Donnerstag, 28. März 2024

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EU-Türkei-Gipfel
"Der Tag der Zerstörung Europas"

Die "Zaman"-Zeitung sei "so wenig terroristisch wie andere Zeitungen am Pranger", sagte die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen im DLF. Staatspräsident Erdogan nutze aus, dass sich die EU bei der Flüchtlingspolitik auf die Türkei verlasse - und damit ihre eigene Existenz riskiere.

Sevim Dagdelen im Gespräch mit Bettina Klein | 05.03.2016
    Die Linkenpolitikerin Sevim Dagdelen.
    Die Linkenpolitikerin Sevim Dagdelen. (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Bettina Klein: Am Telefon begrüße ich Sevim Dagdelen, sie ist Bundestagsabgeordnete der Linkspartei und dort unter anderem Sprecherin für internationale Beziehungen ihrer Fraktion. Guten Tag, Frau Dagdelen!
    Sevim Dagdelen: Guten Tag, Frau Klein!
    Klein: Beginnen wir mit der Aktion gestern in Istanbul. Die türkische Polizei geht massiv vor gegen die oppositionelle Zeitung "Zaman" - aus Ihrer Perspektive: Nutzt die Türkei im Augenblick, dass sie von Europa derzeit mehr gebraucht wird denn je, und geht relativ ungeniert gegen Oppositionelle vor?
    Dagdelen: Ja, auf jeden Fall. Der Staatspräsident Erdogan, aber auch sein Ministerpräsident Davutoğlu, der ja seine Marionette ist, nutzen im Moment, dass die Bundesregierung auf alles, was die viel beschworenen europäischen und auch westlichen Werte waren, pfeift, damit Erdogan ihnen die Flüchtlinge vom Hals hält, und dabei geht er rigoros, martialisch gegen Kurden vor und alles, was andersdenkend ist. Und die ganze Unberechenbarkeit sieht man daran, dass selbst bei diesem Infight der Islamisten - also die Gülen-Bewegung, die der strategische Partner des Muslimbruders Erdogan war lange Zeit, bis 2013 - diese strategische Partnerschaft ist aufgekündigt, aber trotzdessen geht er auch massiv gegen die vor, also auch trotzdessen, dass sie ideologisch ja eigentlich einer Meinung sind - das sind alles Islamisten, und daran sieht man, dass ihm selbst die Islamisten nicht weit genug gehen.
    Klein: Also Sie sagen auch, dass diese Zeitung keine Verbindung zu Terrorgruppen gehabt hat und dass dieser Vorwurf unbegründet ist, oder wie verstehen wir Sie?
    Dagdelen: Also ich denke, dass in den letzten Jahren Regierungszeit der AKP man gesehen hat, alles, was nicht konform geht mit Erdogans Meinung, ist sofort unter Terrorverdacht. Ich denke, dass die "Zaman" genauso wenig terroristisch ist wie andere Zeitungen, die im Moment am Pranger stehen in der Türkei.
    Klein: Wir haben es angedeutet, die Europäische Union durchlebt derzeit nicht gerade ihre Türkei-kritischste Phase, um es mal so zu formulieren. Beim Gipfel am Montag soll das Land mit ins Boot geholt werden, um die Flüchtlingsthematik eben besser zu organisieren. Was ist die geeignete Reaktion der Europäischen Union jetzt?
    Dagdelen: Also ich glaube, wenn das alles so kommt, was die EU und auch die Türkei am 7. März vereinbaren wollen, wird der 7. März als ein Tag der Zerstörung Europas in die Geschichte eingehen.
    Klein: Weshalb?
    Dagdelen: Weil dort alles, was wir an europäischen Werten haben, oder von denen wir dachten, dass wir sie haben, hier zu Grabe getragen werden. Alles, was Grundgesetz heißt, was das Recht auf Asyl bedeutet, was Menschenrechte heißen, was Humanität heißt, all das wird hier zu Grabe getragen und Erdogan auf dem Silbertablett mit sehr viel Geld zur Verfügung gestellt, ihm serviert, und Erdogan bedient sich da. Aber ich glaube, dass diese Bücklinge in Ankara nicht nur beschämend sind, ich glaube, dass sie keineswegs geeignet sind, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Sie werden stattdessen ständig neue Forderungen von Erdogan produzieren, wie wir jetzt sehen. Er fordert, dass die Visafreiheit für die 80 Millionen Türken in die EU nicht erst im Oktober oder November kommt, sondern gleichzeitig mit dem Rückübernahmeabkommen im Juni schon gelten soll. Also auf der einen Seite möchte man die Flüchtlingsabwehr mit der Türkei, auf der anderen Seite wird man Visafreiheit für 80 Millionen Türken gewähren.
    Klein: Frau Dagdelen, Sie sprechen davon, dass die europäischen Werte zu Grabe getragen werden, damit meinen Sie doch aber offenbar die Türkei, denn davon kann ja in der Europäischen Union keine Rede sein.
    Dagdelen: Na ja, aber wenn man dem deutschen Innenminister zuhört, Herrn de Maizière, hat man ja eigentlich schon fast das Gefühl, man hört dem türkischen Innenminister zu, der da meint, dass man sich nicht einmischen möchte beim Thema Menschenrechtsverletzungen, aber gleichzeitig beispielsweise auch diese ganze Abschiebezentren der EU werden ja von Deutschland forciert in der EU. Frau Merkel und auch de Maizière erwecken hier den Anschein, als würden sie beispielsweise die Türkei dafür bezahlen und deshalb mit ihnen dort verhandeln, weil die Türkei syrische Flüchtlinge aufnehmen soll, dabei ist man da dran, hier faktisch die Abschiebung von syrischen Flüchtlingen in den Bürgerkrieg mit zu organisieren mit der Türkei. Und deshalb verletzt man selber natürlich hier auch alles, was im Grundgesetz beispielsweise im europäischen Recht oder in internationalen Verträgen normalerweise für uns bindend ist.
    Klein: Aber da gibt es doch möglicherweise noch mal einen Unterschied zwischen der Erstürmung einer regierungskritischen Zeitung und der Errichtung von Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Europa?
    Dagdelen: Man sieht aber hier, dass alles, was an europäischen Werten, an europäischem Recht, an internationalen Konventionen, Genfer Flüchtlingskonvention, Grundgesetz beispielsweise - alles das wird ja hier über Bord geworfen. Das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl wird von der Bundesregierung hier versenkt und beerdigt mit der Türkei mit diesen Abschiebezentren. Und man sieht beispielsweise auch, dass Erdogan kein verlässlicher Partner ist darin, weil er doch verlässlich für immer mehr Flüchtlinge sorgt. Je repressiver er ist, umso devoter ist die EU. Die stürmen Redaktionsräume, die führen einen Krieg gegen die Kurden seit Monaten und haben 200.000 Kurden in die Flucht getrieben, die ersten türkischen Kurden sind schon auf den griechischen Inseln angekommen. Es wird die Grenze zum IS, der den Nachschub von dort organisiert an Kämpfern, an Waffen, an Ölverkauf beispielsweise, diese 100 Kilometer Grenze werden von der zweitgrößten Armee aller NATO-Mitglieder nicht geschlossen. IS-Kämpfer werden gesund gepflegt in türkischen Krankenhäusern. Man weiß, die Unterstützung von islamistischen Dschihadisten durch die Türkei, man weiß, dieser Krieg wird neue Flüchtlinge produzieren, auch in der Türkei, selbst gegen die Kurden.
    Klein: Bei allem Verständnis für die Kritik an Erdogan, Frau Dagdelen, noch mal nachgefragt: Was ist denn die Alternative? Das, was Sie gerade zutiefst kritisiert haben, ist ja auch ein Teil Realpolitik, dass man also versucht, diejenigen, die wirklich asylberechtigt sind, möglicherweise von denen besser unterscheiden zu können, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa kommen. Noch mal: Was ist die Alternative Ihrer Meinung nach, sollte man komplett die Türkei außer Acht lassen als Verhandlungspartner im Augenblick?
    Dagdelen: Nein, das sage ich nicht, ich glaube nur, dass Merkels Hoffnungsträger am Bosporus, nämlich Erdogan und seine AKP-Regierung, gehören in dem Syrienkonflikt zu den Fluchtverursachern und verursachen natürlich auch noch mal Flucht bei den türkischen Kurden. Das heißt, man wird die Zahl der Flüchtlinge einfach nicht reduzieren können mit einem der Fluchtverursacher, das ist Nummer eins. Nummer zwei ist, wenn man in der EU einen Funken an Glaubwürdigkeit bewahren möchte, müssten zum Beispiel die Finanzhilfen an die Türkei und der damit zusammenhängende Aktionsplan zur Flüchtlingsabwehr zurückgenommen werden. Stattdessen sollten zum Beispiel die drei Milliarden Euro im Rahmen des UNHCR dem Welternährungsprogramm zur Verfügung gestellt werden. Und man muss natürlich thematisieren, dass die Türkei endlich diese Grenze zum IS schließen muss, weil dadurch wird dieser Krieg weiter befördert in Syrien, und dadurch werden Flüchtlinge befördert. Ich finde, es wird hier suggeriert, dass man eine Lösung parat hat am 7. März, dabei hat man keine Lösung parat, sondern ist völlig verloren, weil man sich völlig ausliefert an einen Autokraten wie Erdogan.
    Klein: Und wir werden schauen, was der Gipfel am kommenden Montag, am 7. März bringen wird. Heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk war das Sevim Dagdelen, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei. Danke Ihnen für das Gespräch!
    Dagdelen: Ich danke Ihnen auch, Frau Klein!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.