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EU-Sondergipfel zum Brexit
"Die 27, die bleiben, müssen die EU reformieren"

Angesichts des britischen Austritts aus der Europäischen Union verlangt SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz Veränderungen in der EU. Die Staats- und Regierungschefs verhielten sich bislang nur reaktiv, sagte Schulz im Deutschlandfunk. Die EU müsse aber reformiert werden und mehr gegen Steuerflucht, Sozialdumping und Bürokratie tun.

Martin Schulz im Gespräch mit Rainer Brandes | 29.04.2017
    SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz während eines Interviews im Jahr 2014, als er noch EU-Parlamentspräsident war
    SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz: "Was wir dringend brauchen, ist eine Perspektive, wie es mit den 27 anschließend untereinander weitergeht". (Deutschlandradio/ dbate)
    Rainer Brandes: Es zeichnet sich ab, auch die anderen europäischen Staats- und Regierungschef wollen es den Briten nicht zu leicht machen, das hat auch Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgestern in ihrer Regierungserklärung klargemacht. Heute treffen sich in Brüssel alle EU-Staatenlenker – außer Theresa May –, sie wollen ihre Verhandlungsstrategie für den Brexit festzurren. Jörg Münchenberg blickt voraus.
    Jörg Münchenberg über den EU-Sondergipfel zum Brexit. Am Telefon ist jetzt Martin Schulz, SPD-Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat, bis Anfang dieses Jahres noch Präsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen, Herr Schulz!
    Martin Schulz: Guten Morgen, Herr Brandes!
    Brandes: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vorgestern im Bundestag zum Brexit Folgendes gesagt:
    Angela Merkel: Ein Drittstaat – das wird Großbritannien sein –, kann und wird nicht über die gleichen Rechte verfügen oder womöglich sogar noch bessergestellt werden können als ein Mitglied der Europäischen Union. Ich muss das leider hier so deutlich aussprechen, denn ich habe das Gefühl, dass sich einige in Großbritannien darüber noch Illusionen machen.
    Brandes: Herr Schulz, Angela Merkel droht den Briten also mit harten Verhandlungen – ist das wirklich der richtige Weg, ein Exempel an den Briten zu statuieren?
    Schulz: Ich glaube, es wird kein Exempel an den Briten statuiert, wenn man diese, ja, im Prinzip banale Wahrheit ausspricht. Großbritannien hat entschieden, aus der EU auszutreten und nicht umgekehrt die EU Großbritannien gebeten zu gehen. Ich hab diesen Prozess intensiv miterlebt. Wäre man mit der Klarheit, mit der heute gegenüber Frau May geredet wird, schon gegenüber Herrn Cameron aufgetreten, also der seine merkwürdige Strategie, die am Ende ja komplett gescheitert ist, anfing vor etwa zwei Jahren, dann wäre Großbritannien wahrscheinlich heute noch Mitglied in der EU. Insofern, ja, das ist ein Risiko, dass Großbritannien sich Illusionen macht.
    "Ich bin dafür, dass man den Fahrplan von Tusk einhält"
    Brandes: Aber gehören Sie jetzt also auch zu denen, die sagen, mit Abschreckung hält man die EU zusammen?
    Schulz: Glaube ich nicht. Das ist ja sowieso das ganz große Problem. Es wird wieder – wie so oft unter den Staats- und Regierungschefs – nur reaktiv diskutiert. Was wir ja dringend brauchen, ist ja eine Perspektive, wie es mit den 27 anschließend untereinander weitergeht. Was machen wir eigentlich bei der Bekämpfung der Steuerflucht, können wir es uns erlauben, dass Großbritannien droht, selbst eine große Insel als Steuerparadies vor den Toren der EU zu werden, und die EU diskutiert nicht darüber, wie sie unter den 27 Steuervermeidung, Steuerflucht bekämpft. Was ist eigentlich mit dem Sozialdumping im Inneren der Europäischen Union? Auch da will Großbritannien angreifen, indem es Firmen wegzieht mit Sonderkonditionen, die zulasten der Arbeitnehmer geht. Aber all diese Dinge, die ja die 27 betreffen in der Zukunft, wird überhaupt nicht diskutiert. Deshalb, ich bin dafür, dass man den Fahrplan von Tusk einhält zunächst mal, das, was er als Scheidungsmodalitäten betrachtet hat, zu definieren – das ist richtig –, und in der Zwischenzeit die zukünftigen Beziehungen in Großbritannien zu orientieren an dem, was die 27, die verbleiben, untereinander für richtig halten.
    Brandes: Sie haben sich jetzt seit dem offiziellen Austrittsgesuchen von Großbritannien eigentlich nicht mehr in der Öffentlichkeit dazu geäußert. Wird es nicht langsam Zeit, dass die Öffentlichkeit erfährt, wie der vielleicht künftige Bundeskanzler, ich sag mal, zur Freizügigkeit, zum Binnenmarkt mit Großbritannien und so weiter steht? Was ist da Ihre Position?
    Schulz: Ich bin ein bisschen erstaunt über Ihre Frage, aber möglicherweise haben Sie so viel zu tun, dass Sie meine Reden ja auch nicht immer lesen und hören können. Ich hab mich zum Brexit und zur Europapolitik praktisch in jeder Rede, in jedem Interview geäußert, übrigens mit dem Grundsatz, dass es mit mir auch in der Zukunft kein Schlechtreden der EU gibt, denn die 27, die bleiben, werden genau das tun müssen, was ich gerade angedeutet habe: die EU reformieren. Und dazu gehört vor allen Dingen, dass wir die entscheidenden Felder, in denen die EU sich selbst schwächt – Sozialdumping, Steuerflucht, das sind die Dinge, Bürokratie, wenig Transparenz, mehr demokratische Teilhabe, übrigens auch die Einhaltung der Grundrechte. Schauen Sie sich mal an, was da in Ungarn läuft. Da gibt es einen Ministerpräsidenten, den Herrn Orbán, der fundamentale Prinzipien der EU infrage stellt, anschließend von Herrn Seehofer als Ehrengast zu CSU-Parteitagen eingeladen wird. Über die Dinge hab ich, glaube ich, in der Vergangenheit sehr intensiv auch seit Januar geredet, und das werde ich auch in der Zukunft tun.
    Brandes: Das wird ja jetzt auch immer dringender. Wenn es ganz schlecht läuft aus Sicht der EU, dann wählen die Franzosen in einer Woche die Rechtspopulistin Le Pen zur Präsidentin, die zettelt dann vielleicht einen "Fraxit" an. Müssen wir als Deutsche, müssen auch Sie als Kanzlerkandidat jetzt langsam aktiv Werbung für die positiven Seiten der EU machen?
    Schulz: Na ja, also diese Frage an mich zu richten, glaube ich, ist sicher am Samstagmorgen richtig, aber meine ganze politische Karriere hab ich bisher genau damit verbracht, die positiven Seiten der EU in den Mittelpunkt meiner Arbeit zu stellen, und das werde ich auch in der Zukunft. Und ich wiederhole noch mal: Es gibt ja eine ganze Menge Leute, die ihre Wahlstrategien in der Vergangenheit darauf aufgebaut haben, alles Schlechte kommt aus Brüssel, alles Gute kommt aus dem Nationalstaat, die gibt's auch bei uns, und zwar in allen Parteien – in meiner nicht, aber ich könnte Ihnen ein paar nennen. Und da werde ich in jedem Fall gegenhalten. Was die Frau Le Pen angeht, auch hier hab ich mich in klaren deutschen Hauptsätzen seit Jahren gegen diese Dame gestellt, deren Rhetorik ja nicht nur antieuropäisch, sondern rassistisch, fremdenfeindlich und übrigens in zunehmendem Maße auch antideutsch ist. Ich hab mich übrigens auch im Deutschlandfunk in den vergangenen Jahren gerade gegen diese Frau massiv gestellt. Ich glaube, dass die Franzosen mit breiter Mehrheit auch dafür sorgen werden, dass diese Frau nicht Präsidentin wird.
    "Meine Amtsführung ist für korrekt befunden worden"
    Brandes: Sie waren aber auch jemand, der im EU-Parlament quasi der Manager einer großen Koalition war, und viele Menschen sehen die EU als den Hort des Neoliberalismus, Union der Banken et cetera, und da waren immer Großbritannien und Deutschland die wichtigsten Staaten, die das hochgehalten haben, diese Union der Banken, so sehen das jedenfalls viele. Wird sich das unter Ihrer Führung einer Bundesregierung, wird sich daran jetzt etwas ändern?
    Schulz: Ja, ganz sicher. Es ist auch so, dass die sogenannte große Koalition im Europaparlament das Resultat einer parteipolitischen Zersplitterung im Parlament war, die uns dazu zwang zusammenzuarbeiten, um minimale Standards zur Sicherung von sozialer Sicherheit, von mehr Kontrolle im Spekulationskapitalismus überhaupt durchsetzbar zu machen. Dass die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland, vor allen Dingen in den Jahren 2009 bis 2013, gemeinsam mit der damaligen Cameron-Regierung dafür gesorgt hat, dass die notwendigen Maßnahmen bei mehr Kontrolle, vor allen Dingen im Bankenbereich, nicht durchgesetzt wurden in dem Maße, wie wir das im Parlament damals wollten, das ist allerdings richtig …
    Brandes: Ja, aber die SPD ist doch mit in der Regierung, die hat das doch alles mitgemacht, auch die Austeritätspolitik.
    Schulz: Aber schön, dass Sie vergessen haben, dass zwischen 2009 und 2013 eine schwarz-gelbe Regierung in Deutschland regiert hat.
    Brandes: Nee, das hab ich nicht vergessen, aber seit 2013 regiert die SPD wieder mit.
    Schulz: Ja, und wir haben in jedem Fall und in jeder einzelnen Maßnahme, seit wir 2013 in der Regierung sitzen, darauf gedrängt, dass insbesondere die Maßnahmen bei der Kontrolle im Bankenbereich, dass die Maßnahmen bei mehr Transparenz, bei den Maßnahmen gegen die Steuerflucht die Bundesregierung eine andere Haltung einnimmt. Ich muss Ihnen aber noch mal sagen, dass bei der Bewältigung der Bankenkrise 2009 bis 2013 – da war die Gesetzgebung auf dem Tisch in Brüssel, das haben Sie ja selbst in Ihrer Frage gesagt – die Bundesregierung gemeinsam mit der Cameron-Regierung die Blockadehaltung eingenommen hat. Und Ihre Frage, würde ein Kanzler Martin Schulz mit einer anderen Regierungsmehrheit das anders machen, die kann ich mit einem klaren Ja beantworten.
    Brandes: Nun ist Ihre Amtsführung als EU-Parlamentspräsident ja auch nicht ganz unumstritten. Erst diese Woche hat nun das Europäische Parlament Sie ganz offiziell gerügt für Ihre Amtsführung, es geht da um Beförderung von Mitarbeitern und auch eine Dauerdienstreise Ihres Mitarbeiters Markus Engels, der jetzt SPD-Wahlkampfmanager ist. Haben Sie damit der EU einen Bärendienst erwiesen?
    Schulz: Es sind da Vorwürfe von Leuten gegen mich erhoben worden, hauptsächlich von Abgeordneten der Union und von Frau Le Pen. Diese Vorwürfe sind von unabhängigen Instanzen der Parlamentsverwaltung und von den Ermittlungsbehörden der EU geprüft worden, und meine Amtsführung ist für korrekt befunden worden.
    Brandes: Na ja, aber auch Grüne, Liberale, Linke und sogar einzelne Sozialdemokraten haben am Donnerstag dafür gestimmt.
    Schulz: Dass dann anschließend meine politischen Gegner sich zusammentun, angeführt vorwiegend von Unionsabgeordneten gemeinsam mit der Front National, mit Frau Le Pen, in einer Kampfabstimmung dann mich zu verurteilen, obwohl meine Amtsführung als korrekt bestätigt wurde – na ja, Herr Brandes, wir sind mitten im Wahlkampf.
    "Wir sind mitten im Wahlkampf"
    Brandes: Na ja, so einfach ist es vielleicht nicht. Das war natürlich legal, das ist bestätigt, da haben Sie recht, aber ist automatisch auch legitim, was legal ist?
    Schulz: Wenn ich eine korrekte Amtsführung bestätigt bekomme, was übrigens das Parlament mit breiter Mehrheit anschließend ja beschlossen hat, mich zu entlasten – das ist ja erstaunlich, mir wird Entlastung für meine Amtsführung erteilt, und gleichzeitig verurteilen die gleichen Leute mein Handeln. Das ist Politik, damit muss ein Wahlkämpfer leben.
    Brandes: Aber es geht da ja unter anderem um eine 16-prozentige Auslandszulage für Ihren Mitarbeiter Engels, den er bekommen hat. Wie passt das zusammen mit dem Lied vom armen fleißigen Arbeiter, der den ganzen Tag malocht, aber dabei dann nicht genug zum Leben verdient, das Sie im Wahlkampf ja so oft singen?
    Schulz: Ich will das gerne noch mal beantworten. Die Vorwürfe, die gegen mich erhoben worden sind, die können wir beide jetzt gerne hier diskutieren, aber es gibt unabhängige Prüfungsinstanzen, die geprüft haben, ob mein Handeln korrekt und rechtmäßig war – darunter übrigens die Betrugsbekämpfungsbehörde der EU, die zu dem Ergebnis gekommen ist, dass sie nicht mal ein Ermittlungsverfahren einleiten kann, weil es keine Verstöße gibt. Dass ich mich anschließend dann Fragen von Moral oder Legitimität vorhalten lassen muss – na bitte, wir sind mitten im Wahlkampf. Das begann mit dem Tag meiner Nominierung.
    Brandes: Danke, Martin Schulz, SPD-Parteichef und Kanzlerkandidat live in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Herzlichen Dank für das Gespräch!
    Schulz: Bitte sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Das gesamte Gespräch können Sie sechs Monate in unserer Mediathek nachhören.