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EU-Verteidigungsunion
"Keine Konkurrenzveranstaltung zur NATO"

In Brüssel haben die zuständigen Minister eine EU-Verteidigungsgemeinschaft auf den Weg gebracht. Damit ist der erste kleine Schritt in Richtung gemeinsamer EU-Armee gemacht. "Aber es gibt nach wie vor eine ganze Reihe an Pferdefüßen", sagte der Politikwissenschaftler Johannes Varwick im Dlf.

Johannes Varwick im Gespräch mit Mario Dobovisek | 14.11.2017
    Eine Verteidigungsunion soll die EU stärken - hier eine Militärübung in Ungarn
    Eine Verteidigungsunion soll die EU stärken - hier eine Militärübung in Ungarn (imago)
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich jetzt Johannes Varwick, Politikwissenschaftler an der Universität Halle-Wittenberg. Dort forscht er unter anderem zu internationalen Organisationen wie NATO und EU. Guten Abend, Herr Varwick!
    Johannes Varwick: Guten Abend, Herr Dobovisek.
    Dobovisek: Etwas Großes, ein historischer Moment, ein großer Tag für Europa, ein Meilenstein, bis vor kurzem noch undenkbar - ist all diese Euphorie, die ich gerade zitiert habe, die wir da heute vernehmen, gerechtfertigt?
    Varwick: Ja, man kann der Europäischen Union auch ruhig mal gratulieren. Das hat sie gut gemacht und ich will auch nicht daran herummäkeln. Es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es ist kein Quantensprung und diejenigen, die sich schon ein bisschen länger mit dem Thema beschäftigen, wissen, dass die Europäische Union im Bereich der Sicherheitspolitik bisher immer viel mehr Ambitionen hatte als Wille und Fähigkeiten. Wir haben zum Beispiel schon 1999 von dem damaligen zuständigen Javier Solana gehört, die GSVP oder die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik würde sich mit Lichtgeschwindigkeit entwickeln. Wir haben schon seit langem eine EU-Verteidigungsagentur. Wir haben schon lange EU-Battlegroups, die noch nie eingesetzt worden sind. Also ich bin noch nicht wirklich davon überzeugt, dass wir jetzt den Schritt gemacht haben von Rhetorik zu Substanz. Das muss man beobachten. Nicht mäkeln, aber doch eine gewisse Skepsis bleibt bei mir.
    Dobovisek: Geht es ohne die Briten leichter, weil die Briten bisher auf der Bremse standen?
    "Die Europäer verschwenden sehr, sehr viel Geld"
    Varwick: Das ist ganz gewiss so. Die Briten sind bei dem Thema tatsächlich die Vetomacht gewesen, und die ist jetzt weg. Es geht ja bei dieser ständig strukturierten Zusammenarbeit letztlich darum, dass eine Gruppe von Mitgliedsstaaten, die gemeinsam was machen will, enger das gemeinsam machen können soll, und da hat Großbritannien bisher diesen Auslösungsmechanismus, der dafür nötig ist, immer blockiert. Jetzt können sie das nicht mehr oder wollen das nicht mehr, weil sie absehbar raus sind, und jetzt können die, die das wirklich gemeinsam machen wollen, wirklich mehr machen. Sie können ihre militärischen Fähigkeiten besser gemeinsam in die Waagschale werfen, und dieser Grundgedanke ist völlig richtig. Weil wenn man sich nur mal das Gewicht zwischen den Amerikanern und den Europäern anguckt, dann ist es tatsächlich so, dass bei größerer Bevölkerungszahl der Europäer auch ohne Großbritannien, bei vergleichbarer Wirtschaftskraft zwischen USA und der Europäischen Union, die Europäer sehr, sehr viel weniger für Verteidigung ausgeben und das, was sie ausgeben, noch sehr viel verschwenden. Sie haben zum Beispiel, wenn man Waffensysteme anguckt, 20 Kampfflugzeuge in Europa, 20 Systeme von Kampfflugzeugen, in den USA nur sechs. Es gibt ungefähr 180 Waffensysteme in Europa, in den USA nur 30, 17 Kampfpanzersysteme in den europäischen Staaten, in den USA nur einer. Wenn man das zusammenlegen könnte und das jetzt wirklich passiert, dann kann man tatsächlich sehr, sehr viel machen im Bereich der Sicherheitspolitik, und es ist vieles vernünftig. Aber es gibt auch nach wie vor eine ganze Reihe an Pferdefüßen.
    Dobovisek: Deshalb haben heute ja auch viele deutsche Stimmen gesagt und sind nicht müde geworden, das zu erwähnen, dass künftig bei Rüstungsausgaben kräftig gespart werden könne. Gleichzeitig haben sich die 23 EU-Staaten aber zu 20 Voraussetzungen verpflichtet. Eine davon lautet, dass das nationale Verteidigungsbudget regelmäßig steigen müsse. Haben von der Leyen, Gabriel und Co. da das Kleingedruckte nicht gelesen?
    Varwick: Doch, das wissen sie sehr genau. Dass man damit Geld spart, das ist sehr, sehr unwahrscheinlich. Das ist auch nicht das Ziel, sondern das Ziel ist, das Geld, was man ausgibt, besser auszugeben, und das kann, glaube ich, auch wirklich erreicht werden. Aber der größte politische Pferdefuß - und da dürfen wir nicht drum herumreden - ist nach wie vor, dass das bedeuten würde, wenn man gemeinsame Waffensysteme entwickelt, die wirklich nur europäisch dann funktionieren können, wenn man gemeinsame Kampfverbände oder auch Stabilisierungstruppen schafft, die auch wirklich nur europäisch funktionieren können, die dann auch nur einen Mehrwert haben, wenn sie tatsächlich europäisch sind, dann bedeutet das, dass nicht jeder Mitgliedsstaat sagen kann, bei diesem oder jenem Einsatz mache ich nicht mit, sondern man braucht eine gemeinsame Philosophie über Sicherheit. Ohne dass man diese gemeinsame Philosophie hat, werden die ganzen Schritte, die jetzt gegangen worden sind, nicht helfen.
    Dobovisek: Ist diese gemeinsame Philosophie absehbar?
    "Das ist aber noch Zukunftsmusik"
    Varwick: Die Richtung geht dahin, aber es ist noch sehr viel zu tun. Es gibt zum Beispiel in Deutschland den Parlamentsvorbehalt bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, und da sagen viele Partner, wir können zwar gut mit den Deutschen zusammenarbeiten und die Deutschen sind wichtig, aber wenn wir uns so eng abhängig machen von den Entwicklungen, die wir dann gemeinsam mit Deutschland oder Frankreich zusammen machen, dann muss das auch bedeuten, dass das verlässlich zur Verfügung gestellt wird und nicht jeder Staat letztlich ein Vetorecht dann bei solchen Fragen hat. Das heißt, wir brauchen eine gemeinsame europäische Politik in diesen Fragen, bevor wir letztlich über diese militärischen Fragen auch wirklich vom Fleck kommen, und da sehe ich noch nicht sehr viel Bewegung bei den europäischen Staaten.
    Dobovisek: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen spricht von einem Grundstein, einem Fundament. Sollte auf diesem dann eines Tages, um Ihren Gedanken weiterzuführen, die Kaserne einer gemeinsamen EU-Armee stehen, also ohne Vetorecht, mit Verlässlichkeit, die Sie angesprochen haben?
    Varwick: Das sollte das Ziel sein, jedenfalls in meiner Vorstellung, und das sehen auch eine ganze Reihe an europäischen Entscheidungsträgern inzwischen so. Das haben sie aber nicht heute vereinbart in Brüssel. Das muss man deutlich auseinanderhalten. Wir haben wirklich einen kleinen Schritt in diese Richtung, aber keinen großen Wurf, und jetzt gilt es, die normative Kraft des Faktischen quasi weiter in diese Richtung zu lenken und tatsächlich über größere Entwürfe nachzudenken. Das ist heute noch nicht an der Tagesordnung. Aber wenn das gut funktionieren sollte, wenn das Vertrauen wächst zwischen den Mitgliedsstaaten, die das jetzt machen, wenn zum Beispiel auch eines dieser Projekte eine gemeinsame europäische Offiziersausbildung in ein paar Jahren tatsächlich mal wirksam geworden ist, dass wir europäisch denkende Offiziere noch stärker als heute haben, dann bin ich nicht so pessimistisch, dass wir eines Tages auch wirklich eine europäische Armee haben, die wirksam die Interessen Europas in der internationalen Politik wahrnehmen kann. Das ist aber noch Zukunftsmusik.
    Dobovisek: Kommen wir zu dem, was jetzt beschlossen wurde, und blicken auch auf das, was die NATO in diesem Zusammenhang ja schon bereithält. Da gibt es ja schon Schlagworte wie Smart Defence, den intelligenten gemeinsamen Einsatz von Ressourcen. All das gibt es unter dem Dach der NATO, auch die Kooperation bei Rüstungsgeschäften. Warum ist den Europäern die NATO offensichtlich zu ineffizient?
    "Es soll keine Konkurrenzveranstaltung zur NATO aufwachsen"
    Varwick: Die NATO ist den Europäern nicht zu ineffizient. Aber es ist die Frage, ob die Amerikaner - und das ist ja die Ratio der NATO, die starke Rolle der Amerikaner - dauerhaft bereit sein werden, sich wirklich für europäische Angelegenheiten zu engagieren, oder ob wir nicht eine Situation haben, wo die Amerikaner Entlastung brauchen und sie sagen, ihr Europäer macht so viel politisch zusammen, ihr habt so eine starke Wirtschaft, ihr seid eine Wirtschafts- und Währungsunion und anderes mehr, warum macht ihr nicht auch im Bereich der Sicherheitspolitik mehr. Das wird jetzt nicht gegen den Willen der USA gemacht, das wäre auch völlig aussichtslos, sondern das wird letztlich im Konsens mit den USA gemacht. Man muss es nur richtig anlegen. Es sollte jetzt keine Konkurrenzveranstaltung zur NATO da aufwachsen, und so ist es auch bewusst nicht angelegt, sondern es soll gewissermaßen die europäischen Gewichte mehr in die Waagschale werfen, und das kann dann auch der NATO zugutekommen. Und Sie haben recht: In der NATO gibt es eine sehr, sehr starke Multinationalität. Die kann man kompatibel auch mit dem machen, was jetzt beschlossen wurde. Ich sehe das nicht als Konkurrenzveranstaltung zur NATO, sondern einfach nur als bessere Fähigkeit der Europäer im Bereich der Militärpolitik, und wir haben dann irgendwann vielleicht eine gleichberechtigte Zwei-Pfeiler-Allianz, wo der eine Pfeiler die Europäische Union ist und der andere Pfeiler die transatlantischen Partner, und das wäre eine vernünftige Entwicklung, wenn das so gelingen kann.
    Dobovisek: Die Einschätzung von Johannes Varwick, Politikwissenschaftler an der Universität in Halle-Wittenberg. Ich danke Ihnen für das Interview.
    Varwick: Sehr gerne. Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.