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EU-Treffen in Biaritz

Engels: Guten Morgen Herr Schäuble.

    Schäuble: Guten Morgen Frau Engels.

    Engels: Herr Schäuble, Sie gelten als europapolitischer Vordenker Ihrer Partei. Sind Sie denn mit dem Reformstand der Europäischen Union, wie er sich derzeit darstellt, zufrieden?

    Schäuble: Nein. Das ist natürlich nicht zureichend, aber Biaritz war ja nur ein Zwischenschritt; die Entscheidungen stehen in Nizza an. Aber das, was in dem Vorbericht beschrieben worden ist, zeigt ja genau, wo das Problem liegt. Solange sich die Mitgliedstaaten, solange sich die Europäer in der Europäischen Union nicht darüber verständigen, was denn auf Dauer die Europäische Union machen soll und was nicht - was in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleibt -, solange werden sie sich in den institutionellen Reformen immer nur auf ein Minimum verständigen können. Im Grunde genommen ist ja die Denkweise, die Kommission besteht aus Vertretern der Mitgliedstaaten, ganz falsch. Die Kommission muss eigentlich getragen sein vom Vertrauen der Europäer durch das Europäische Parlament, und die Vertretung der Mitgliedstaaten geschieht im Rat der Vertreter der europäischen Regierungen. An diese Schwelle bei der Einigung stößt man immer deswegen, weil natürlich jeder sagt: Solange nicht klar ist, was Europa noch alles an sich zieht und an sich ziehen kann, solange gilt für uns diese Position 'ein Staat - ein Kommissar' - Das ist und klingt ja furchtbar, aber es ist eben verständlich - es erklärt sich aus der Tatsache, dass die Zuständigkeitsfrage nicht beantwortet ist. Deswegen fordern CDU und CSU seit Jahren einen Verfassungsvertrag. Und man muss in Nizza begreifen, das man in Nizza sich an die Erarbeitung eines solchen Kompetenzkataloges machen muss.

    Engels: Sie haben es angesprochen - bzw. im Vorbericht klang es an: Bundeskanzler Schröder hat offenbar angedeutet, sich auch eine Verkleinerung der Kommission vorstellen zu können, möglicherweise auch eine Rotation. Das heißt, Deutschland könnte vielleicht zeitweise auf einen Kommissar verzichten. Das müsste doch eigentlich in Richtung dessen gehen, was Sie fordern.

    Schäuble: Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es ist immer noch die falsche Denkweise. Ich will auch nicht eine Rotation bei der Kommission, sondern ich will eine Kommission, deren Präsident zumindest vom Europäischen Parlament, also von der gewählten Vertretung aller Europäer, gewählt wird, und nicht nach nationalen Gesichtspunkten - und der sich dann eine Kommission zusammenstellt - von mir aus im Benehmen mit den Mitgliedstaaten, die das Vertrauen des Europäischen Parlaments braucht. Auch Schröder denkt immer noch nur in nationaler Vertretung, indem er sagt: 'Gut, dieses Jahr sind wir dran und nächstes Jahr die Franzosen' - das ist dann Rotation. Eine verkleinerte Kommission ist richtig. Die Erkenntnis, dass auch notfalls Mitgliedstaaten kein Mitglied in der Kommission haben, ist auch richtig - und wenn es denn richtig ist, so muss es auch für Deutschland gelten; das ist insoweit auch richtig. Aber das Denken in Rotation ist immer noch das alte und falsche Denken.

    Engels: Streit gibt es auch nach wie vor über die Stimmengewichtung im Ministerrat - ein heikles Thema. Dort wird sich ja dafür ausgesprochen zum teil, dass stärker die Bevölkerungsanteile - also die der großen Staaten - berücksichtigt werden soll. Das würde auch in Ihre Richtung gehen. Das heißt, die kleineren Staaten, die national andere Interessen haben, müssten überstimmt werden.

    Schäuble: Ja, wir brauchen in Europa auf jeden Fall für eine lange Zeit doppelte Mehrheiten. Das heißt, auf der einen Seite Entscheidungen durch Mehrheiten der Mitgliedstaaten, aber eben auch eine Mehrheit der Bevölkerung. Luxemburg hat ein paar Einwohner weniger als Frankreich oder Deutschland, und deswegen müssen die Mehrheiten sowohl durch ein 'mehr' in der Bevölkerung als auch Mehrheiten der Mitgliedstaaten sein. Ich finde, wenn man konsequent wäre, sollte man eigentlich das Parlament stärker an den Entscheidungen beteiligen; dort geht es nach der Mehrheit der Bevölkerung. Im Parlament hat Deutschland mehr Sitze als Frankreich oder Luxemburg und Belgien. Und wenn die Rolle des Parlaments größer und wichtiger wäre, dann kann der Rat das Element bleiben, wo nach der Mehrheit der Mitgliedstaaten entschieden wird. Die Rolle des Rates muss nur in ein besseres Gleichgewicht zum Parlament gebracht werden.

    Engels: Sie sprechen die Hoffnung darauf, das Parlament zu stärken, an. Auf der anderen Seite sind ja nicht nur die Mitgliedstaaten vielleicht da etwas zögerlich. Es gibt auch durchaus Widerstände von den deutschen Bundesländern - auch zum Teil von Bundesländern, die von der CDU geführt werden -, dass zum Teil Gebiete, wie eben die öffentliche Daseinsfürsorge, den Erhalt von Sparkassen u.ä. anspricht, dass das in Länderkompetenz bleiben soll. Die drohen sogar damit, dann die weitere Integration zu behindern. Müssten Sie sich da nicht an die eigene Nase fassen?

    Schäuble: Nein, das ist ja genau der Punkt. Es muss natürlich, wenn man eine stärkere Rolle des Parlaments will, zuvor durch einen Vertrag, der Verfassungscharakter hat wie unser Grundgesetz, geklärt werden, wofür das Parlament zuständig ist und wofür nicht. Schauen Sie, die Bundesländer in Deutschland brauchen keine Sorge zu haben, dass der Bundestag Gesetze zur Schulpolitik erlässt. Das steht im Grundgesetz, dass dafür die Länder und nicht der Bund zuständig ist. Und wenn der Bundestag das machen wollte, würden die Länder beim Verfassungsgericht klagen, und ein solches Gesetz würde blitzartig aufgehoben. Wenn das im Prinzip in Europa gewährleistet ist, dann werden wir erreichen - und darüber sind sich CDU und CSU völlig einig -, dass wir die Rolle des Parlaments stärken können. Die muss auch gestärkt werden. Europa kann doch nur demokratisch zu einer politischen Union werden, und Demokratie heißt eben 'Parlament' und nicht Herrschaft von Regierungsvertretern in Hinterstuben, so wie jetzt in Biaritz. Das ist ja nicht - wenn Sie so wollen - eine demokratische Entscheidung, sondern da sind 15 Staats- und Regierungschefs, die jeder in ihrem Land natürlich demokratisch legitimiert sind - aber das Gremium in Biaritz ist es nicht.

    Engels: Das wäre jetzt aber auch der Blick nach innen - wenn man das Parlament stärken will. Wie soll denn parallel zu einer Vertiefung auch noch die EU sich öffnen? Wie soll dann die Öffnung in Richtung Osteuropa geschehen, wenn diese Forderungen, die Sie haben, auch noch eingebunden werden sollen?

    Schäuble: Die Forderungen, die wir haben, führen ja dazu, dass das Regelungswerk in Europa sehr viel einfacher werden kann. Und wenn Europa größer werden soll und größer werden muss - das ist ja unser eigenes größtes Interesse, dass unsere Nachbarn im Osten möglichst bald auch zur Europäischen Union gehören . . .

    Engels: . . . wann soll das der Fall sein? . . .

    Schäuble: . . . ich sage ja, die wirtschaftliche Integration braucht Zeit, aber politisch sollten die Polen längst dabei sein. Ich würde auch die Art des Beitritts ein wenig anders organisieren. Für die wirtschaftliche Integration hat man übrigens auch bei Spanien und Portugal nach dem Beitritt noch bis zu 15 Jahren Übergangsfristen gehabt. Das wird man bei unseren Nachbarn im Osten auch brauchen. Aber gerade wenn man ein größeres Europa hat, muss man die institutionellen Regelungen einfacher, klarer, transparenter, für die Bevölkerung bzw. die Menschen verständlich und demokratisch machen. Und unsere Vorschläge gehen ja auf ein einfacheres, klareres, demokratisch durchschaubares und legitimiertes Europa hinaus. Im übrigen: Warum sollen an diesen Reformen eigentlich die Osteuropäer nicht mitwirken? Jetzt wird ja in Biaritz wieder der Eindruck erweckt: Da sitzen die 15 zusammen und sagen: 'Wir wollen gerne, dass die anderen - die Polen, die Ungarn, die Tschechen - bald dazukommen, aber vorher müssen wir Europa so ändern, dass wir 15 jetzt entscheiden, was die anderen dann zu akzeptieren haben'. Das ist ja auch nicht gerade eine vernünftige Form, ein großes Europa zu bauen.

    Engels: Aber täte man den Polen denn beispielsweise einen Gefallen, sie in eine Europäische Union zu integrieren, die noch nicht wieder handlungsfähig ist, weil die Reform fehlt?

    Schäuble: Sie dürfen sich herzlich gerne beteiligen, sie wieder handlungsfähiger zu machen. Und ich sage ja: Das geht natürlich nur, wenn die wirtschaftliche Integration, auch die Niederlassungsfreiheit für Arbeitnehmer - aber das ist ohnedies vorgesehen - nur in dem Maße verwirklicht werden kann, wie es den wirtschaftlichen Realitäten entspricht, also mit Übergangsfristen. Aber die Polen würden natürlich seit 1990 dabei sein; die Polen sagen: 'Wir haben schließlich eine Freiheitsrevolution in Europa auf den Weg gebracht, die den Deutschen ihre Einheit ermöglicht hat und den Europäern den eisernen Vorhang genommen hat'. Und das wichtigste ist doch, dass ein großes starkes Europa den Frieden und die Freiheit für die Zukunft sicher macht. Und jetzt sind schon über zehn Jahre vergangen, und die Beamten und Experten verhandeln in unglaublich mühevollen und komplizierten Prozeduren. Da kann man doch zwischendurch verzweifeln.

    Engels: Noch kurz zum Schluss: Glauben Sie an einen Durchbruch in Nizza?

    Schäuble: Nein. Ich hoffe, dass man in Nizza wieder einen Schritt vorankommt, und ich bin ja für jeden Schritt, den man vorankommt, auch dankbar. Deswegen habe ich ja vorher bei dem Vorschlag, den der Bundeskanzler gemacht hat, gesagt: 'Es ist immerhin ein Schritt in die richtige Richtung'. Man darf nicht 'alles oder nichts' sagen.

    Engels: Herr Schäuble, hier müssen wir Schluss machen. Das war der ehemalige CDU-Vorsitzende Wolfgang Schäuble. Er ist auch europapolitischer Vordenker seiner Partei. Auf Wiederhören.

    Schäuble: Auf Wiederhören.