Doris Simon: Wenn ein Kind ernsthaft krank wird, an Krebs, Herzschwäche oder Epilepsie leidet, dann sind nicht nur die Eltern hilflos, sondern oft genug auch die Ärzte. Entweder verordnen sie dem Kind ein wirksames Medikament, das aber nur für Erwachsene zugelassen wurde, für ein Kind also möglicherweise unabsehbare Risiken haben kann, oder der Arzt geht auf Nummer sicher und verweigert die Verschreibung. Damit aber ist dem Kind auch nicht geholfen.
Heute aber stimmt das Europäische Parlament in zweiter Lesung über eine Verordnung zu Kinderarzneimitteln ab, und die sieht vor, dass bei jedem Medikament geprüft werden muss, ob dieses Medikament gesondert auch für Kinder zugelassen wird. Verlangt dies die noch einzurichtende Kinderheilkundekommission, dann muss es der Arzneimittelhersteller tun.
Am Telefon ist Professor Hansjörg Seyberth, Vorsitzender der Kommission Arzneimittelsicherheit der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Guten Morgen!
Hansjörg Seyberth: Guten Morgen!
Simon: Herr Seyberth, wenn dieser Entwurf europäisches Recht und damit auch Recht bei uns wird - und alles sieht danach aus -, wie wichtig ist das für die Betroffenen?
Seyberth: Das ist sehr wichtig. Endlich haben wir das erreicht, wofür wir seit etwa 20 Jahren uns einsetzen. Schrittmacher war die USA, die in einem kapitalistischen Land erkennen musste, dass die freie Marktwirtschaft diesen sensiblen Bereich nicht genügend abdeckt.
Simon: Warum müssen Medikamente für Kinder gesondert zugelassen werden?
Seyberth: Kinder sind keine Miniaturausgaben von Erwachsenen. Sie haben ganz besondere Krankheiten. Nehmen wir nur die Angleichung des Organismus nach der Geburt oder die Pubertät oder das Wachstum - ganz besondere Probleme, die ein Erwachsener nicht mehr kennt. Hinzu kommt, dass der Organismus des Kindes mit Arzneimitteln ganz anders umgeht, sie anders verstoffwechselt, sie anders ausscheidet.
Simon: Das heißt, man kann also nicht davon ausgehen, ein Erwachsener, der eine Krebsmedizin berechnet für 70 Kilo bekommt, da nimmt man einfach entsprechend weniger für ein Kind von 30 Kilo, und es hat dieselbe Wirkung?
Seyberth: Das ist richtig. Einmal, wie gesagt, ist das Medikament unter Umständen länger oder kürzer im Körper und kann entsprechend mehr Schaden oder mehr Nutzen einbringen. Zum anderen ist auch die Biologie des Tumors beim Kind eine andere als die beim erwachsenen Menschen oder gar bei dem alten Menschen.
Simon: Aber das heißt, dass die jetzige derzeitige Situation noch so ist, dass Ärzte oft mit Ausprobieren und über dem Daumen Peilen arbeiten?
Seyberth: Pi mal Schnauze, ganz richtig.
Simon: Sie waren ja jahrelang Chef der Uni-Kinderklinik in Marburg. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Seyberth: Nicht sehr gut, und habe mich immer wieder gewundert, dass wir so mit den Patienten umgehen müssen.
Simon: Und Alternativen waren damals für Sie nicht machbar?
Seyberth: Im eigenen kleinen Kreis eine Untersuchung vorzunehmen oder Heilversuche durchzuführen, die aber äußerst unbefriedigend sind, denn erstens wissen wir nicht wirklich, ob wir dem Kind bei seiner Erkrankung geholfen haben, und zum anderen wurden die Erkenntnisse, die daraus gewonnen wurden, so niedrig, dass man bei dem nächsten Kind wieder von vorne anfangen musste.
Simon: Herr Seyberth, die Arzneimittelhersteller haben ja in der Vergangenheit sich auch gescheut, diese Zulassung für Kinder zu beantragen. Die nötigen Prüfungen sind teuer, die Zielgruppe ist klein, da gibt es nicht so viel Gewinn. War da eine Veränderung nur durch Zwang möglich, wie es jetzt geschehen wird?
Seyberth: Mit "good will", also mit Freiwilligkeit und mit guten Worten war jahrzehntelang keine Bewegung zu erzielen. Erst jetzt nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche kommen wir weiter. Entweder freiwillig, mit aber einer Gegenleistung, so zum Beispiel Patente von Medikamenten zu verlängern, die nun auch bei Kindern geprüft wurden - das ist ein Nutzen für den Hersteller -, oder zu zwingen, wenn er neue Anmeldungen vornimmt ihm zu sagen, wir lassen erst die Anmeldung durchlaufen, wenn es auch für Kinder geprüft worden ist dieses Medikament.
Simon: Sie haben ja jahrzehntelang in den entsprechenden Gremien dafür gekämpft, dass die Industrie vielleicht doch von sich aus den Schritt macht, entsprechende Arzneimittel für Kinder zuzulassen. Was wurde Ihnen denn gesagt als Antwort, warum man das nicht tut?
Seyberth: Die Kardinalantwort war, man darf nach dem Grundgesetz keinen Betrieb dazu zwingen, in Bereiche zu investieren, der sich nicht finanziell rechnet.
Simon: Haben Sie denn aus Ihrer jahrelangen Tätigkeit Kenntnisse über schwere Nebenwirkungen oder Spätfolgen, die Kinder erlitten haben, weil es eben keine für sie zugelassenen Arzneimittel gab und die Ärzte Medikamente für Erwachsene verordnen mussten?
Seyberth: Ja, ich glaube, jeder hat einige Erlebnisse. Sie sind nur nicht so gut dokumentiert und erfasst, weil auch dieses System, solche Nebenwirkungen zu erfassen, überhaupt nicht funktionierte bisher. Das soll alles mit dem neuen Gesetz anders werden.
Simon: Das heißt, selbst wenn Kinder später Nebenwirkungen erlitten oder auch sofort, dann ist das einfach nicht festgehalten worden?
Seyberth: Richtig.
Simon: Und Sie gehen davon aus, dass sich das nun ändert?
Seyberth: Das wird sich ändern, mit Sicherheit.
Simon: Die Arzneimittelhersteller also müssen demnächst gesondert auch Medikamente für Kinder zulassen, wenn das nötig ist. Merken Sie jetzt schon bei Ihren Gesprächen eine Veränderung bei den Zuständigen, bei den Pharmakonzernen?
Seyberth: Oh ja!. Vor allem bei der europäischen Zulassungsbehörde werden jetzt im Vorgriff schon eine Reihe von zukünftigen Studienprotokollen eingereicht, um zu erfahren, ob damit die Studien durchgeführt werden können, ob die europäische Zulassung zustimmen wird. Also im Vorgriff auf die noch nicht in Kraft tretende Verordnung reagiert jetzt schon die pharmazeutische Industrie in Europa und auch in anderen Ländern.
Simon: Das heißt, diese Verordnung wird weitgehend reibungslos dann auch von den Arzneimittelherstellern umgesetzt werden?
Seyberth:! Von den Arzneimittelherstellern so weit es geht jawohl. Probleme haben wir jetzt mit der Infrastruktur, das heißt in unserem Gesundheitswesen, das nun auf diese zusätzlichen Anforderungen sich erst wappnen muss.
Simon: Wenn Sie von Anforderungen sprechen, dann geht es ja zum Beispiel auch um die Tests, denn für die Zulassung der Arzneimittel für Kinder müssen ja Tests auch an Kindern durchgeführt werden. Wird es da nicht schwierig werden, Kinder zu finden für die Versuche mit neuen Medikamenten?
Seyberth: Das glaube ich weniger. Gerade in dem sensiblen Bereich herzkranke Kinder, krebskranke Kinder oder Kinder mit transplantierten Organen wie eine Niere oder Epilepsie und Zuckerkrankheit, diese Eltern wissen ja schon seit Jahrzehnten, dass die Medikamente, die sie zurzeit verordnet bekommen, zum Großteil nur für Erwachsene zugelassen sind, und in dem Beipackzettel sind ja die vielen Gefahren und auch die rechtliche Seite dargestellt worden. Wenn es wirklich nach der jetzigen Situation richtig abgelaufen ist, hat auch der behandelnde Arzt sie darauf hinweisen müssen, dass er die Behandlung vorschlägt, aber die Verantwortung dann in dem Fall, wenn die Eltern zustimmen, bei den Eltern liegt.
Simon: Also auch wenn etwas schief geht?
Seyberth: Jawohl. Es ist keine Produkthaftung, weder vom Arzt noch vom Arzneimittelhersteller, in dieser Situation gegeben.
Simon: Und Sie gehen davon aus, dass in Zukunft diese Eltern eher bereit sind, weil die Studien gut kontrolliert sind, ihre Kinder zur Verfügung zu stellen?
Seyberth: Das nehme ich an.
Simon: Das war Hansjörg Seyberth. Er ist Vorsitzender der Kommission Arzneimittelsicherheit der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Herr Seyberth, vielen Dank für das Gespräch.
Seyberth: Vielen Dank.
Heute aber stimmt das Europäische Parlament in zweiter Lesung über eine Verordnung zu Kinderarzneimitteln ab, und die sieht vor, dass bei jedem Medikament geprüft werden muss, ob dieses Medikament gesondert auch für Kinder zugelassen wird. Verlangt dies die noch einzurichtende Kinderheilkundekommission, dann muss es der Arzneimittelhersteller tun.
Am Telefon ist Professor Hansjörg Seyberth, Vorsitzender der Kommission Arzneimittelsicherheit der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Guten Morgen!
Hansjörg Seyberth: Guten Morgen!
Simon: Herr Seyberth, wenn dieser Entwurf europäisches Recht und damit auch Recht bei uns wird - und alles sieht danach aus -, wie wichtig ist das für die Betroffenen?
Seyberth: Das ist sehr wichtig. Endlich haben wir das erreicht, wofür wir seit etwa 20 Jahren uns einsetzen. Schrittmacher war die USA, die in einem kapitalistischen Land erkennen musste, dass die freie Marktwirtschaft diesen sensiblen Bereich nicht genügend abdeckt.
Simon: Warum müssen Medikamente für Kinder gesondert zugelassen werden?
Seyberth: Kinder sind keine Miniaturausgaben von Erwachsenen. Sie haben ganz besondere Krankheiten. Nehmen wir nur die Angleichung des Organismus nach der Geburt oder die Pubertät oder das Wachstum - ganz besondere Probleme, die ein Erwachsener nicht mehr kennt. Hinzu kommt, dass der Organismus des Kindes mit Arzneimitteln ganz anders umgeht, sie anders verstoffwechselt, sie anders ausscheidet.
Simon: Das heißt, man kann also nicht davon ausgehen, ein Erwachsener, der eine Krebsmedizin berechnet für 70 Kilo bekommt, da nimmt man einfach entsprechend weniger für ein Kind von 30 Kilo, und es hat dieselbe Wirkung?
Seyberth: Das ist richtig. Einmal, wie gesagt, ist das Medikament unter Umständen länger oder kürzer im Körper und kann entsprechend mehr Schaden oder mehr Nutzen einbringen. Zum anderen ist auch die Biologie des Tumors beim Kind eine andere als die beim erwachsenen Menschen oder gar bei dem alten Menschen.
Simon: Aber das heißt, dass die jetzige derzeitige Situation noch so ist, dass Ärzte oft mit Ausprobieren und über dem Daumen Peilen arbeiten?
Seyberth: Pi mal Schnauze, ganz richtig.
Simon: Sie waren ja jahrelang Chef der Uni-Kinderklinik in Marburg. Wie haben Sie sich dabei gefühlt?
Seyberth: Nicht sehr gut, und habe mich immer wieder gewundert, dass wir so mit den Patienten umgehen müssen.
Simon: Und Alternativen waren damals für Sie nicht machbar?
Seyberth: Im eigenen kleinen Kreis eine Untersuchung vorzunehmen oder Heilversuche durchzuführen, die aber äußerst unbefriedigend sind, denn erstens wissen wir nicht wirklich, ob wir dem Kind bei seiner Erkrankung geholfen haben, und zum anderen wurden die Erkenntnisse, die daraus gewonnen wurden, so niedrig, dass man bei dem nächsten Kind wieder von vorne anfangen musste.
Simon: Herr Seyberth, die Arzneimittelhersteller haben ja in der Vergangenheit sich auch gescheut, diese Zulassung für Kinder zu beantragen. Die nötigen Prüfungen sind teuer, die Zielgruppe ist klein, da gibt es nicht so viel Gewinn. War da eine Veränderung nur durch Zwang möglich, wie es jetzt geschehen wird?
Seyberth: Mit "good will", also mit Freiwilligkeit und mit guten Worten war jahrzehntelang keine Bewegung zu erzielen. Erst jetzt nach dem Prinzip Zuckerbrot und Peitsche kommen wir weiter. Entweder freiwillig, mit aber einer Gegenleistung, so zum Beispiel Patente von Medikamenten zu verlängern, die nun auch bei Kindern geprüft wurden - das ist ein Nutzen für den Hersteller -, oder zu zwingen, wenn er neue Anmeldungen vornimmt ihm zu sagen, wir lassen erst die Anmeldung durchlaufen, wenn es auch für Kinder geprüft worden ist dieses Medikament.
Simon: Sie haben ja jahrzehntelang in den entsprechenden Gremien dafür gekämpft, dass die Industrie vielleicht doch von sich aus den Schritt macht, entsprechende Arzneimittel für Kinder zuzulassen. Was wurde Ihnen denn gesagt als Antwort, warum man das nicht tut?
Seyberth: Die Kardinalantwort war, man darf nach dem Grundgesetz keinen Betrieb dazu zwingen, in Bereiche zu investieren, der sich nicht finanziell rechnet.
Simon: Haben Sie denn aus Ihrer jahrelangen Tätigkeit Kenntnisse über schwere Nebenwirkungen oder Spätfolgen, die Kinder erlitten haben, weil es eben keine für sie zugelassenen Arzneimittel gab und die Ärzte Medikamente für Erwachsene verordnen mussten?
Seyberth: Ja, ich glaube, jeder hat einige Erlebnisse. Sie sind nur nicht so gut dokumentiert und erfasst, weil auch dieses System, solche Nebenwirkungen zu erfassen, überhaupt nicht funktionierte bisher. Das soll alles mit dem neuen Gesetz anders werden.
Simon: Das heißt, selbst wenn Kinder später Nebenwirkungen erlitten oder auch sofort, dann ist das einfach nicht festgehalten worden?
Seyberth: Richtig.
Simon: Und Sie gehen davon aus, dass sich das nun ändert?
Seyberth: Das wird sich ändern, mit Sicherheit.
Simon: Die Arzneimittelhersteller also müssen demnächst gesondert auch Medikamente für Kinder zulassen, wenn das nötig ist. Merken Sie jetzt schon bei Ihren Gesprächen eine Veränderung bei den Zuständigen, bei den Pharmakonzernen?
Seyberth: Oh ja!. Vor allem bei der europäischen Zulassungsbehörde werden jetzt im Vorgriff schon eine Reihe von zukünftigen Studienprotokollen eingereicht, um zu erfahren, ob damit die Studien durchgeführt werden können, ob die europäische Zulassung zustimmen wird. Also im Vorgriff auf die noch nicht in Kraft tretende Verordnung reagiert jetzt schon die pharmazeutische Industrie in Europa und auch in anderen Ländern.
Simon: Das heißt, diese Verordnung wird weitgehend reibungslos dann auch von den Arzneimittelherstellern umgesetzt werden?
Seyberth:! Von den Arzneimittelherstellern so weit es geht jawohl. Probleme haben wir jetzt mit der Infrastruktur, das heißt in unserem Gesundheitswesen, das nun auf diese zusätzlichen Anforderungen sich erst wappnen muss.
Simon: Wenn Sie von Anforderungen sprechen, dann geht es ja zum Beispiel auch um die Tests, denn für die Zulassung der Arzneimittel für Kinder müssen ja Tests auch an Kindern durchgeführt werden. Wird es da nicht schwierig werden, Kinder zu finden für die Versuche mit neuen Medikamenten?
Seyberth: Das glaube ich weniger. Gerade in dem sensiblen Bereich herzkranke Kinder, krebskranke Kinder oder Kinder mit transplantierten Organen wie eine Niere oder Epilepsie und Zuckerkrankheit, diese Eltern wissen ja schon seit Jahrzehnten, dass die Medikamente, die sie zurzeit verordnet bekommen, zum Großteil nur für Erwachsene zugelassen sind, und in dem Beipackzettel sind ja die vielen Gefahren und auch die rechtliche Seite dargestellt worden. Wenn es wirklich nach der jetzigen Situation richtig abgelaufen ist, hat auch der behandelnde Arzt sie darauf hinweisen müssen, dass er die Behandlung vorschlägt, aber die Verantwortung dann in dem Fall, wenn die Eltern zustimmen, bei den Eltern liegt.
Simon: Also auch wenn etwas schief geht?
Seyberth: Jawohl. Es ist keine Produkthaftung, weder vom Arzt noch vom Arzneimittelhersteller, in dieser Situation gegeben.
Simon: Und Sie gehen davon aus, dass in Zukunft diese Eltern eher bereit sind, weil die Studien gut kontrolliert sind, ihre Kinder zur Verfügung zu stellen?
Seyberth: Das nehme ich an.
Simon: Das war Hansjörg Seyberth. Er ist Vorsitzender der Kommission Arzneimittelsicherheit der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin. Herr Seyberth, vielen Dank für das Gespräch.
Seyberth: Vielen Dank.