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EU-Reaktionen auf Anschlag
"Der Graben zwischen der EU und der Türkei wird so tiefer"

Europa müsse klare Sympathie für die Opfer des Anschlags auf einen Istanbuler Nachtclub zeigen, sagte Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative im DLF. Europa und die Türkei hätten einen gemeinsamen Feind: den sogenannten Islamischen Staat. Dabei gelte, dass der Kampf gegen den Terrorismus rechtsstaatlich geführt werden müsse.

Gerald Knaus im Gespräch mit Sandra Schulz | 03.01.2017
    Bilder von Opfern vor dem Nachtclub Reina, in dem ein bewaffneter Attentäter 39 Menschen in der Nacht zum neuen Jahr tötete.
    Bilder von Opfern vor dem Nachtclub Reina, in dem ein bewaffneter Attentäter 39 Menschen in der Nacht zum neuen Jahr tötete. (AFP - Ozan Kose)
    Sandra Schulz: Über die Situation nach diesem jüngsten, aber ja wohl wahrscheinlich leider nicht letzten Anschlag in der Türkei wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Gerald Knaus, er leitet den Thinktank European Stability Initiative, der auch ein Büro in Istanbul hat. Schönen guten Morgen.
    Gerald Knaus: Guten Morgen!
    Schulz: Es gibt ja Rücktrittsforderungen an den Innenminister und auch an den Ministerpräsidenten. Wächst politisch jetzt doch der Druck?
    Knaus: Ja, der Druck wächst eigentlich kontinuierlich seit vielen Monaten, vor allem seit dem Sommer 2015 sind ja eine ganze Reihe von Attentaten von verschiedenen Gruppen überall in der Türkei durchgeführt worden, an symbolträchtigen Plätzen, und immer mit dem Ziel, möglichst viel Panik in der Bevölkerung zu erzeugen. Also vor Fußballstadien, auf den Bahnhöfen, auf den Flughäfen, in den Einkaufszentren, den wichtigsten Straßen und jetzt eben an diesem symbolträchtigen Datum, dem ersten … also dem letzten Tag des alten Jahres und dem ersten Tag des neuen Jahres, um zu zeigen: Das wird so weitergehen.
    "Tausende Polizisten entlassen auf Verdacht hin"
    Schulz: Welchen Grund sehen Sie für diese Häufung von Anschlägen? Die Türkei hat es natürlich mit zwei Terrororganisationen zu tun, mit der PKK und dem IS. Aber diese Zahl der Anschläge ist ja doch ganz erheblich.
    Knaus: Also, ich glaube, der allerwichtigste Grund, den sieht man in der geografischen Nähe der Türkei zu den blutigsten Konflikten, die derzeit im Nahen Osten geführt werden, einerseits natürlich der Irak, wo ja der IS ursprünglich herkommt, da wird ja heute auch erbittert gekämpft rund um Mossul, und das Zweite, noch wichtiger für die Türkei, ist natürlich der Syrien-Konflikt, der läuft seit 2011.
    Die Türkei hatte lange Jahre eine offene Grenze für Flüchtlinge aus Syrien und wurde in den letzten Jahren auch militärisch immer mehr in den Konflikt hineingezogen. Derzeit kämpfen ja türkische Soldaten in Nordsyrien gegen den Islamischen Staat und daher ist es eigentlich nicht erstaunlich, dass der Islamische Staat, dieser apokalyptische Todeskult nun auch die Türkei zur Zielscheibe nimmt.
    Schulz: Und diesen Vorwurf, der jetzt ja auch in der Türkei offenbar mehr und mehr laut wird, dass es eben auch große Lücken gebe bei den Sicherheitskräften, den teilen Sie gar nicht so?
    Knaus: Ich glaube, das steht außer Zweifel, dass die türkischen Sicherheitskräfte in einer sehr, sehr schwierigen Lage sind, die die Regierung durch die Situation nach … die Reaktion auf den gescheiterten Putschversuch im letzten Sommer noch verschärft hat. Denn es wurden tausende Polizisten entlassen auf Verdacht hin, dass sie mit den Putschisten sympathisiert haben könnten. Und wenn man mitten in einer Situation, in der ein Land von Kriegen umgeben ist und im Land selbst ein gewaltiges Terrorismusproblem hat, tausende Polizisten, die führenden Polizisten entlässt, dann stehen natürlich auch die Sicherheitskräfte zunächst mal blind da. Und ja, das macht die Situation natürlich noch sehr viel schwieriger.
    Schulz: Welche Signale müssten da jetzt aus Europa kommen? Der Unterschied ist ja doch ganz deutlich zu sehen, wenn wir die beiden Anschläge vergleichen, das Bataclan in Paris und jetzt eben dieser Club in Istanbul, eigentlich das Anschlagsmuster war ein ganz ähnliches, aber anders als nach dem Anschlag von Paris gab es am nächsten Morgen keine Pressekonferenz der Bundeskanzlerin, die Solidaritätsbekundungen und Beileidsbekundungen gibt es natürlich auch, aber die fallen deutlich zurückhaltender aus. Müsste da die Geste der Solidarität, müsste die aus Europa einfach da auch deutlicher kommen?
    "Überreaktionen der türkischen Regierung kritisieren"
    Knaus: Die Europäische Union tut sich und die europäischen Regierungen tun sich schwer, weil sie einerseits weiterhin zu Recht Überreaktionen der türkischen Regierung kritisieren wollen, also das Verhaften von Journalisten, die Repression gegen Kritiker der Regierung, die vor allem im Zuge eben des gescheiterten Putschversuchs im letzten Sommer dramatisch zugenommen haben. Und das ist auch richtig, das zu kritisieren. Aber andererseits ist es schon merkwürdig, wie wenig klare Sympathie – und ich merke das auch, wenn ich die europäischen Medien verfolge – angesichts der Tatsache, dass die Türkei ja hier bei diesem Anschlag dem gleichen Feind ausgesetzt ist wie die Europäer auch, nämlich dem Islamischen Staat, dafür gibt es relativ wenig Sympathie.
    Da wird dann berichtet über die türkische Religionsbehörde, die die Türken dazu aufgerufen hat, das Neujahrsfest nicht heidnisch zu begehen, wie sie meinen, also nicht mit Alkohol zu feiern. Ich meine, das sind Aussagen, da kann man dagegen sein, das kann man kritisieren, aber das hat natürlich überhaupt nichts damit zu tun, dass der Islamische Staat eine brutale Terrorkampagne führt. Und das Fehlen von klarer Sympathie und Empathie für die Opfer dieses Terrorismus, das trifft in der Türkei natürlich auf eine ohnehin schon extrem misstrauische Bevölkerung und Regierung. Und der Graben zwischen den EU-Bevölkerungen und der türkischen Bevölkerung wird so tiefer und das ist sicherlich auch eines der Ziele der Terroristen.
    Also, da muss man versuchen, dagegenzuhalten, indem man einfach daran erinnert. Es geht hier um brutale Anschläge auf Zivilisten, auf Touristen, auf Türken, auf Muslime, auf Christen, auf wer immer für den Islamischen Staat ein Feind ist. Das kennen wir aus Europa und wir sollten daraus wahrscheinlich mit den gleichen Gefühlen, Reaktionen reagieren, wie wir das auch bei Anschlägen in Europa tun.
    "Türkische Regierung kämpft seit 2014 gegen den Islamischen Staat"
    Schulz: Es ist aber trotzdem ein Spagat, der da nötig ist. Also, Sie haben es gesagt: Der Abbau von rechtsstaatlichen Garantien muss kritisiert werden. Da gibt es aber natürlich bei vielen Menschen in Europa, das wird aber gar nicht deutlich genug kritisiert, weil Europa eben erpressbar ist durch das Abkommen, durch das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. Ist dieser Spagat, den Sie einfordern, überhaupt möglich?
    Knaus: Ja, einerseits muss die Europäische Union – und das wird manchmal als naiv hingestellt, aber es bleibt essenziell – bei einigen Themen klare rote Linien ziehen, andererseits aber auch immer argumentieren, das ist ja nicht gegen die Türkei gerichtet, das ist nicht einmal gegen die türkische Regierung gerichtet. Es geht um Grundwerte. Also etwa das Eintreten dafür, dass die Türkei eben unter diesen Umständen dieser sozialen Polarisierung, dieser Panik gerade nicht die Todesstrafe einführt, oder dass man sich dafür einsetzt, dass die Folter nicht in türkische Gefängnisse zurückkehrt.
    Wir kennen aus der europäischen Geschichte Situationen – ob das jetzt die französische Reaktion war auf den Terrorismus im französischen Algerien oder die englischen Reaktionen in Nordirland oder zuletzt die amerikanischen Reaktionen auf den 11. September –, wo unter der Angst vor Terrorismus dann auch westliche Regierungen zu dramatischen Mitteln greifen wie Folter, Leute einfach wegsperren ohne Gerichtsverfahren. Das hat in der Türkei eine viel längere Tradition, wir sehen das in der Türkei heute auch, da muss die EU, da müssen Freunde der Türkei kritisch sein. Denn das Hauptargument dagegen, abgesehen natürlich von den unschuldigen Opfern dieser Politik, ist, dass es niemals funktioniert, dass man da das Spiel der Terroristen mitspielt.
    Das ist allerdings unabhängig davon, dass man nicht nur klar verurteilen muss, was in der Türkei an Terrorismus derzeit stattfindet, sondern auch der türkischen Regierung und der Bevölkerung klarmachen will und klarmachen muss, dass man hier auf der gleichen Seite steht, wenn es gegen den Islamischen Staat geht. Und dass man anerkennt etwa, dass die türkische Regierung eben seit 2014 gegen den Islamischen Staat kämpft, auch das wird in der Wahrnehmung immer wieder. Ja, das wird nicht so ganz klar, während die türkische Regierung wiederum in ihren Stellungnahmen darauf verweist, dass ja sehr viele der Kämpfer des Islamischen Staates auch aus Europa kommen, dass die Türkei, wie die Regierung immer wieder betont, im letzten Jahr 38.000 Auslandskämpfer gestoppt haben soll in der Türkei. Also, hier hilft es nichts, wenn man sich gegenseitig Vorwürfe macht, man muss zusammenarbeiten.
    "Besser zusammenarbeiten gegen den Islamischen Staat"
    Schulz: Jetzt läuft uns die Zeit ein bisschen weg, aber die Frage möchte ich noch stellen: Welche Möglichkeit sehen Sie, welche Perspektive, wie kann die Türkei in dieser Situation überhaupt stabilisiert werden?
    Knaus: Ja, es ist extrem schwierig und ich glaube, keiner hat ein Patentrezept. Aber das Wichtigste ist, glaube ich, die Botschaft, was die EU machen kann, limitiert, aber sehr wichtig ist, eine klare Botschaft zu schicken, dass man einerseits, nicht um den Türken zu schaden, sondern im Interesse der gemeinsamen Werte, die auch die einzige Grundlage für Stabilität bieten, weiterhin darauf bestehen wird, dass der Kampf gegen den Terrorismus rechtsstaatlich geführt werden muss – das wird immer schwieriger, das ist klar –, aber andererseits volle Solidarität und Empathie zu zeigen und auch zu sehen, wie man noch besser zusammenarbeiten kann gegen den gemeinsamen Feind, in diesem Fall den Islamischen Staat.
    Schulz: Der Vorsitzende der Europäischen Stabilitätsinitiative ESI Gerald Knaus heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Haben Sie ganz herzlichen Dank für das Interview heute Morgen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.