Dienstag, 19. März 2024

Archiv

EU-Rechtsstaatsbericht
"Die Lage in Polen und Ungarn ist besonders ernst"

EU-Parlaments-Vizepräsidentin Katarina Barley hat mehr Druck auf Ungarn und Polen gefordert, damit diese die Rechtsstaatlichkeit wahren. Es gebe nicht nur einzelne Verfehlungen, sondern der Rechtsstaat werde systematisch umgebaut. Die EU-Subventionen seien ein wirksamer Hebel, sagte sie im Dlf.

Katarina Barley im Gespräch mit Bastian Rudde | 30.09.2020
Katarina Barley bei einer Veranstaltung der SPD zur Europawahl am 26. Mai in der Nordkurve Hannover
EU-Parlaments-Vizepräsidentin Katarina Barley. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat einen Rechtsstaats-Mechanismus vorgeschlagen. (imago/C. Niehaus/Future Imag)
Die EU-Kommission stellt erstmals einen Bericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit in allen 27 Mitgliedstaaten vor. Vorab bekannt geworden ist, dass in einer Reihe von Mitgliedstaaten Verstöße festgestellt wurden. Neben Polen und Ungarn würden auch Bulgarien, Rumänien, Kroatien, die Slowakei, Tschechien, Malta, Spanien und Deutschland erwähnt, berichtet die Nachrichtenagentur AFP. Die EU hat indes beschlossen, dass es künftig Strafen für Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit geben soll. Eine Mehrheit der EU-Staaten brachte trotz Drohungen aus Ungarn und Polen ein entsprechendes Verfahren auf den Weg.
Das Interview im Wortlaut:
Bastian Rudde: Gerichte, die unabhängig urteilen dürfen. Medien, die frei berichten können. Bürgerinnen und Bürger, die vor staatlicher Willkür geschützt und vor dem Gesetz gleich sind. So lässt sich skizzieren, was mit dem Begriff des "Rechtsstaates" gemeint ist. Ein großer Begriff, über den in der Europäischen Union seit Jahren eine große Auseinandersetzung geführt wird. Vor allem Ungarn und Polen wird vorgeworfen, sich nicht an rechtsstaatliche Prinzipien zu halten. Doch sämtliche Disziplinarmaßnahmen der europäischen Institutionen haben den gewünschten Effekt kaum bis nicht erzielt. In den letzten Tagen ist eine neue Eskalationsstufe erreicht worden. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat einen Rechtsstaats-Mechanismus vorgeschlagen – und erntet dafür viel Kritik. Ungarns Regierungschef Orbán hat den Rücktritt gefordert von EU-Justizkommissarin Jourova, die wiederum heute einen neuen Rechtsstaats-Report vorlegen will – und das EU-Parlament scheint wegen des ungelösten Konfliktes gewillt, den milliardenschweren Corona-Hilfsfond zu blockieren. Und wie kann dieser Report die Rechtsstaats-Diskussion in der EU voranbringen – darüber kann ich jetzt reden mit Katarina Barley. Sie war bis letztes Jahr Justizministerin in Deutschland, ist dann als Abgeordnete für die sozialdemokratische "S&D"-Fraktion ins europäische Parlament eingezogen. Guten Morgen Frau Barley!
Katarina Barley: Es wird zwei Neuerungen geben: den Bericht über die möglichen Verletzungen von Rechtsstaatlichkeit in jedem Mitgliedsstaat und dann daraus folgend die finanziellen Konsequenzen. Das sind zwei neue Möglichkeiten, die die EU sich schafft, um gegen Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit vorzugehen, und dieser Bericht ist eben was ganz Neues. Dass alle Mitgliedsstaaten betrachtet, das ist ganz wichtig, weil gerade die osteuropäischen Staaten diese Erzählung haben, das ist etwas West gegen Ost, ihr habt was gegen unsere Art zu leben, ihr wollt uns da was aufdrücken, und da soll mehr Objektivität rein.
"Die Lage in Polen und Ungarn ist besonders ernst"
Rudde: Nachdem, was bisher schon durchgesickert ist aus diesem neuen Report, wären darin auch rechtsstaatliche Defizite in anderen Staaten, wie zum Beispiel Bulgarien, Rumänien, aber auch Malta angemahnt. Deswegen die Frage: Hat sich die EU bisher zu sehr auf Polen und Ungarn eingeschossen?
Barley: Gar nicht. Gerade im Hinblick auf Malta und die Slowakei gibt es einen eigenen Ausschuss, dem ich auch angehöre. Dort gab es Morde an Journalisten, die sind untersucht worden. Nein, aber die Lage in Polen und Ungarn ist eben auch besonders ernst, weil dort systematisch strukturell der Rechtsstaat umgebaut wird und nicht nur einzelne Verfehlungen zu beobachten sind.
Rudde: Die große Frage, der große Streitpunkt ist ja nun, mit welchem Mechanismus man fehlende Rechtsstaatlichkeit sanktionieren könnte und wie das betroffenen Ländern ans Geld gehen könnte. Wir haben schon gehört, die deutsche Ratspräsidentschaft hat einen Vorschlag gemacht, den irgendwie fast alle ablehnen, was ja auch für einen guten Kompromiss sprechen könnte. Warum sind Sie trotzdem dagegen?
Barley: Nun, so langsam verliert dieser Mechanismus alle Zähne. Das war von Anfang an schon auf Kompromiss angelegt, aber jetzt ist es so, dass man immer finanzielle Konsequenzen braucht, damit diese rechtsstaatlichen Verstöße irgendwelche Folgen haben. Wenn "nur", in Anführungsstrichen, die Unabhängigkeit der Justiz abgeschafft wird, aber keine Gelder der Europäischen Union dabei veruntreut werden oder in falsche Kanäle geraten, dann scheint es so, dass die EU da nicht eingreifen kann, und das war nicht der Sinn der Sache. Wir wollten einen generellen Mechanismus: Wer sich nicht an die Werte der Europäischen Union hält, der kann auch finanziell sanktioniert werden.
"Wenn wir es jetzt nicht schaffen, der Rechtsstaatlichkeit Szene zu geben, wann denn dann?"
Rudde: Sie sagen wollten, das hört sich an, als hätten Sie das schon abgeschrieben?
Barley: Nein, noch lange nicht. Die europäischen Institutionen streiten darüber schon lange, und das Europäische Parlament hat ganz klargemacht, von den ganzen Kritikpunkten, die im Moment auf dem Tisch liegen zum Haushalt, ist das der eine, wo die großen Fraktionen, die vier großen Fraktionen sagen, wenn das nicht erfüllt ist, dann stimmen wir dem Haushalt auch nicht zu. Das ist parteiübergreifend den anderen Institutionen so mitgeteilt worden.
Rudde: Das heißt, Sie sind da tatsächlich gewillt, die Corona-Gelder zu blockieren und auch die Haushaltsplanungen?
Barley: Wir sind nicht fixiert auf einen bestimmten Vorschlag. Das ist immer so, man muss kompromissbereit sein, aber wir haben gesagt, wir brauchen einen wirksamen Mechanismus. Wenn man jetzt an allen Stellen Orbán und Kaczynski nachgibt und wir am Ende etwas haben, was nett aussieht, aber nicht wirksam ist, dann vertun wir die letzte Chance, die wir haben. Wir verhandeln jetzt den Haushalt, der gilt für sieben Jahre, da ist viel Geld drin. An das Geld wollen Polen und Ungarn ran, die leben von europäischen Geldern. Wenn wir es jetzt nicht schaffen, der Rechtsstaatlichkeit Szene zu geben, wann denn dann?
Rudde: Skizzieren Sie doch mal Ihren Kompromiss, wie Sie ihn sich vorstellen, wie er durchkommen könnte, durchs Parlament!
Barley: Wichtig wäre, dass es um alle Werte geht, die in Artikel 2 stehen, also Rechtsstaatlichkeit – das kam ja in dem Beitrag schon durch –, Medienfreiheit, Schutz von Minderheiten et cetera, alles, was zum Rechtsstaat gehört, und dann, wenn es wirklich systemische Brüche oder systemische Gefährdung dieser Rechtsstaatlichkeit gibt, viel gesichtete.
"Jedes Land hat hier und da etwas, was es verbessern muss"
Rudde: Was meinen Sie damit genau?
Barley: Ja, nicht nur einmal. Deutschland wurde auch schon verurteilt, zum Beispiel weil unsere Staatsanwaltschaft weisungsgebunden ist. Das passiert in jedem Land. Jedes Land hat hier und da etwas, was es verbessern muss, aber die Länder, die strukturell darauf hinarbeiten, Rechtsstaat abzuschaffen, die müssen auch wirklich sanktioniert werden können. In diesem Vorschlag sind noch viel zu viele Möglichkeiten drin, dass diese Länder wieder rauskommen, zum Beispiel dadurch, dass der Rat mit einer relativ geringen Mehrheit die Kommission niederstimmen kann.
Rudde: Sie sprechen noch mal den deutschen Vorschlag an der deutschen Ratspräsidentschaft, der scheint ja juristisch betrachtet relativ eng gefasst zu sein, was ja auch in positivem Sinne bewirken könnte, dass er dann vor Gerichten auch wasserdicht sein könnte. Sie als Juristin, sehen Sie darin nicht auch einen möglichen Vorteil?
Barley: Alle Entscheidungen müssen justiziabel sein, müssen gerichtlich überprüft werden können, das ist völlig selbstverständlich. Nur wenn man das so eng fasst, dass am Ende ein kompletter Umbau des Justizsystems in ein abhängiges Justizsystem nicht mehr erfasst ist, dann geht das an Kompromissbereitschaft deutlich zu weit.
Rudde: Noch mal zurück zum Europaparlament: Sie haben gesagt, wir sind nicht per se auf Blockade aus, sondern wollen eine Lösung finden, aber die letzten Jahre zeigen ja, dass eine Lösung in der EU weit weg scheint. Wenn es jetzt tatsächlich zu einer Blockadesituation kommen sollte, mit Blick auf die Corona-Gelder, wie erklären Sie das dann Ländern, Unternehmen und auch Menschen, die dringend auf diese Gelder warten?
Orbán will das Parlament unter Druck setzen
Barley: Das ist genau Orbáns Hebel. Orbán will das Parlament unter Druck setzen und auch den Rat: Alle warten auf das Geld, ich setze mich einfach hierhin und halte die Luft an, weil ihr könnt nichts dagegen tun, der öffentliche Druck wird so groß werden, dass es am Ende nachgeben muss.
Rudde: Wie wollen Sie ihn denn aushebeln?
Barley: Wir müssen ihn aushungern finanziell. Er braucht auch das Geld. Und wenn wir sagen, dann kriegst du auch kein Geld, dann wird er am Ende an der ein oder anderen Stelle, denke ich, auch einlenken müssen. Da brauchen wir natürlich auch ein bisschen öffentliche Unterstützung, die jetzt nicht sagt, das muss alles schnell-schnell gehen. Wir müssen jetzt für sieben Jahre die Weichen stellen. Wenn wir jetzt die Rechtsstaatlichkeit aufgeben, dann haben wir für die weiteren sieben Jahre Verhältnisse in der EU, wie sie unsere Bürgerinnen und Bürger auch nicht wollen, denn unsere Steuergelder gehen dann an Regime wie das von Orbán und Kaczynski, die sich vor allen Dingen Geld in die eigene Tasche schaufeln, aber ihre Länder zu Demokratien umbauen, die mit den Werten der EU nichts mehr zu tun haben.
Rudde: Welche positiven Signale könnte ein Viktor Orbán senden, damit ein Kompromiss auf die Wege kommt?
Barley: Er hat viele Anknüpfungspunkte, er tut im Moment nichts davon, er gibt im Moment an gar keinem einzigen Punkt nach. Er müsste sagen, ich bin bereit, mich an die Werte der Europäischen Union zu halten. Was er hingegen tut, ist – das sollten wir vielleicht auch noch mal sagen –, er baut ein Gegeninstrument auf: Zusammen mit Polen soll ein Institut für Rechtsvergleichung gegründet werden, das eigene Vorschläge entwickelt, eigene Vergleiche anstellt, was rechtsstaatlich und was nicht. Viktor Orbán ist mit solchen Kategorien, wie Sie sie gerade aufmachen, überhaupt nicht zu packen. Der will gar nicht Kompromisse schließen, im Gegenteil, er will die EU vorführen. Deswegen wäre es so wichtig, dass wir an diesem Punkt einmal hart bleiben und sagen, wenn du dein Land umbaust zu einer illiberalen Demokratie, wie er das nennt, zu einer kranken Demokratie, wie Vera Jourova sagt, dann kannst du auch kein Geld haben.
Rudde: Und was erwarten Sie mit Blick darauf vom anstehenden Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU, der Gipfel, der ja Corona-bedingt verschoben wurde?
Barley: Ganz ehrlich, derzeit kann ich nicht mehr viel erwarten, weil die verhandeln schon so lange mit Orbán. Das muss jetzt am Ende auch das Parlament leisten können, weil der Rat hat eine Position, also die Mitgliedsstaaten, die Kommission hat eine Position und das Parlament hat eine Position, und alle drei müssen sich am Ende einigen. Da müssen Kommission und Parlament dann eben auch den Druck auf den Rat als Ganzes und insbesondere auf Ungarn und Polen auch legen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.