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EuGH-Urteil zu humanitären Visa
"Das ist eine völlig zynische Logik"

Die grüne Europapolitikerin Ska Keller plädiert für eine einheitliche europäische Regelung für humanitäre Visa. Denn es gebe derzeit zwar ein Recht auf Asyl - nur hätten viele Menschen gar nicht die Möglichkeit, den Antrag zu stellen, ohne sich vorher in Gefahr bringen zu müssen, sagte sie im DLF.

Ska Keller im Gespräch mit Mario Dobovisek | 07.03.2017
    Die Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament, Ska Keller.
    Die Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament, Ska Keller. (imago / Rüdiger Wölk )
    Nach dem heutigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), nach dem EU-Staaten keine humanitären Visa ausstellen müssen, dächten viele Mitgliedsstaaten nun, sie müssten gar nichts mehr tun, meint Keller. Das Gericht habe mit dem Urteil aber den Ball an die Mitgliedsstaaten zurückgespielt. Denn derzeit werde mit den Staaten darüber verhandelt, ob man eine einheitliche Regelung zu humanitären Visa innerhalb der EU treffen sollte.
    "Wir sagen ja und das Parlament sagt ja - nur die Staaten weigern sich." Denn die würden im Moment versuchen, so wenig Flüchtlinge wie möglich aufzunehmen.

    Das Interview in voller Länge:
    Mario Dobovisek: Am Telefon begrüße ich Ska Keller. Sie ist Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europaparlament. Guten Abend, Frau Keller.
    Ska Keller: Hallo!
    Dobovisek: Humanitäre Visa auszustellen, schreibe das EU-Recht nicht vor. Es sei damit weiter den Mitgliedsstaaten überlassen. - Ein kluges Urteil, von Vernunft geprägt nennen das Ihre Parlamentskollegen Hohlmeier und Weber von der Union. Wie bezeichnen Sie das Urteil, Frau Keller?
    "Es soll einheitliche Regelungen geben zu den humanitären Visa"
    Keller: Na ja, der EuGH spielt ganz klar den Ball zurück, auch an die Mitgliedsstaaten, denn wir verhandeln ja gerade mit den Mitgliedsstaaten die Frage des Visakodex, und da geht es genau um die Frage, ob es einheitliche Regelungen geben soll zu den humanitären Visa. Wir Grüne denken ja, aber auch das Parlament insgesamt denkt ja. Nur die Mitgliedsstaaten weigern sich gerade, deshalb werden diese Verhandlungen sich ewig hinziehen, und das ist natürlich schade, weil humanitäre Visa, das ist eine Möglichkeit, wie Menschen vor Krieg, vor Verfolgung fliehen können, ohne dass sie sich dabei in Gefahr begeben müssen, auf dem Weg übers Mittelmeer zum Beispiel, und es ist sehr schade, dass viele Mitgliedsstaaten jetzt, glaube ich, eher denken, jetzt müssen sie gar nichts mehr tun. Aber das geht natürlich nicht.
    Recht auf Asyl gelte nur für die, die es in die EU geschafft hätten
    Dobovisek: Es hindert die Mitgliedsstaaten ja niemand daran, in ihren Botschaften humanitäre Visa auszustellen. Auch der EuGH nicht.
    Keller: Genau! Ganz genauso. Es ist weiterhin im Ermessen der Mitgliedsstaaten. Aber wir denken, auch eine europäische Regelung wäre durchaus sinnvoll.
    Dobovisek: Wer sollte Ihrer Meinung nach Anrecht auf solche humanitäre Visa-Botschaften haben?
    Keller: Mit dem humanitären Visum oder dem Antrag darauf könnten Mitgliedsstaaten dann ein Visum erteilen. Dann reisen die Leute in die EU ein und dort wird dann ihr Antrag auf Asyl natürlich ganz normal geprüft. Es geht da eigentlich um die ganz normalen Asylkriterien. Aber der Antrag wird dann in der EU gestellt, in dem jeweiligen Mitgliedsland, denn nur so kann ja gewährleistet werden, dass zum Beispiel Anwälte vor Ort sind, dass man nicht die Sachbearbeiter in die Welt schicken muss und so weiter. Deswegen geht es da um die ganz normalen Asylkriterien und den Asylantrag dann im Mitgliedsland selbst.
    "Alle wollen möglichst wenige Flüchtlinge haben"
    Dobovisek: Dennoch haben wir ein Aufatmen in den europäischen Hauptstädten heute vernommen, weil die Botschaften auf Deutsch gesagt, auf so einen Ansturm gar nicht vorbereitet wären.
    Keller: Ja, das stimmt sicherlich, denn man müsste bei den Botschaften mehr Personal anstellen, um diese Visaanträge zu bearbeiten. Wir haben ja jetzt schon das Problem, dass in vielen Konsulaten und in Botschaften es lange Schlangen gibt für Visumsanträge. Aber ich denke, das ist ein guter Weg, wie wir flüchtlingspolitisch weiterkommen, denn gerade ist es ja so, dass wir zwar ein Recht auf Asyl haben, aber auf dieses Recht kann nur jemand Zugriff haben, der oder die es bereits in die Europäische Union beziehungsweise in Mitgliedsländer geschafft hat.
    Das heißt, wenn ich ein verfolgter Mensch bin, in Syrien zum Beispiel, dann muss ich erst mich von Schleppern über die Grenze in die Türkei bringen lassen, oder in den Libanon, dann übers Mittelmeer kommen, und erst dann kann ich einen Asylantrag stellen. Dann bekomme ich auch Asyl. Aber zuerst muss ich mein Leben dreimal noch weiter in Gefahr bringen. Das ist eine völlig zynische Logik und deswegen wäre es richtig, mit dem humanitären Visum eine Möglichkeit zu eröffnen, wie Flüchtlinge ohne Gefahr für Leib und Leben auch dieses Recht auf den Asylantrag wahrnehmen können.
    Dobovisek: Was hält die Mitgliedsstaaten denn davon ab?
    Keller: In den Mitgliedsstaaten herrscht gerade eine Logik vor, nach der jeder so weit wie möglich Flüchtlinge draußen halten will. Alle wollen möglichst wenige Flüchtlinge haben und dafür ersinnt man sich aller möglichen neuen Methoden. Ungarn baut Zäune und der Rest guckt, dass sie geografisch Gott sei Dank in der Lage sind, dass möglichst wenige Flüchtlinge kommen. Zum Beispiel nach Deutschland kommen die Flüchtlinge über Drittländer, über EU-Länder, und wenn man dann kein Visum ausstellen muss, dann kommen weniger Leute.
    "Humanitäre Visa aus diesem Ausnahmestatus rauszuholen"
    Dobovisek: Sie glauben ernsthaft, dass 27 bald EU-Staaten, noch 28 sich darauf einigen könnten, eine gemeinsame Vergaberegel für humanitäre Visa einzuführen?
    Keller: Das Europäische Parlament, wo wir ja auch verschiedenste Fraktionen haben, ist zumindest der Meinung, dass wir das haben sollten. Das ist nicht nur eine grüne Idee, sondern vom gesamten Europäischen Parlament mit einer großen Mehrheit. Es war nicht das gesamte sicherlich. Das finde ich einen wichtigen Schritt. Bisher gibt es bereits die Möglichkeit für Mitgliedsstaaten, humanitäre Visa auszustellen, aber es heißt dann im europäischen Recht, das soll eine Ausnahmesituation sein. Wir möchten das gerne in einen Status heben, dass es nicht nur eine Ausnahme ist, sondern ein ganz reguläres Visum, was die Mitgliedsstaaten vergeben können. Ich glaube, das ist nicht zu viel verlangt. Wenn wir uns anschauen, was für einen furchtbaren Weg Menschen auf sich nehmen müssen und wie viele Menschen im Mittelmeer ertrinken, wie viele Kinder im Mittelmeer ertrinken, dann, glaube ich, ist das nicht zu viel verlangt.
    Dobovisek: Aber, Frau Keller, ist die Flucht vor Krieg für Sie die Regel, oder eine Ausnahme?
    Keller: Die sollte natürlich so wenig wie möglich vorkommen. Aber Menschen, die vor Krieg fliehen müssen, die müssen vor Krieg fliehen.
    Dobovisek: Eine Ausnahme, für die humanitäre Visa durchaus jetzt schon möglich sind.
    Keller: Das wird auch nicht eingeschränkt vom EuGH. Es gibt nur keine Pflicht, humanitäre Visa auszustellen. Das heißt, der Ball liegt zurück im Feld der Mitgliedsstaaten. Aber es heißt noch nicht, dass humanitäre Visa verboten worden sind vom EuGH. Sie sind nach wie vor möglich. Aber deswegen sind wir auch der Meinung, da wir ja allgemeine gemeinsame Regeln haben für Visa in der Europäischen Union, macht es auch Sinn, humanitäre Visa aus diesem Ausnahmestatus rauszuholen und dafür allgemeine Regeln zu haben. Es liegt dann nach wie vor bei den Mitgliedsstaaten, diese Visa zu erteilen.
    "Die Transitzonen, das sind Gefängnisse, mit Stacheldraht umgeben"
    Dobovisek: Blicken wir noch gemeinsam, Frau Keller, nach Ungarn. Sie haben es angesprochen: Dort sollen Asylsuchende künftig grenznah in Containerdörfern festgehalten werden, bis über ihre Anträge entschieden ist. Wie bewerten Sie diesen ungarischen Parlamentsbeschluss?
    Keller: Das ist eine weitere Eskalation in Ungarn und damit wird auch europäisches Recht gebrochen. Denn die Flüchtlinge sollen für die Dauer ihres Asylverfahrens inhaftiert werden. Nichts anderes ist das ja. Die Transitzonen, das sind Gefängnisse, mit Stacheldraht umgeben, und das ist nach europäischem Recht verboten.
    Dobovisek: Die Ungarn sagen, die Flüchtlinge können jederzeit zurück nach Serbien gehen. Dorthin sind die Zentren offen.
    Keller: Aber sie haben ja einen Asylantrag dann in Ungarn gestellt. Das heißt, Ungarn muss diesen Asylantrag bearbeiten und Ungarn kann nicht einfach Flüchtlinge einsperren, nur weil sie Flüchtlinge sind. Die haben ja nichts verbrochen. Die haben einfach einen Asylantrag gestellt und das ist ihr gutes Recht. Dafür Leute ins Gefängnis zu stecken, das geht überhaupt nicht. Das geht nicht nach dem gesunden Menschenverstand, nicht nach Menschenrechten und auch nicht nach europäischem Recht. Deswegen denke ich, da sollte die europäische Kommission auch aktiv werden.
    Dobovisek: Wie?
    Keller: Wenn ein Land gegen europäisches Recht verstößt, kann man auch Vertragsverletzungsverfahren machen, und das, denke ich, wäre da mal angebracht.
    "Der Trend geht zum Zaun"
    Dobovisek: Einen zweiten Grenzzaun errichten die Ungarn ja gerade hinter dem ersten mit Kameras, Bewegungsmeldern, warnenden Lautsprechern. Dann diese Transitzonen, die wir gerade angesprochen haben. Kaum an einem anderen Ort wird die Festung Europa deutlicher als an der ungarisch-serbischen Grenze. Ist das auch Ihr Eindruck?
    Keller: Ja, es ist schon tragisch, dass die ungarische Regierung denkt, ihre größte Bedrohung wären Menschen, die vor Krieg und Verfolgung aus Aleppo und sonst wo fliehen. Das ist schon sehr, sehr tragisch. Leider sehen wir solche Zäune auch anderswo. In Ceuta und Melilla zum Beispiel, spanischen Exklaven, gibt es sie schon länger. Und wir sehen, der Trend geht zum Zaun, und das ist unglaublich furchtbar aus meiner Sicht. Die Europäische Union oder wir haben in Europa ja eigentlich die Genfer Konvention erfunden, aus einer Geschichte heraus, die uns gelehrt hat, dass man Menschen nicht im Stich lassen kann, dass man Menschen Schutz gewähren muss vor Verfolgung, und heutzutage scheint das immer weniger Wert zu haben und ich finde das wirklich furchtbar.
    Dobovisek: Ska Keller, Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament. Das Gespräch haben wir am Abend aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.