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EuGH-Flüchtlingsurteil
"Europäischer Gerichtshof wird politisch missbraucht"

Ungarn akzeptiert das Flüchtlingsurteil des Europäischen Gerichtshofes nicht und werde weiterhin Rechtsmittel suchen, um die Entscheidung nichtig zu machen, sagte Zoltán Balog, ungarischer Minister für Humanressourcen, im Dlf. "Was uns zusätzlich aufgezwungen wird von außen, das akzeptieren wir nicht."

Zoltán Balog im Gespräch mit Christiane Kaess | 07.09.2017
    Zoltan Balog in der Talkrunde bei Anne Will am 16. September 2015 im Ersten Deutschen Fernsehen.
    "Wir werden rechtlich gegen diese Entscheidung kämpfen, weil wir das politisch motiviert und unverantwortlich finden", sagt Zoltán Balog, ungarischer Minister für Humanressourcen (imago stock&people)
    Christiane Kaess: Es war im September 2015, in der Hochphase der Flüchtlingskrise, als die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union eine Entscheidung trafen, wie Italien und Griechenland entlastet werden sollten. Dort waren die Behörden und Bewohner völlig überfordert von hunderttausenden Menschen, die dort ankamen. Die EU entschied, 120.000 Flüchtlinge auf andere EU-Länder zu verteilen.
    Dabei geht es vor allem um Menschen, die gute Chancen auf Asyl haben, weil sie zum Beispiel aus dem Bürgerkriegsland Syrien kamen. Gegen diesen Entschluss waren Ungarn, die Slowakei sowie Rumänien und Tschechien, aber sie wurden von der Mehrheit der anderen überstimmt. Ungarn und die Slowakei klagten schließlich dagegen vor dem Europäischen Gerichtshof. Der hat nun gestern diese Klage abgewiesen und geurteilt, die EU-Entscheidung von 2015 ist rechtens.
    Darüber sprechen möchte ich mit Zoltán Balog, Ungarns Minister für Humanressourcen. Er ist unter anderem auch zuständig für Gesundheit und Soziales und er ist parteilos. Guten Morgen, Herr Balog.
    Zoltán Balog: Schönen guten Morgen aus Budapest.
    Kaess: Herr Balog, Ungarns Außenminister Péter Szijjártó - ich habe das gerade schon gesagt -, der nennt das Urteil "empörend, verantwortungslos und politisch." Es würde europäische Werte vergewaltigen. Und Ungarn will trotzdem keine Flüchtlinge aufnehmen. Reagiert so ein Rechtsstaat?
    Balog: Wir haben da einen gemeinsamen Standpunkt natürlich, die ungarische Regierung. Was wir hier kritisieren, das ist nicht mal der Inhalt der Entscheidung, sondern die Art und Weise, wie diese Entscheidung getroffen ist. Dass hier etwas überstimmt wird, schon der Prozess, wie man dazu kam in der EU, in der Kommission, dass Länder dazu gezwungen werden, gegen ihren Willen Migranten aufzunehmen, war schon sehr fraglich, weil vorher der Europäische Rat - und das wird nirgendwo erwähnt - sich entschieden hat, dazu die Länder nicht zu zwingen, sondern das in der Entscheidung der einzelnen Mitgliedsstaaten zu lassen.
    Und das wurde nun mit einer qualifizierten Mehrheit überstimmt im Rat der Innenminister. Das ist schon die Art und Weise, die wir kritisieren, und wir meinen, dass hier der Europäische Gerichtshof politisch missbraucht wird.
    "Wir haben unseren Standpunkt nicht geändert"
    Kaess: Aber der EuGH hat jetzt nun einmal dieses Urteil gesprochen und ein Rechtsstaat akzeptiert normalerweise so ein Gerichtsurteil.
    Balog: Wir werden nur mit Rechtsmitteln gegen dieses Urteil kämpfen und das müssen wir so hinnehmen, selbstverständlich. Wir haben unseren Standpunkt nicht geändert, die Slowaker übrigens auch nicht. Aber ein Rechtsurteil ist ein Rechtsurteil.
    Kaess: Die Slowakei akzeptiert das Urteil. Die Slowakei will das Urteil akzeptieren.
    Balog: Was bedeutet das für Sie in der Konsequenz?
    Kaess: Das bedeutet in dem Fall, wenn ich das richtig verstehe, dass sie sich dem Urteil beugen wird und Flüchtlinge aufnehmen wird.
    Balog: Das Urteil bedeutet, dass dieser Beschluss der Kommission, die übrigens eher Hüter der Verträge sein sollte als so ein politischer Akteur gegen den Willen von Gremien, die von gewählten Leuten besetzt werden, das heißt, dass dieses Urteil oder diese Entscheidung rechtskräftig ist. Aber das zwingt weder die Slowakei noch die Ungarn zu anderen Maßnahmen. Insofern sind wir in derselben Situation.
    Kaess: Gut, Herr Balog. Aber erst einmal steht fest: Dieses Urteil, der Beschluss war rechtens. Das hat der EuGH so entschieden. Jetzt hält sich Ungarn nicht an die europäischen Regeln im ersten Fall und will die europäische Rechtsprechung nicht anerkennen. Der Außenminister sagt, die wahre Schlacht hat gerade erst begonnen. Wie soll das jetzt weitergehen?
    Balog: Ich denke, dass wir rechtlich, soweit wir Rechtsmittel haben, gegen diese Entscheidung kämpfen werden, weil wir das politisch motiviert und unverantwortlich finden.
    Kaess: Welche Rechtsmittel haben Sie noch?
    Balog: Das sollten die Juristen entscheiden. Ich denke, man sollte lieber über das Wesentliche sprechen, was für eine Art von Heuchelei hier betrieben wird von der Mainstream-Politik in Europa, auch im Blick auf Solidarität, und die ganzen Kommentare, die um diese Entscheidung herum fallen, die verletzen eine Atmosphäre, die bis jetzt eigentlich unter den EU-Mitgliedsstaaten positiv geherrscht hat.
    "Die Frage ist, ob die EU zu den Mitgliedsstaaten passt"
    Kaess: Herr Balog, wenn ich Ihr Argument höre, dann erinnert das an die Linie, die Ungarn ja schon seit einiger Zeit fährt. Das ist ja nicht das erste Mal, dass Ungarn im Konflikt mit der EU ist. Es gibt seit Jahren Streit zwischen Budapest und Brüssel. Die EU-Kommission hat ein Verfahren eingeleitet wegen Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit.
    Es gibt immer wieder die Kritik, Ungarn trägt die Grundwerte der Europäischen Union nicht mit. Es gibt einen Dauerstreit um Pressefreiheit und so weiter und so fort. Macht man sich eigentlich Gedanken in Budapest, ob Ungarn überhaupt noch in die EU passt?
    Balog: Die Frage ist, ob die EU passt zu den Mitgliedsstaaten. Ich glaube, wir sind nicht die Einzigen, die ein Problem haben damit, wie die Position …
    Kaess: Sie sind nicht die Einzigen, aber die Minderheit, eine kleine Minderheit, wenn man sich die Flüchtlingsverteilung und den Beschluss dazu anschaut.
    Balog: Sie werden bereits bald über den Brexit sprechen. Meinen Sie, dass Großbritannien als böser Bube die EU verlassen hat, oder ist es nicht eher die Aufgabe, dass die drin bleiben? Wir haben übrigens - darüber haben Sie, glaube ich, auch berichtet - Großbritannien aufgerufen, in Europa zu bleiben, weil wir gerne mit ihnen zusammen sind.
    Die höchste Akzeptanz der Europäischen Union ist in Ungarn, glaube ich, zurzeit. Wir sind überhaupt nicht gegen die EU, sondern wir sind gegen die Art und Weise, wie heute europäische Politik von der Kommission getrieben wird. Wir sind ein freundliches Land. Sie sollten hier herkommen und schauen, ob Sie irgendetwas finden, was zu einem demokratischen Land nicht passt.
    "Wir haben das Recht, Verfahren zu hinterfragen"
    Kaess: Das können wir gerne machen, Herr Balog. Aber das hat ja die EU schon mehrmals festgestellt. Deswegen noch mal meine Frage. Warum will Ungarn Mitglied der EU bleiben, wenn es sich nicht an ihre Regeln halten will, ihre Werte nicht teilt, die Institutionen nicht anerkennt, ein EuGH-Urteil - das ist ja jetzt nicht das erste Mal, dass Ungarn diese EU-Institutionen infrage stellt. Warum will Ungarn in der EU bleiben?
    Balog: Weil wir ein europäisches Land sind und wir werden ein europäisches Land bleiben und wir haben auch das Recht, auch wenn wir etwas kleiner sind als Deutschland, Frankreich und die anderen, Verfahren zu hinterfragen, die Art und Weise, wie heute hier entschieden wird, zu kritisieren. Und das werden wir weiterhin tun, weil wir eine bessere EU wollen, und auf jeden Fall wollen wir in der Europäischen Union bleiben.
    Ungarn ist - das möchte ich schon noch mal betonen - nicht das einzige Land, wo Vertragsverletzungsfragen aufkommen. Gegenüber Deutschland gibt es auch ganz viele und Griechenland und Spanien und Polen und so weiter und so fort. Deshalb sollte man in der Kommission statt Rechthaberei und Selbstgerechtigkeit darüber nachdenken, ob diese Verfahren noch funktionieren.
    Ungarn war das einzige Land 2015 und danach, das sich an Schengen, an Dublin und an Dublin II gehalten hat, und das tun wir auch. Deshalb waren wir gezwungen, nicht weil es uns Spaß gemacht hat, den Zaun aufzubauen, damit wir uns an die Rechtsstaatlichkeit halten. Das haben andere Länder nicht getan und ich denke, darüber sollte man diskutieren, ob dort die anderen Länder solidarisch waren, wer mit wem solidarisch war. Aber darum geht es ja und Sie müssen auch wissen, dass man heute auch über den Zaun nach Ungarn reinkommen kann.
    Kaess: Ich denke, über den Zaun können wir gerne auch noch reden.
    Balog: Es gibt ein Rechtsverfahren, wer dieses Rechtsverfahren durchläuft. Ich bin verantwortlich in der Regierung dafür, dass dann Flüchtlinge, die nach Ungarn reinkommen, in Zusammenarbeit mit Zivilorganisationen, mit kirchlichen Organisationen, menschlich behandelt werden und Hilfe bekommen zur Integration. Das ist das, was die Regelung heute in Europa ist, und daran halten wir uns.
    Kaess: Gut! - Herr Balog, Ungarn profitiert von der EU. Die Zahlen der EU-Kommission - ich nenne mal nur eine: Von 2014 bis 2015 sind circa 25 Milliarden Euro an Ungarn gegangen. Kein EU-Land bekommt einen höheren Anteil. Diese Milliarden-Hilfen auf der einen Seite und auf der anderen Seite nicht einmal 1.300 Flüchtlinge aufzunehmen, viele in Deutschland, Herr Balog, empfinden das als, ich sage es mal ganz konkret, schäbig.
    Balog: Ungarn keine Solidarität vorzuwerfen, dass wir nicht solidarisch sind, ich denke, das ist eine kurze …
    Kaess: In der Flüchtlingsfrage.
    Balog: Ja. Aber warum schauen wir nicht andere Dinge an? Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, welches Land die Grenzen geöffnet hat, als die DDR-Flüchtlinge in Ungarn (tausende) sich aufgehalten haben.
    Kaess: Da sind Sie, glaube ich, auch vielen noch gut in Erinnerung, Herr Balog.
    Balog: Ja. Aber das hat sich nicht geändert. Wir sind weiterhin …
    Kaess: Aber wenn Sie sagen, auf andere Dinge schauen. Im Moment ist die Flüchtlingskrise das größte Problem.
    Balog: Kann ich auf Ihre Frage antworten?
    Kaess: Ja.
    "Verträge sind Verträge - die sollte man einhalten"
    Balog: Was Sie über EU-Mittel sagen, das ist ein Vertrag, was wir geschlossen haben mit der EU. Auf beiden Seiten sind Verpflichtungen. Wir haben unseren Zollraum, Arbeitsmarkt und so weiter eröffnet, ein ziemlich schwaches Land nach dem Kommunismus, und dafür haben wir die Unterstützung bekommen, dass wir das nachholen, was in 40 Jahren hier in Ungarn in einer Diktatur verloren war, dass wir das etwas nachholen. Das ist ein Vertrag, was steht.
    Damals gab es keine Flüchtlingskrise und man hat nicht darüber gesprochen. Ja gut. Aber wenn irgendetwas passiert, was ihr dann nicht macht, dann werden wir diese Gelder entziehen. Sie kennen das auch. Das hat, glaube ich, ein Vizepräsident der Kommission auch gesagt, übrigens ein Deutscher, dass aus diesen Mitteln die deutsche Wirtschaft genauso beziehungsweise in hohen Maßen profitiert. Davon profitieren wir alle, das ist ein festgemachter Vertrag. Daran zu rütteln, ist einfach eine Heuchelei, weil das nicht zu dieser Fragestellung gehört.
    Kaess: Dennoch, Herr Balog, wollen Sie andere Verträge und Verpflichtungen nicht einhalten. Ich möchte Sie noch fragen: Es gibt jetzt verschiedene Forderungen, zum Beispiel EU-Gelder zu kürzen für Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen. Wie würde die ungarische Regierung darauf reagieren?
    Balog: Das ist das, was ich schon gesagt habe. Verträge sind Verträge - die sollte man einhalten. Wir haben die bis jetzt eingehalten und das werden wir weiterhin tun.
    " Es geht nicht darum, ob wir Flüchtlinge aufnehmen oder nicht"
    Kaess: Aber Sie halten sie ja in einem gewissen Bereich nicht ein, bei der Flüchtlingsverteilung.
    Balog: Wir haben viele Probleme in diesem Land, was wir lösen müssen, und wenn das mit EU-Institutionen uns in Konflikt bringt - bis jetzt haben wir immer verhandelt. Wir werden weiterhin verhandeln und ich hoffe, dass wir zu gemeinsamen Lösungen kommen. Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, in den letzten Jahren haben wir eine neue Verfassung gemacht. Das einzige ehemalige kommunistische Land war Ungarn, wo immer noch die Verfassung aus der stalinistischen Zeit stammte.
    Wir haben eine neue Verfassung gemacht 2011 und danach hatten wir viel Streit, Rechtsstreit mit der Kommission, mit der EU, und wir haben dann mit Zweidrittelmehrheit auch unsere Verfassung geändert, weil wir eingesehen haben, dass das eine korrekte Kritik war. Wir werden weiterhin auf diesem Weg gehen, Rechtsmittel suchen, den Rechtsweg suchen, wie wir diese Entscheidung nichtig machen können, dass wir uns daran halten können, wozu uns auch übrigens das ungarische Parlament verpflichtet.
    Das ist allein die Entscheidung. Es geht nicht darum, ob wir Flüchtlinge aufnehmen oder nicht. Wir nehmen auch heute Flüchtlinge auf, möchte ich betonen, nur nicht in diesem Quotenverfahren.
    Kaess: Die offiziellen Zahlen liegen bei null, aber gut.
    Balog: Ja, was die Quote betrifft. Das heißt, was zusätzlich aufgezwungen wird von außen, das akzeptieren wir nicht. Aber an der Grenze laufen auch heute Verfahren ab, wo ein positives Urteil fallen kann und auch oft fällt, und danach werden wir mit diesen Kindern, mit diesen Familien so umgehen, als wären sie ungarische Staatsbürger. Sie bekommen Sozialhilfe, sie gehen in die Schule, da bekommen sie Unterricht, dafür bin ich verantwortlich und dazu stehen wir. Und das ist die Regelung, die wir einhalten.
    Kaess: … sagt Zoltán Balog, Ungarns Minister für Humanressourcen, unter anderem auch zuständig für Gesundheit und Soziales. Vielen Dank, dass Sie sich den Fragen gestellt haben, Herr Balog.
    Balog: Danke für die Fragen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.