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Eugène Dabit: "Hôtel du Nord"
Roman über die Arbeiter von Paris

Eugène Dabit wurde 1898 als Sohn eines Lastenfahrers und einer Putzfrau in Paris geboren. Mit seinem ersten Roman "Hôtel du Nord" gelang ihm 1949 gleich der Durchbruch - nun ist er in einer Neuübersetzung von Julia Schoch erschienen.

Von Cornelia Staudacher |
    Das Hôtel du Nord am Quai de Jemmapes neben dem Canal St. Martin im 10. Arrondissement von Paris hat es wirklich gegeben und gibt es auch heute wieder: Ein nettes kleines Hotel im Shabby Chic, abseits vom Touristenrummel, kleine Zimmer, aber sehr romantisch, urteilt ein Gast im Blog des Hotels.
    Den Abriss des Hauses im Rahmen des Modernisierungsprogramms in den 80er-Jahren, in dessen Verlauf auch Les Halles dran glauben mussten, konnte eine Anwohnerinitiative im letzten Moment verhindern. Durch den gleichnamigen, von Marcel Carné 1938 nach Motiven des Romans mit Louis Jouvet und Arletty gedrehten Film, der in Frankreich Kultstatus erlangte, war das Hotel im Laufe der Jahre weit über die Grenzen von Paris hinaus berühmt geworden. Seit seiner Wiedereröffnung im Jahr 1993 steht es unter Denkmalschutz.
    Etwas schmuddelig, schreibt Julia Schoch in ihrem informativen und fast etwas schwärmerischen Nachwort, war es schon gewesen, als die Eltern von Eugène Dabit es 1923 pachteten. Sie waren stolz, sich als Patrons aus dem Arbeitermilieu eine Stufe nach oben gearbeitet zu haben. Und Sohn Eugène, der sich als Nachtportier Geld fürs Studium dazuverdiente, lernte das Leben im Hotel von der Pieke auf kennen. Was lag da näher, als seinen ersten Roman in diesem Milieu spielen zu lassen? "Hotel du Nord" erschien 1929 und war auf Anhieb ein Erfolg.
    Dabit erhielt Literaturpreis für sein Erstlingswerk
    Dabei gehörte Eugène Dabit nicht zu jenen Pariser Schriftstellern um Gertrude Stein und Ernest Hemingway, die sich in Salons trafen, um sich ihre Werke vorzulesen und sophistische Gespräche zu führen. Seine Romane spielen nicht unter Künstlern und Intellektuellen, sondern im Milieu der Arbeiter und Angestellten, das bis dahin, sieht man einmal von Zola und einigen wenigen Dichtern ab, als nicht literaturfähig gegolten hatte. Das änderte sich jetzt. Dabit erhielt für "Hotel du Nord" den zum ersten Mal vergebenen "Prix du Roman populiste" und in der Literaturwissenschaft wird er gern in Opposition zu Marcel Proust gesehen.
    Julia Schoch: "Ich glaube nicht, dass er sich selbst so verstanden hatte. Er hat einfach den Stoff genommen, von dem er Ahnung hatte. Und das war nun mal das sogenannte Milieu, in dem er aufgewachsen ist. Er hat dort gearbeitet in diesem Hotel und kannte sich von seiner Herkunft einfach aus mit diesen Leuten. Und das war für ihn ganz selbstverständlich, dass er das auch als Stoff nimmt. Dass das zufällig auch mit dieser Zeitströmung in eins fiel, das hat die Literaturwissenschaft im Nachhinein so festgestellt, das war keine Absicht von ihm. Belesen war er schon, hat erst Malerei studiert, und hat dann gemerkt, dass mit dem Schreiben ganz pragmatisch mehr Geld zu verdienen war und ist dann übergewechselt. Er hat auch über El Greco geschrieben. Also die Malerei hat immer in seinen theoretischen Schreiben eine Rolle gespielt. Er hat eigentlich Schlosser gelernt und dann musste er in den Krieg. Für ihn war das, glaube ich, eine Flucht in ein anderes Milieu. Zum Künstlermilieu zu gehören, war natürlich kein geringer Wechsel, kann man sich ja ausmalen, was das für jemand bedeutet, der nicht mit diesem Selbstverständnis zur Welt gekommen ist, dass man einfach auch die Zeit und das Geld hat, Künstler zu sein."
    Wie nahe sich Dabit den Protagonisten seines Romans fühlte, untermauert er mit einem vorangestellten Zitat von Jean Guéhenno, einem zeitgenössischen Pädagogen und Journalisten, der sich für Chancengleichheit und Gerechtigkeit einsetzte. Es heißt da: "An uns ist nichts, das die Blicke auf sich zieht, die Aufmerksamkeit und die Liebe weckt. Nicht einmal originell sind wir. Wir sind weder liebenswert noch rührend. Jeder von uns gäbe einen schlechten Romanhelden ab." Diesen, heute würde man vielleicht sagen, Desperados, gilt Dabits Empathie und Solidarität.
    Dabit suchte Nähe zu zeitgenössischen Schriftstellern
    Dennoch, trotz seiner reservierten Haltung gegenüber privilegierten Intellektuellen und dem in den Salons gepflegten gehobenen Kulturbegriff hat er die Nähe zu zeitgenössischen Schriftstellern auch gesucht. Die Reise in die Sowjetunion, in deren Verlauf er 1936 an einer nicht näher beschriebenen Erkrankung starb, war eine Schriftstellerreise gewesen.
    Julia Schoch: "Er hat sich selbst in die Kreise hineingeschrieben, könnte man sagen. Dieses Manuskript, "Hotel du Nord", hat er ja an André Gide geschickt. Also er hat sich seine Gewehrsleute gesucht, es gab ja damals keine Schreibschulen. Er hat sich selbst über Jahre mit seinen Mentoren, die er ja hatte, hingesetzt, die das sorgfältig durchgegangen sind mit ihm. André Gide hat sicher eine große Rolle gespielt, daraufhin konnte er dann in der "Nouvelle Revue Francaise" veröffentlichen, was ja eine ganz wichtige Zeitschrift war, was hieß, er ist Mitglied im Klub, könnte man sagen. Er nimmt Teil am geistigen Leben Frankreichs oder Paris. Das war so ein kleiner Ritterschlag auch, dass man da aufgenommen wird in die Literaturszene, in das Milieu."
    Der Roman aber gibt einen Einblick in das Leben der einfachen Leute, die sich in dem Wohnhotel eingemietet haben, weil sie sich eine eigene Wohnung nicht leisten können. So ist ein Kaleidoskop der Welt der kleinen Leute entstanden: Fabrikarbeiter, Handwerker und Lastenträger des Viertels, Buchhalter und Drucker. Und Frauen, die in den nahe gelegenen Lederwarenfabriken und Spinnereien arbeiten, Putzfrauen, Verkäuferinnen und Bürokräfte.
    In 35 kurzen Kapiteln, Miniaturen, werden heitere und ernste, lustige und traurige Episoden aus dem Alltag dieser Menschen dargestellt, deren Leben aus Arbeit, Kartenspiel, Trinkgelagen, kleinen Affären und täglichem Klatsch - der Wiederkehr des Immergleichen - besteht.
    Zusammengehalten werden die einzelnen Berichte durch Emile und Louise Lecouvreur, das Pächterehepaar: Da ist Mimar, der weibstolle Gepäckträger, der immerfort Ausschau hält nach neuen Liebesabenteuern, oder Marius Pluche, der in seinem Zimmer Kaninchenragout kocht und das ganze Haus mit Kochdünsten einnebelt. Da ist der schwule Adrian, dem Madame Lecouvreur hilft, sich als Carmen zu verkleiden. Oder der Polizist Maltaverne, der mit Ginette, seiner Geliebten, ein Zimmer bezieht und nicht ahnt, dass die ihn, wenn er im Dienst ist, mit seinem adretten Freund betrügt. Da ist der tuberkulöse M. Ladevèze, den Madame Lecouvreur im Krankenhaus besucht, bis er gestorben ist. Und Renée, die von Madame Lecouvreur als Zimmermädchen eingestellt wird, als sie von ihrem Freund geschwängert und dann sitzen gelassen wird. Als ihr Kind, das sie zu einer Pflegefamilie gegeben hat, stirbt, gerät Renée schließlich doch auf die schiefe Bahn.
    Dabit erzählt diese unspektakulären, alltäglichen Geschichten von Armut, Krankheit und Arbeitslosigkeit, von den Ängsten und Ärgernissen der kleinen Leute in einer nüchternen, nichts beschönigenden Sprache. In seinem lakonischen, dabei äußerst treffsichereren Stil gelingt es ihm, den Leser für die Personen einzunehmen, deren Schicksale er als Beispiele für die Armseligkeit menschlicher Existenz verstanden wissen will.
    Julia Schoch: "Das war auch das, was mir gefallen hat, der Hang zur Synthese und eher zum Verdichten, Verknappen. Er skizziert ja eher als dass er in großen prosaischen Beschreibungen die Dinge heraufbeschwört. Das ist ein Zug von ihm, das kommt vielleicht auch aus dem Milieu, dieses Direkte, Unmittelbare, nicht Verschnörkelnde, nicht Verspielte, sondern sehr Zielsichere, Direkte. In Deutschland würde man vielleicht mit Kahlschlag kommen, damals ist es mit dem Begriff Populisme belegt worden, was ja eher auf den Inhalt als auf die Form abzielt."
    In seiner naturalistischen Ausstrahlung hat "Hôtel du Nord" seine Wirkung bis auf den heutigen Tag bewahrt. Es hat durchaus seine Berechtigung, dass der Preis, den Dabit bei Erscheinen des Romans erhielt, 2012 in "Prix Eugène Dabit du Roman populiste" umbenannt wurde.
    Eugène Dabit: "Hôtel du Nord"
    Roman, Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Julia Schoch
    Schöffling Verlag, Frankfurt/M. 2015, 222 Seiten, Preis: 19,95 Euro.