamilie der deutschen Bundeskanzlerin. Das Parlament will, dass er den ersten Aufschlag gewissermaßen bekommt für den Versuch, sich Mehrheiten zu organisieren. Die Staats- und Regierungschefs sind sich da keineswegs einig, aber sie beharren darauf, dass sie in jedem Fall das Vorschlagsrecht für die Personalie Kommissionspräsident haben. Sie müssen vertragsgemäß zwar erstmals die Wahlergebnisse der Europawahlen vom letzten Wochenende berücksichtigen, der Lissabon-Vertrag, der dem zugrunde liegt, lässt aber offen, wie genau sie das tun sollen. Spitzenkandidaten etwa, kennt der Vertrag nicht. Man kann, Frau Keller, das Verhalten des Parlaments, für Juncker ungefragt ein Verhandlungsmandat zu fordern, ja einerseits als kreative Auslegung Lissabons begreifen oder als mit Lissabon -Recht schlicht nicht vereinbar, als fast eine Art "Putsch" gegen den Rat, also gegen die Staats- und Regierungschefs. Wie sehen Sie es?
    Keller: Ich sehe das genau anders herum. Denn welche Interpretation soll man denn haben von den Verträgen, wo ja genau drin steht, dass die Wahlergebnisse berücksichtigt werden, wenn eben nicht auf diese Art und Weise? Und wenn der Rat jetzt jemanden vorschlagen will, der überhaupt nichts mit dieser Wahl zu tun hatte, dann wäre das ein Putsch gegen Europa. Deswegen, glaube ich, ist es richtig, dass sich das Parlament da auch geschlossen hinstellt und sagt: "Wir müssen dieses Wahlergebnis anerkennen. Es kann nicht sein, dass jetzt jemand vorgeschlagen wird vom Rat, der überhaupt nichts mit der Wahl zu tun hatte." Ja, der Rat hat das Vorschlagsrecht, aber wenn man die Wahl ernst nehmen will, dann gibt es eigentlich nur eine Interpretation.
    Grüne Stimmen nur für grüne Inhalte
    Riedel: Ist das eine Art Präzedenzfall, wie das jetzt läuft? Also muss man dann im Zweifel an irgendeinem Punkt auch die Vertrags-Wirklichkeit der Realität anpassen?
    Keller: Es ist ein Präzedenzfall, ganz klar, aber ich denke eben, dass man den Vertrag eben nur so auslegen kann, dass man das Wahlergebnis eben ernst nehmen muss. Das sollten auch die Staats- und Regierungschefs einsehen. Sie können nicht einfach Europa so machen wie sie wollen, ohne die Millionen von Wählerinnen und Wählern zu berücksichtigen. Deswegen glaube ich, dass der Rat da einfach einsehen muss, dass er ohne das Parlament und ohne die Menschen in Europa nicht weiterkommt.
    Jean-Claude Juncker mit Unterlagen in der Hand.
    Jean Claude Juncker, der Wahlgewinner, erhält das Vortrittsrecht für die Mehrheitssuche im Parlament. (Olivier Hoslet, dpa picture-alliance)
    Riedel: Das ist ja richtig. Auf der anderen Seite muss man dann eben, damit es niemals wieder an dem Punkt überhaupt Überlegungen gibt, es anders zu handhaben, vielleicht so etwas wie Spitzenkandidaten und dass die dann je nach Mehrheitsverhältnis nominiert werden müssen, in den Vertrag hineinschreiben?
    Keller: Ja, bei den nächsten Vertragsreformen müsste man das auf jeden Fall noch mal klarer fassen, wenn es jetzt schon, bei dieser – aus meiner Sicht relativ eindeutigen – Sprachregelung Probleme gibt. Auch so müssten die Verhältnisse eigentlich klar sein. Aber ja, wenn man sich noch mal an die Verträge ranmacht, da gäbe es ja einiges anderes dann auch noch zu reformieren, dann sollte man das sicherlich auch noch klarer machen.
    Riedel: Es ist ja, wenn man mal drauf guckt, eigentlich eine wirklich interessante Konstellation. An Jean-Claude Juncker, der nicht für eine neue, eine andere EU steht, sondern sehr viel mehr für eine Art "Weiter-so-EU" – was man gutheißen kann oder nicht – aber er ausgerechnet ist der Kandidat, um dessen Kür herum sich fast Revolutionäres für eine neue, andere, mächtigere Rolle des Parlaments entwickelt. Das ist ein wirkliches Paradox aus Ihrer Sicht, oder?
    Keller: Ja, absolut. Herr Juncker ist nicht aufgefallen im Wahlkampf als jemand, der wirklich mit Enthusiasmus an die Sache rangeht. Nicht jemand, der große Ideen hat, wie man Europa verändern kann. Aber die Wählerinnen und Wähler haben so entschieden. Deswegen ist es wichtig, dass er jetzt die erste Initiative ergreift und versucht, im Parlament eine Mehrheit zu finden – das ist ja noch nicht ausgemacht, dass er die finden wird.
    Und auch wir würden uns gerne mit Herrn Juncker unterhalten darüber, was sein Programm denn so ist. Und bei uns ist auch ganz klar, dass wir ihn nur unterstützen können, wenn er grüne Programmatik umsetzen will. Grüne Stimmen gibt es nun mal nur für grüne Inhalte. Aber ganz klar hat er das Recht auf Initiative und soll versuchen eine Mehrheit zu finden.
    Riedel: Nun werden die Grünen nicht zwingend gebraucht für seine Wahl oder für die Wahl eines EU-Kommissionspräsidenten. Denn im Grunde geht es eh nur über eine Große Koalition – also die Sozialisten und Sozialdemokraten zusammen mit der Europäischen Volkspartei. Was werden Sie denn, wenn Sie von grünen Inhalten sprechen, von ihm wünschen, verlangen vielleicht sogar?
    Keller: Wenn Herr Juncker auf uns zukommt und unsere Stimmen haben will, dann werden wir darauf achten, was Herr Juncker im Bereich Investitionen in grüne Arbeitsplätze vorschlägt. Es ist ganz klar, dass wir noch tief mitten drin in der Wirtschaftskrise sind, mit 27 Millionen Arbeitslosen in ganz Europa, sehr vielen jungen Arbeitslosen. Und da wollen wir sehen, was er dagegen macht. Ob er auch uns zustimmen würde, dass die Arbeitsplätze, die wir brauchen, eben genau im Bereich der erneuerbaren Energien liegen, in dem Bereich der Energieeffizienz, aber auch bei Bildung und in der Gesundheitsversorgung. Also Sachen, die auch der gesamten Gesellschaft zugutekommen. Ob Herr Juncker sich anstrengen will, gegen den Klimawandel etwas zu unternehmen. Da waren ja seine Vorgänger und auch seine Parteikolleginnen und -kollegen ja nicht sehr progressiv dabei. Wir werden schauen, was Herr Juncker im Bereich des sozialen Europas bewegen will und wie er sich zu dem Handelsabkommen mit den USA verhält. Auch da werden wir stark darauf achten, dass wir unsere Position da ganz deutlich machen.
    Riedel: Da hätten Sie einem Martin Schulz wahrscheinlich leichter zustimmen können?
    Keller: Na ja, wenn Herr Juncker keine Mehrheit findet, dann hat Herr Schulz die nächste Möglichkeit. Aber man muss auch sagen, dass bei den Sozialdemokraten zum Beispiel die Ablehnung des Freihandelsabkommens eher halbherzig ist, beziehungsweise nicht vorhanden. Während Schulz zwar in den Wahlkampfauftritten das Freihandelsabkommen kritisiert hat, hat Herr Gabriel gleichzeitig Promotionsveranstaltungen für das Freihandelsabkommen gemacht.
    Es ist unklar, ob die Sozialdemokraten wirklich in nachhaltiges Wirtschaften investieren wollen oder ob sie weiter machen einfach mit Beton und fossiler Energie. Und ob sie sich wirklich für arbeitslose Jugendliche einsetzen wollen, da schauen wir mal. Also da hätten wir auf jeden Fall auch Kritikpunkte. Aber klar, in den letzten fünf Jahren haben wir durchaus öfter mit den Sozialdemokraten zusammengearbeitet als mit den Konservativen. Deswegen werden wir auch bei Juncker sehr, sehr genau hingucken, was er uns denn anzubieten hat.
    Spitzenkandidatur hat Wahl lebendiger gemacht
    Riedel: Sie waren Spitzenkandidatin für die Grünen. Die Grünen haben knapp sieben Prozent erreicht. Leiten Sie für sich, für Ihre Person, auf irgendeine Position oder in irgendeiner Form Ansprüche aus dieser Tatsache ab, dass Sie Spitzenkandidatin waren?
    Keller: Ich glaube, Spitzenkandidaten war insgesamt eine gute Idee, damit voranzugehen. Ich glaube, es hat die Wahl lebendiger gemacht. Es hat auch die Wahl europäischer gemacht. Als Spitzenkandidatin der Grünen war ich eben in ganz Europa unterwegs und habe dort mit den grünen Parteien in ganz Europa für die Wahl gekämpft. Und ich muss sagen, was ich daraus auch gelernt habe, ist, dass wir halt eine sehr einheitliche Partei sind, dass wir überall in ganz Europa für dieselben Themen und dieselben Botschaften angetreten sind. Das fand ich wirklich wichtig. Ich glaube, da nehmen wir auch Stärke heraus als Grüne, dass wir eben nicht in einem Land A sagen und in einem anderen B, sondern wer Grün wählt, kriegt halt immer dieselben grünen Inhalte. Und ich finde, das macht uns stark. Und das war auch wirklich eine super Erfahrung als Spitzenkandidatin.
    Die Grüne Ska Keller und der Sozialist Tsipras
    Ska Keller im EU-Wahlkampf (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet)
    Riedel: Schöne Antwort, aber nicht die auf meine Frage: "Ob Sie für sich als Person Ansprüche daraus ableiten für Ihre künftige Arbeit im Parlament"?
    Keller: Was ich daraus ableite ist, dass es mir wichtig ist, an dieser gemeinsamen grünen Idee weiter zu arbeiten, auf Veränderungen in Europa zu drängen. Wie wir grüne Inhalte durchsetzen – was nicht einfach sein wird, wenn Sozialdemokraten und Konservative sich zu einer Art "europäischen GroKo" zusammenschließen. Und da werde ich auf jeden Fall mitmischen.
    Riedel: Als Grüne, Frau Keller, als Demokratin und als Pro-Europäerin können Sie aus mindestens drei Gründen mit dem Ergebnis der Europawahlen nicht zufrieden sein? Punkt 1: Die Grünen haben wohl den einen oder anderen Sitz aus einem EU-Land gewonnen, das bisher noch keine Grünen ins EU-Parlament geschickt hat, aber insgesamt – wir haben es eben schon gestreift – haben die Grünen trotzdem leicht verloren, von 7,5 Prozent der Stimmen 2009 auf knapp sieben Prozent diesmal. Das macht Sie schon unzufrieden ein Stück, oder?
    Keller: Ich glaube, wir können wirklich mit diesem Wahlergebnis ganz zufrieden sein – für uns zumindest. Weil wir zwischendurch auch ein paar schwierige Wahlen gehabt haben in verschiedenen Mitgliedstaaten. Und die Umfragen haben uns nicht so gut gesehen, wie wir jetzt dastehen. Deswegen glaube ich, ist es wirklich ein gutes Ergebnis, was wir erreichen konnten.
    Und Sie haben schon angesprochen, dass wir jetzt aus mehreren Ländern vertreten sind – das macht einen fundamentalen Unterschied. Weil wir waren bis jetzt in Osteuropa nicht vertreten im Europäischen Parlament, und jetzt haben wir Abgeordnete aus Ungarn dabei, jetzt haben wir Abgeordnete aus Kroatien. Also ich glaube, das macht wirklich einen qualitativ großen Unterschied, dass wir auch dort, wo es wirklich bislang sehr, sehr schwierig war, endlich auch grüne Botschaften besser an die Frau und den Mann bringen können und das eben auch bei den Wahlen honoriert wird. Also ich glaube schon, dass es ein ganz großer qualitativer Schritt nach vorne ist.
    Große Nachfrage nach grüner Wirtschaft in Europa
    Riedel: Trotzdem scheint es so zu sein, dass der Krisenbewältigungsmodus, in dem die EU, namentlich die Euro-Länder, ja immer noch sind, nicht unbedingt ein politisch grünes Klima schafft. Also diese Botschaft "Wachstum und Arbeitsplätze von morgen sind grün" – Sie haben es ja eben auch noch mal so benannte – ist nicht wirklich durchgedrungen?
    Keller: Na ja, also es wird schon mehr und mehr aufgegriffen. Auch Herr Schulz hat es ja öfter mal erwähnt, das "grüne Wirtschaften". Noch nicht genau, was er sich darunter vorstellt, aber das scheint also auch von anderen Parteien kopiert zu werden. Und in meiner Tour durch die Mitgliedsstaaten habe ich schon bemerkt, dass es da eine große Nachfrage danach gab. Dass es auch viele Beispiele in ganz Europa schon gibt, wo das funktioniert, und auch in Ländern, die von der Krise stark betroffen sind. In Spanien, in der Region Navarra, wurden alleine 4000 Arbeitsplätze damit geschaffen, dass in erneuerbare Energien investiert wurde. Auch in Griechenland gibt es Beispiele, wo Städte sich energieunabhängig gemacht haben und damit gleichzeitig eben auch eine Null-Prozent-Arbeitslosigkeit herbeigeführt haben. Also wirklich Beispiele, wie grünes Wirtschaften funktioniert, das sehen wir überall in Europa. Und deswegen denke ich schon, dass diese Botschaft angekommen ist.
    Riedel: Punkt 2, warum Sie als Demokratin nach dem Wahlsonntag nicht unbedingt voll zufrieden sein können, ist die maue Wahlbeteiligung. Da ist wahrscheinlich auch wirklich kein Trost, dass bei mancher Kongresswahl in den USA eine noch niedrigere Wahlbeteiligung ist? Den Negativrekord stellt die Slowakei mit 13 Prozent – in den meisten anderen osteuropäischen Ländern ist es auch nicht viel mehr. Was, Frau Keller, muss passieren aus Ihrer Sicht, damit mehr Menschen, als die relativ schlappen 43 Prozent, motiviert werden, von ihrem Recht zu wählen auch wirklich Gebrauch zu machen?
    Themen statt institutionelle Fragen
    Keller: Es ist wirklich eine interessante Frage, weil in der Tat können wir damit nicht zufrieden sein. Es ging zwar in einigen Ländern auch nach oben, die Wahlbeteiligung, aber insgesamt ist das immer noch ziemlich Mist. Ich glaube, was wir machen müssen, um das zu ändern, ist eben mehr über Themen reden.
    Ich glaube, dieser Wahlkampf war sehr stark geprägt von dem "Für" oder "Gegen" Europa, was aber nur die Hälfte der Geschichte überhaupt ist. Weil wir im Europaparlament letztlich über Themen entscheiden. Wir diskutieren und entscheiden darüber, welche Richtung soll denn die Wirtschaftspolitik gehen? Wie wird der Binnenmarkt gestaltet? Wie machen wir Migrationspolitik? Das sind die Themen, wo es große Unterschiede gibt zwischen den Parteien, aber die eben auch die Menschen interessieren. Und darüber müssen wir viel, viel mehr reden. Klar machen, worum geht es, welches Europa bieten wir als Grüne an, welches Europa bieten andere Parteien an – das können die dann selber machen. Und darüber eben den Wettstreit führen und nicht "Wer schwenkt am stärksten die pro-europäische Fahne" und nicht über institutionelle Fragen. Weil ich glaube, das ist einfach nicht interessant für das tägliche Leben der Menschen in Europa.
    Riedel: Was alle Parteien oder fast alle Parteien nach wie vor machen ist, dieses Fingerzeigen auf Brüssel. So was irgendwie Amorphes: "Die da, die machen Gesetze"; "Die da geben komische Vorgaben" – ich will die Gurken jetzt gar nicht zitieren. Und es wird eigentlich kaum vermittelt, dass dies Brüssel ein "Wir" in Brüssel ist. Also das ja kein Gesetz aus dem Parlament hinausgeht, wo nicht auch die Länder, die EU-Mitgliedsländer beteiligt sind, die dann aber gerne trotzdem auf Brüssel zeigen, um zu entschuldigen, dass es bei ihnen zuhause Probleme gibt.
    Keller: Ja, das ist ein ganz großes Problem, das muss auf jeden Fall aufhören. Und die Wahlbeteiligung, aber auch das Zulegen der Euro-Skeptiker und noch schlimmerer Parteien sollte auch ein Warnschuss sein für die Mitgliedstaaten, dass sie so nicht agieren können, nicht immer mit dem Finger eben auf Brüssel zeigen können, sondern auch ganz klar Verantwortung übernehmen müssen. Und deswegen müssen sie einfach damit aufhören. Wir müssen aber auch natürlich als Europaabgeordnete immer weiter versuchen, auch zu sagen, wie es funktioniert, wo Gesetze eigentlich herkommen. Die Gurken – die es ja jetzt nicht mehr gibt –, die Gurkenverordnung war ja eine Idee gerade der deutschen Industrie, also nicht, was sich irgendjemand in Brüssel ausgedacht hat, sondern was ganz klar ein Lobby-Erfolg war. Und deswegen müssen wir auch daran arbeiten, dass wir lieber die Impulse aufnehmen, die von den Menschen selbst kommen, über Bürgerinitiativen, die wir auch haben und eben transparenter machen, was genau wir tun für die Menschen in Europa.
    Nationale Politik ist Grund für Sieg der Euroskeptiker
    Riedel: Sie hören Ska Keller, Spitzenkandidatin der europäischen Grünen bei den Europawahlen, im Interview der Woche vom Deutschlandfunk.
    Frau Keller, Sie können – Punkt 3 – als Pro-Europäerin mit dem Ausgang der EU-Wahl nicht unbedingt zufrieden sein, wegen des enormen Zuwachses der Anti-Europäer, vor allem in Frankreich und Großbritannien, aber nicht nur da. Zeigen für Sie die Ergebnisse vom Sonntag, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die europäische Einigung den Bürgern – überwiegend zumindest – als fast alternativlos erschien?
    Keller: Der Wahlsieg der euroskeptischen Parteien oder auch der anti-europäischen Parteien, gerade auch in Frankreich und Großbritannien, hat viel auch mit nationaler Politik zu tun. Aber darüber hinaus glaube ich, ist es auch ganz klar, dass wir in Europa einige Sachen verändern müssen, wenn wir nicht weiter zulassen wollen, dass solche euroskeptischen Parteien so stark zulegen. Denn wir sollten auch nicht vergessen, bei den euroskeptischen Parteien, da sind auch einige dabei, die Demokratie an sich infrage stellen, die Menschenrechte infrage stellen. Und so was möchte man in der Regel nicht im Parlament vertreten sehen.
    Ich glaube aber auch, wir haben diese Phase durchlaufen. Der europäische Einigungsprozess, das war ja lange so: "Staatsräson und das Friedensprojekt, das ist so wichtig, das müssen wir aufrecht erhalten". Und das ist es natürlich auch nach wie vor. Europa ist ein Friedensprojekt – ganz klar – und auch ein sehr erfolgreiches. Aber wir haben es eben auch schon sehr lange und wir haben sehr lange Frieden in großen Teilen Europas und auf jeden Fall in der Europäischen Union, und das ist eine große Errungenschaft. Aber damit entfällt natürlich auch für viele diese Raison d'Être, dieser Grund, warum es Europa gibt.
    Und wir müssen stattdessen auch wahrnehmen, dass die Europäische Union eine politische Ebene ist, wo Entscheidungen getroffen werden, und die können in die ein oder die andere Richtung laufen. Und ich glaube, wir müssen halt ein Stück weit Europa normalisieren – was es für viele junge Leute gerade auch schon ist – aber auch eine neue Erzählung finden, wofür wir Europa an sich brauchen. Und ich glaube, die neue Erzählung, das muss wirklich sein: Ein Europa, das sich für die Menschen einsetzt, mehr als für den Binnenmarkt und das sich für die sozialen Rechte der Menschen einsetzt, mehr als für die Bankenrettung.
    Riedel: Der britische Premier Cameron sprach von politischer Neuausrichtung – ich zitiere ihn: "Die Europäische Union kann dieses Ergebnis nicht ignorieren" –, meinte die Europawahlen, meinte – wie Sie – dass sich was ändern muss – im Zweifel aber anders als Sie. Aus Ihrer Sicht: Wie kann, soll, ja, muss sich die Politik, die auf EU-Ebene gemacht wird ändern, damit sie die Wahlergebnisse angemessen reflektiert?
    Der britische Premierminister David Cameron wendet Jean-Claude Juncker während einer Sitzung des Europäischen Rats den Rücken zu.
    David Cameron (li.) und Jean-Claude Juncker (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet)
    Keller: Bei Cameron regt mich immer auf, dass er so sagt: "Wir müssen Europa reformieren, sonst treten wir aus!", aber nie sagt, was er eigentlich will. Und letztendlich was immer durchdrängt ist, dass er nur ein Europa des Binnenmarktes will und nicht ein Europa der Menschen. Und ich glaube, das wäre eine fatale Entwicklung. Wir müssen genau in die andere Richtung! Wir müssen ein Europa der Menschen kreieren, wo sich die Menschen in Europa ernst genommen fühlen, aber wo eben sich die europäische Ebene auch vor allem um ihre Rechte kümmert!
    Was ich viel wahrgenommen habe im Wahlkampf ist, dass die Menschen sehr hohe Erwartungen haben an die Europäische Union. Gerade die auch, die sich selbst erst als euroskeptisch bezeichnet haben und die sagen: "Ja, es läuft viel falsch in Europa – wollen wir nicht mehr!". Aber wenn man dann noch mal nachfragt, dann haben die Menschen eigentlich sehr hohe Erwartungen an die EU.
    Riedel: Also eine Sozialunion?
    Grüne sind gegen Freihandelsabkommen TTIP
    Keller: Wir brauchen mehr eine Europäische Union, die sich eben für die Rechte der Menschen einsetzt. Und dazu gehören ganz groß die sozialen Rechte. Ich sage Sozialunion deswegen ungern, weil darunter jeder etwas anderes versteht. Und ich glaube, wir müssten erst sagen, was unter der Überschrift stehen soll, bevor wir dafür ein Wort erfinden.
    Riedel: Freihandelsabkommen, TTIP kurz – Sie haben es schon angesprochenen. Da könnte es ja zu einer merkwürdigen Konstellation kommen. Sie, die Grünen, lehnen es ab, aber es wird auch abgelehnt von rechts, aus protektionistischen Gründen, also aus anderen Gründen, als die Grünen es ablehnen, die eher den Verbraucherschutz, den Umweltschutz vor Augen haben. Das heißt, das Freihandelsabkommen könnte im Parlament aus dieser Konstellation heraus dann keine Mehrheit finden?
    Keller: Wir hoffen sehr stark, dass es keine Mehrheit findet. Weil in der Tat gäbe es dadurch erhebliche Nachteile für Verbraucherrechte, Umweltschutz, aber auch Arbeitnehmerrechte in Europa und übrigens auch in den USA. Denn es ist ja nicht so, dass nur Standards in Europa hoch sind, es gibt auch durchaus höhere in den USA, zum Beispiel bei der Finanzmarktregulierung. Und genau da möchte die Europäische Kommission, dass die USA ihre Standards abbauen. Da sind wir dagegen. Und wir arbeiten eben auch zusammen mit US-amerikanischen Partnerinnen und Partner gegen dieses Freihandelsabkommen.
    Also da unterscheiden wir uns ganz gewaltig von Rechtsaußen. Man muss auch sagen, dass wir im Handelsausschuss auch eine Abgeordnete des Front National – Marine LePen – haben, die nie da ist und die sich noch nie zum Freihandelsabkommen geäußert hat, noch zu irgendwelchen anderen Handelsabkommen im Handelsausschuss. Also da sieht man mal wieder, dass die
    eben nur Schaufensterpolitik betreiben, aber an Inhalten definitiv nicht interessiert sind.
    "Rechtspopulisten machen nur Schaufensterpolitik"
    Riedel: Das wird sich aber möglicherweise ändern. Vielleicht waren sie auch deshalb nicht daran interessiert, weil sie sich in der Minderheit, und zwar erdrückend in der Minderheit gefühlt haben, und das wird jetzt anders aussehen. Das konnte man schon erahnen, wenn man Marine Le Pen nach den Wahlen zum ersten Mal am Mittwoch im Europäischen Parlament erlebt hat.
    Keller: Ja, aber auch nach wie vor werden die rechtspopulistischen und darüber hinaus noch weiter rechts stehenden Parteien keine Mehrheit haben im Europäischen Parlament. Sie sind ja noch auf der Suche nach einer Fraktion, es fehlen noch zwei Parteien. Mal gucken, ob es klappt – kann schon sein. Aber auch damit werden sie keine Mehrheit haben im Europäischen Parlament, sondern werden eine kleine Fraktion sein, die aber, glaube ich, ihre Strategie eben genau auf diese Schaufensterpolitik ausgerichtet hat – sie haben ja kein Interessen an inhaltlicher Arbeit.
    Und ja, wir müssen natürlich schauen, wie sich das entwickelt. Ich finde es auch sehr wichtig, dass wir eben auch darauf reagieren, auf dieses Wahlergebnis, eben indem wir über Themen reden und auch sagen: Wozu führt denn zum Beispiel dieser Euro-Austritt, der immer propagiert wird? Der würde nämlich zu ganz erheblichen wirtschaftlichen Einbußen und auch zu Arbeitsplatzverlust führen. Und dann sollen die Euro-Skeptiker und andere doch mal sagen, warum sie denn dafür sind, dass Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren.
    Marine Le Pen, Front National
    Marine Le Pen, Front National (AFP / Pierre Andrieu)
    Riedel: Aber auf alle Fälle kann man schon davon ausgehen, denke ich, Frau Keller, dass über den Umweg des Drucks, den die zu Hause – also sagen wir Frankreich, sagen wir Großbritannien – auf die nationalen Regierungen ausüben, schwer vorstellbar ist, dass Überlegungen, die Europäische Union zu vertiefen, mehr Kompetenzen
    nach Brüssel zu geben, dass die im Moment umsetzbar sind? Es sieht doch alles danach aus, dass es eher darum gehen wird, bestimmte Politikbereiche oder Elemente bestimmter Politikbereiche zu renationalisieren?
    Keller: Meine Ambition in Europa ist ja, dass wir die Politik ändern, die wir da machen, dass wir eine grünere, eine menschenrec
    htsorientiertere Politik machen. Und das wird aber auch schwieriger werden dadurch, dass viele mitte-rechts, also konservative Parteien sich ja genötigt sehen, dann noch weiter rechte Slogans aufzugreifen, weil sie hoffen, damit Sympathien der Rechtsaußen Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. Dass das nicht funktioniert, sehen wir ja gerade bei der CSU, die deutlich verloren hat in der Europawahl, obwohl sie sehr versucht hat, sich mit euro-skeptischen und rechtspopulistischen Slogans zu profilieren. Das funktioniert nicht – die Leute wählen ja dann das Original. Aber da müssen wir eben aufpassen.
    Aber wir sollten eben wirklich in der Auseinandersetzung immer Themen haben: Wie soll denn diese Politik aussehen? Wie machen wir denn Umweltpolitik? Wie machen wir denn Wirtschaftspolitik? Solche Sachen. Und wenn dann Hollande sich ähnlich wie Cameron hinstellt und sagt: "Ja, wir müssen Europa reformieren!", dann möchte ich wissen: Wie? Was genau ist die Reform? Und wenn Hollande mehr auch von einem sozialeren Europa spricht, dann machen wir da gerne mit. Aber es ist halt wirklich immer eine Frage: Wie? Es geht nicht darum: Reform: Ja oder Nein? Es geht darum: Was für eine Reform? Was soll den genau reformiert werden?
    Riedel: Im Parlament wird es wohl, noch mehr als ohnehin bereits schon in der ausgelaufenen Legislaturperiode und in den letzten Jahren überhaupt geschehen, bei dem meisten Gesetzesverfahren zu einer Art de facto Großer Koalition – GroKo, wir hatten es schon kurz gestreift – kommen. Schon allein deshalb, weil einfach selten andere Mehrheiten möglich sein werden – seltener noch als zuvor. Und schon gar nicht natürlich, wenn man nicht mit der extremen Rechten gemeinsame Sache machen möchte. Fürchten Sie, dass der Zulauf der Wähler bei den Europawahlen in fünf Jahren an den politischen Rändern dadurch noch weiter wachsen könnte?
    Keller: Das ist auf jeden Fall eine Gefahr. Wenn die GroKo dann so das Mäntelchen "Wir sind jetzt alle vernünftig" über alle drüber legt und keine richtige parlamentarische Debatte mehr zulässt und es für Parteien wie uns Grüne schwieriger wird, unsere Themen noch einzubringen, dann, glaube ich, ist schon die Gefahr, dass wir wieder in so einem Wust von Indifferenz enden, wo es keine klaren Unterscheidungen mehr gibt zwischen den beiden großen Parteien. Und das ist auf jeden Fall sehr schädlich für Wahlbeteiligung, aber auch für einen Wettkampf der Argumente und der Ideen.
    Weil das Gute bis jetzt war ja eben auch gerade im Europäischen Parlament, dass man eben mit Argumenten noch Leute überzeugen konnte und dass wir eben auch als grüne Sachen durchsetzen konnten. Und es wäre, glaube ich, nicht gut für die europäische Demokratie, wenn das in Zukunft nicht mehr möglich ist. Und da müssen wir eben genau aufpassen und der GroKo genau auf die Finger schauen.
    Riedel: Wie sieht jetzt Ihr persönlicher Terminkalender in den nächsten Tagen aus?
    Keller: Wir haben viel damit zu tun, die Konstituierung der grünen Fraktion voranzutreiben. Und wir diskutieren natürlich auch viel: Was sind die Lehren, die wir aus der Wahl ziehen? Wie wollen wir in Zukunft unsere grünen Themen nach vorne auf die Agenda setzen? Wie gehen wir um mit einer GroKo-Situation? Das sind gerade wichtige Debatten, die bei uns stattfinden. Und ich glaube auch, es ist sehr wichtig, dass wir uns darüber genau unterhalten mit den neuen Mitgliedern der grünen Fraktion.
    Riedel: Und vielleicht auch überlegen, wen Sie nicht mehr haben wollen? Zum Beispiel Vertreter der N-VA – das sind die flämischen Nationalisten –, die bisher als regionale Partei bei Ihnen in der Fraktion sind?
    Keller: Darüber wird sich dann die Europäische Freie Allianz unterhalten, deren Mitglied die N-VA ist.
    Riedel: Ich danke Ihnen für das Gespräch Frau Keller.
    Keller: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.