Archiv

Eugen Ruge: "Metropol"
Grand Hotel Angst

Was geschah zwischen 1936 und 1938 bei den großen Säuberungen unter Stalin? Davon erzählt Eugen Ruge anhand historischer Dokumente. Seine Großeltern gerieten damals als deutsche Emigranten unter Verschwörungsverdacht und wurden im berüchtigten Moskauer Hotel "Metropol" verhört- ganze 477 Tage lang.

Von Wolfgang Schneider |
Portrait des Autors Eugen Ruge.
Ruge blickt in "Metropol" ins Herz der stalinistischen Finsternis (Rowohlt Verlag/Frank Zauritz)
Seit 1933 haben die Exilanten Charlotte und Wilhelm für den Geheimdienst der Komintern gearbeitet, nahe Moskau, am ominösen "Punkt Zwei". Ende 1936 werden sie bis auf Weiteres von ihren Aufgaben suspendiert und müssen in ein Zimmer des Hotel "Metropol" umziehen. Der Grund dafür ist ihnen nicht zweifelhaft. Nach Wochen der Angst haben sie sich selbst vorsichtshalber bei der Partei angezeigt. Beide hatten zuvor Kontakte mit einem Mann, der kürzlich, in einem der ersten Schauprozesse, als vermeintlicher Verschwörer gegen Stalin verurteilt wurde.
Unter Verdacht im Hotel "Metropol"
Nun warten sie im "Metropol", einem alten Jugendstil-Prachtbau, auf den Ausgang ihrer Untersuchung. In dem Hotel sind auch wichtige Kader untergebracht, etwa der Oberste Militärrichter Wassili Wassiljewitsch Ulrich. Es gehört zur Unheimlichkeit des Ortes, dass sich Verfolgte und Verfolger auf den Fluren begegnen.
477 Tage wird ihr Aufenthalt im Hotel Metropol dauern, Tage der Ungewissheit, ob ihre Beichte von der Partei akzeptiert wird oder nicht, Tage der wachsenden, einsamen Angst, Tage der rückwirkenden Verdächtigungen. Ein Virus des Misstrauens breitet sich aus. Als einer ihrer Bekannten, Gaston Provost, plötzlich im Metropol auftaucht, wagen Charlotte und Wilhelm nicht, ihn anzusprechen.
Über ein Jahr lang Warten auf ein Urteil
"Wilhelm argumentiert: Entweder er hat sich etwas zuschulden kommen lassen, dann wollen wir nichts mit ihm zu tun haben. Oder er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, dann will er nichts mit uns zu tun haben. Das klingt logisch, zumal Provost auch nicht mit ihnen redet."
In seiner uneingestandenen Angst beginnt Wilhelm, im Hotelzimmer besonders laut zu sprechen und nur noch positive Äußerungen von sich zu geben. Möglicherweise hört jemand zu, und schon eine gesenkte Stimme könnte Verdacht erregen.
Bei aller Treue zu den genau recherchierten Fakten bleibt die Fiktion in diesem Roman keineswegs auf der Strecke. In Form der erlebten Rede geht der Erzähler in die Seelen und Köpfe seiner Figuren – sogar in den des zynischen Schauprozess-Richters Wassili Ulrich, der eine der Hauptfiguren ist. Es ist ein alter Trick der Romanciers, schwer nahbare historische Gestalten durch den seelischen Hintereingang zugänglich zu machen, dort, wo das Allzumenschliche verstaut ist. Davon hat auch Ruges Schreckensrichter viel zu bieten: seine Probleme mit den Uniformen, die wegen seiner Leibesfülle ständig zu eng werden, chronische Verdauungsbeschwerden und Verdruss darüber, dass er kaum noch zu seinem Hobby, der Schmetterlingsjagd, kommt. Von seiner Ehefrau Anna fühlt er sich prinzipiell verkannt.
Im Kopf eines stalinistischen Blutrichters
Einmal versucht Ulrich, die Frau eines von ihm angeklagten Mannes sexuell zu erpressen. Die Nötigung scheitert jedoch, und er geht verdrossen wieder an die Arbeit, fertigt im Eiltempo Todesurteile aus.
"Bei Frauen entscheidet er sich meistens für zehn Jahre Lager. Aber warum eigentlich. Herrscht nicht Gleichberechtigung in der Sowjetunion? Tod durch Erschießen, entscheidet Wassili Wassiljewitsch. Er setzt seine Unterschrift unter das Urteil, nimmt sich die nächste Akte vor. Aber dann fällt ihm ein, dass heute Feiertag ist. Und er sitzt schon wieder hier und schuftet. Während die anderen bei Woroschilow Haselhuhn fressen und Champagner saufen. Irgendwie kränkt es ihn doch, dass er nicht eingeladen ist."
Ruge vermittelt die Gedanken dieses Höllenrichters so, dass man seinen Unmut, der ihm die Todesangst von Tausenden überdeckt, irgendwie sogar versteht. Die Angst vor dem undurchschaubaren Stalin sitzt ihm kaum weniger im Nacken als denen, über die er seine insgesamt 30.000 Todesurteile fällt. In Ruges Darstellung ist Wassili Ulrich eine furchtbare und lächerliche Gestalt zugleich. Er gesteht ihm aber auch relevante Reflexionen zu. Ulrich fällt auf, dass die Verurteilten bis zuletzt nicht den Glauben verlieren, an die Partei, an Stalin. Diese Glaubensbereitschaft der Menschen – das zentrale Thema des Romans – erscheint ihm phänomenal.
"Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. (…) Man kann ihnen Fakten liefern, man kann sie widerlegen, es hilft nichts. Im Gegenteil, wer etwas glauben will, findet einen Weg. Er wird sich durch den winzigen Spalt quetschen, den die Wahrheit ihm lässt. Wird die Dinge so lange drehen und wenden, bis sie wieder in seinen Glauben hineinpassen, und seine ganze Klugheit wird ihn nicht etwa daran hindern, sondern ihm noch dabei behilflich sein."
Wer würde da nicht auch an die aktuellen Debatten über Fake-News und Wahrheiten-in-der-Blase denken. Trotz Terror und Mangelwirtschaft entfaltete sich in der Sowjetunion der 30er Jahre eine rauschhafte Aufbaudynamik. In Moskau ist die Bautätigkeit so enorm, dass Charlotte sich in manchen Gegenden der Stadt von einer Woche zur anderen nicht mehr zurechtfindet. Wahrhaftig ist der Roman darin, dass er die Ambivalenzen im Erleben dieser Jahre schildert – wozu auch Glücks- und Genussmomente gehören.
Buchcover: Eugen Ruge: „Metropol“
Buchcover: Eugen Ruge: „Metropol“ (Rowohlt Verlag)
Ein Mann sagt, sie hätten vor Hunger Hunde gegessen
Dann aber braucht Charlotte neue Winterschuhe. Es gelingt ihr, ein Paar zu ergattern. Allerdings sind die Sowjet-Sohlen nach dem ersten Schnee durchgeweicht: leider aus Pappe. In einer grandiosen Passage schildert Ruge, wie Charlotte sich auf die Suche nach einem Schuster macht. Alle winken ab: Materialmangel. Schließlich wendet sie sich an einen illegalen Straßenschuster, einen ehemaligen Bauern. Der kann ihr helfen, und nebenbei erzählt der zahnlose Mann Dinge, die Charlotte kaum glauben kann – von Arbeitslagern und einer furchtbaren Hungersnot, bei der die verzweifelten Menschen "zuerst" die Hunde gegessen hätten. Zuerst? Verängstigt ergreift Charlotte die Flucht. Ist der Mann verrückt, ein Konterrevolutionär? Immerhin hat er die Schuhe solide repariert, "gute konterrevolutionäre Arbeit", wie es ironisch heißt. Subtil vermittelt der Roman die Erfahrung, auf Brüche in der der Wirklichkeit zu stoßen, die abgrundtief sind.
Ruge folgt den Dokumenten: Der fünfseitige Brief, in dem sich Charlotte selbst bezichtigt, ist im Buch als Photokopie abgedruckt. In dieser Beichte gegenüber der Partei verspricht sie, ihre "Klassenwachsamkeit" fortan noch mehr zu schärfen.
"Der einzelne kann sehr oft die Wichtigkeit dessen, was er hört und sieht, nicht beurteilen und muss deshalb alles, was er über eine Opposition hört, auch wenn es schon lange zurückliegt, der Partei signalisieren, um ihr zu helfen, die verbrecherische Opposition auszurotten".
Dass "ausgerottet" wird, steht für Charlotte also gar nicht in Frage. Es muss erst absurde Ausmaße annehmen, bis den gläubigen Genossen der Schrecken in die Glieder fährt: Es können doch nicht alle engsten Vertrauten Lenins Verräter und es können doch nicht alle, mit denen man zusammengearbeitet hat, heimtückische Klassenfeinde und Saboteure gewesen sein.
Stalin als Terrorist? Für Stalin-Gläubige undenkbar
Es gibt noch eine vierte Hauptfigur, Hilde Tal, die erste Frau Wilhelms. Sie arbeitet ebenfalls für den Geheimdienst der Komintern. In ihrer Verzweiflung über die Säuberungswellen kommt sie auf eine kühne Idee. Es muss eine Verschwörung im Gang sein – der NKWD infiltriert und unterwandert, und Stalin weiß nichts davon. Auch bei Hilde ist der Glauben stärker als die Zweifel. Sie beschließt, einen Brief an Stalin zu schreiben und ihn aufzuklären. So verquer diese Gedankengänge anmuten, entsprechen sie doch der ideologischen Logik von 1937. Für die wahnwitzigen Vorgänge gibt es demnach nur eine Erklärung: Feinde der Revolution treiben ihr Unwesen. Die Konsequenz wäre: noch genauer hinsehen, noch mehr Verhaftungen, erzwungene Geständnisse und Hinrichtungen. Der Schrecken reproduziert sich selbst.
Hilde Tal wird von Wassili Ulrich zum Tod verurteilt. Rund 1000 Menschen werden in der Hochphase des stalinistischen Terrors pro Tag hingerichtet. Allnächtlich lässt der NKWD Menschen aus dem Metropol abholen. Mancher ist schon fast vor Angst gestorben, bevor er wahrnimmt, dass das energische Klopfen diesmal noch der Tür gegenüber gegolten hat. Wilhelm und Charlotte gehen am Ende in Straßenkleidung zu Bett; sie wollen nicht im Schlafanzug von den Schergen überrascht werden.
Im Epilog teilt Ruge mit, dass seine Großmutter, die der Tötungsmaschinerie nur mit viel Glück entging, der Partei dennoch zeitlebens verbunden blieb. Sie schwieg sich aus über ihre Erlebnisse in der Sowjetunion und wollte nicht daran erinnert werden. Als Wolfgang Ruge, ihr Sohn und der Vater von Eugen Ruge, 1956 aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückkehrte und der Mutter von den grausigen Erfahrungen im Gulag berichten wollte, hielt sie sich die Ohren zu. Eine ungeheuerliche Szene – und nicht zuletzt ist dieser Roman eine Antwort darauf. So unprätentiös sein Erzählton, so virtuos das Zusammenspiel von Fakten und Fiktion. Wie Eugen Ruge die historisch gründlich erforschten Jahre der Schauprozesse literarisch zum Leben erweckt und den Staub von den Dokumenten bläst, wie er seinen Hauptfiguren in die panischen Seelen kriecht – das macht "Metropol" zu einer großartigen Lektüre.
Eugen Ruge: "Metropol". Roman
Rowohlt Verlag, Hamburg. 432 Seiten, 24 Euro.