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EuGH
"Vorratsdatenspeicherung: nur wo unbedingt notwendig"

Der Europäische Gerichtshof hat die umstrittene EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung gekippt. Dies definiere noch einmal die Bürgerrechte "als hohen Wert", sagte Michael Hartmann, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, im DLF. Jetzt müsse das Thema innerhalb der Koalition neu erörtert werden.

Michael Hartmann im Gespräch mit Dirk Müller | 08.04.2014
    Michael Hartmann, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
    Michael Hartmann, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundesfraktion, betonte, dass seine Partei nicht "einfach die Schleusen öffnen" wolle. (Michael Hartmann)
    Dirk Müller: Es ist ein deutliches und es ist ein kritisches Urteil. Der Europäische Gerichtshof hat klipp und klar entschieden: Die umstrittene EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung ist gekippt. Ohne Verdacht speichern und verarbeiten von Milliarden privater Kommunikationsdaten, das verstößt alles gegen das Grundrecht, sagen die Richter. Es geht um den Schutz der Privatsphäre und um den Schutz eigener persönlicher Daten.
    Das Urteil der Richter und die Folgen, die Konsequenzen für Deutschland - darüber wollen wir nun reden mit dem innenpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Michael Hartmann. Guten Tag.
    Michael Hartmann: Guten Tag.
    Müller: Herr Hartmann, haben Sie jetzt auch wieder mehr Luft zum Atmen?
    Hartmann: Nun, das Urteil ist auf jeden Fall ein sehr, sehr gutes, weil es nicht einfach Schwarz-Weiß malt und sagt, diese Richtlinie gilt nicht, sondern zugleich aufweist, dass es durchaus eine Notwendigkeit gibt, diese Tatbestände zu regeln, und Wege aufzeigt, wie es geht. Ich finde das Urteil jetzt, gepaart mit dem Urteil unseres Verfassungsgerichts, sehr, sehr gut, weil es Bürgerrechte tatsächlich als hohen Wert noch einmal definiert und unterstreicht für die gesamte EU, und zugleich aber auch sagt, wir müssen einen Sachverhalt regeln, damit der Staat nicht schutzlos bleibt.
    Vorratsdatenspeicherung "unter Richtervorbehalt für ganz, ganz wenige Straftaten"
    Müller: Anti-Terror-Kampf dennoch adieu?
    Hartmann: Anti-Terror-Kampf wird bereits jetzt geführt. Ich bin jemand, der sehr kritisch diesem Glaubenskrieg gegenübersteht, was die Vorratsdatenspeicherung anbelangt. Der wurde ja zum Symbol für die einen wie für die anderen. Die Community, die das alles ablehnt, beschreibt den Untergang des Abendlandes, auf jeden Fall des Rechtsstaates und der Bürgerrechte, und die Polizei sagt, wir können keinen Mucks mehr machen ohne die Vorratsdatenspeicherung. Ich halte beides für übertrieben und nicht an der Sache orientiert und deshalb glaube ich, beide Urteile, Karlsruhe und Brüssel jetzt, sind eine Grundlage, um ganz neu mit unserem Koalitionspartner noch einmal zu reden.
    Müller: Wir haben ja eben Heiko Maas, den Bundesjustizminister, gehört, Ihr Parteifreund. Wir haben ihn dann nicht richtig verstanden, wenn wir den Eindruck gewonnen haben, dass er froh ist, dass das Thema jetzt erst mal vom Tisch ist, und dass Sie sich jetzt darüber in der Koalition in den kommenden Monaten nicht mehr streiten müssen?
    Hartmann: Herr Maas hat bei dem, was Sie eben gesendet haben, sehr klar gesagt, dass er ebenfalls sieht, dass nun die Koalitionspartner miteinander reden müssen. Klar ist, was im Koalitionsvertrag vereinbart war, nämlich Umsetzung der Richtlinie. Das ist vom Tisch, weil es die Richtlinie nicht mehr gibt. Mein Wunsch wäre – und ich glaube, Herr Maas sieht das sehr, sehr ähnlich -, dass eine starke neue Kommission nach den Wahlen im Mai sich überlegt, wie man, streng orientiert an diesem Urteil, noch einmal die Frage neu angeht.
    Müller: Das heißt, wenn Sie Glück haben, kommt die Kommission nicht zu Potte und Sie brauchen nicht zu entscheiden?
    Hartmann: Ich weiß nicht, ob das etwas mit Glück oder Pech zu tun hat. Schauen Sie, niemand macht doch aus Jux und Tollerei solche Gesetze, sondern es geht darum, dass wir, so die deutsche Sicht, unter Richtervorbehalt für ganz, ganz wenige Straftaten und über einen nur möglichst kurzen Zeitraum hinweg Daten erfassen, die keine Inhaltsdaten sind, sondern nur Verbindungsdaten, um Gefahren abzuwehren oder Straftaten nachzuweisen. NSU, Kinderpornografie, Zwangsprostitution sind Stichworte, die in diesen Zusammenhang gehören, und deshalb gibt es einen sachlichen Bedarf, aber keinen Bedarf, der so stark sein kann, dass wir sagen, uns ist egal, ob dabei die Bürgerrechte mit Füßen getrampelt werden. Und insofern, noch mal gesagt, finde ich beide Urteile, Karlsruhe und Brüssel, gut.
    "Jeder Eingriff in Grundrechte muss so schonend und zurückhaltend wie nur irgend möglich gestaltet sein"
    Müller: Herr Hartmann, Sie haben zwei Beispiele genannt. Wollen wir das noch mal aufgreifen. NSU: Da haben wir alle, die sich damit beschäftigt haben, die darüber berichtet haben, auch die uns immer zugehört haben in den vergangenen Monaten, einen Zeitraum von zehn Jahren im Kopf, und es ist ja sogar noch länger, 12, 13 Jahre. Kinderpornografie, in welchem Zusammenhang auch immer, losgelöst von Sebastian Edathy, auch eine Entwicklung, ein, zwei, drei, fünf Jahre, je nachdem, um welchen Fall es sich handelt, je nachdem, um welche Gruppierungen es sich handelt. Jetzt sagen Sie - nein, das tun Sie nicht, aber einige in Ihrer Partei -, entweder gar nicht speichern oder drei Monate speichern. Der Europäische Gerichtshof hat jetzt gesagt, zwei Jahre, das ist viel zu viel. Wie wollen Sie jemandem erklären, dass nur der kurze Aufenthalt dieser Daten im Speicherpool beispielsweise der Ermittler, dass das Sinn macht? Was spricht dagegen, zu sagen, wir brauchen auch Daten, die vier Jahre alt sind, die sechs Jahre alt sind, um solche komplizierten Fälle klären zu können?
    Hartmann: Wenn Sie zu lange speichern, ist der Eingriff in die Bürgerrechte noch größer. Mir sagen Polizeipraktiker, ihnen reicht das Vierteljahr. Das Vierteljahr würde zum Beispiel reichen, bleiben wir bei der NSU, um festzustellen, mit wem Böhnhardt, Zschäpe, Mundlos in den drei Monaten vor diesem Ereignis in dem Wohnwagen, dem Brand und der Tötung der beiden Männer, mit wem die in Kontakt standen. Ich glaube, das würde wesentlich helfen, um dieses rechtsterroristische Netzwerk zu offenbaren, und insofern ist das Vierteljahr ausreichend. Wenn Sie Hinweise haben, die einer Gefahrenabwehr dienen, also unmittelbar auf eine akute Gefährdung, dann ist sogar das Vierteljahr nicht notwendig. Dann brauchen Sie es möglichst tages- oder wochenaktuell. Insofern ist der Zeitraum ausreichend. Natürlich gibt es manche, die sagen - aber das ist mehr die Philosophie der NSA und nicht unsere -, wenn ich alles über alle Zeit habe, ist das am allerbesten. Wir sagen, jeder Eingriff in Grundrechte muss so schonend und zurückhaltend wie nur irgend möglich gestaltet sein.
    Müller: Warum ist ein Eingriff nach zwei Monaten legitim, nach sechs Jahren, wo im Grunde schon wieder fast alles verjährt ist in vielen Fällen, oder nach zehn Jahren, nach zwölf Jahren, warum ist das schlimmer? Warum ist das gravierender, wie Sie es sagen?
    Hartmann: Je länger Sie speichern, umso mehr Daten haben Sie über eine Person gesammelt, und dann können in der Tat, so ein Missbrauch entsteht, Informationen ausgewertet werden, die niemandem etwas angehen.
    Müller: Aber ganz viele Daten im NSU-Prozess, die waren nicht vorhanden, die wurden nicht ausgewertet, die wurden nicht weitergeleitet im NSU-Ermittlungsverfahren, nicht im Prozess. Da hätte man doch mit diesen Daten viel, viel schneller, viel, viel präziser agieren können, entscheiden können.
    Hartmann: Nein. Ich glaube, dass in Wahrheit der Skandal bei der NSU darin liegt, dass die Kultur der Zusammenarbeit in den Behörden, zwischen Verfassungsschutz und Polizei, zwischen Bund und Ländern, nicht gut genug entwickelt war, um es sehr zurückhaltend zu formulieren. Die Vorratsdatenspeicherung hat nur in jenen Beispielen, die ich jetzt genannt habe, tatsächlich gravierend eine Auswirkung, und dann sollte es sie auch geben. Es wäre ein völliges Missverständnis der Position meiner Partei, zu glauben, wir wollen einfach die Schleusen öffnen. Ganz im Gegenteil! Nur wo unbedingt notwendig, nur wo nicht abweisbar, soll es ausnahmsweise unter hohen Auflagen möglich sein, weil die Bürgerrechte das erste sind, nichts anderes.
    Vorratsdatenspeicherung als "Instrument auch nicht hochstilisieren"
    Müller: Nehmen wir das Beispiel islamistischer Terror. Würden Sie in der Öffentlichkeit - das machen Sie ja jetzt gerade, Herr Hartmann - erklären, wenn Anschläge geplant sind, wenn große Netzwerke sich zusammenfinden, wenn sie sich gründen, organisieren und dementsprechend auch versuchen, Pläne zu entwickeln und zu handeln, dass das dann ausreicht, drei Monate zu verfolgen, und danach kappen wir sämtliche Informationen ab?
    Hartmann: Es würde nicht ausreichen, wenn das das einzige Mittel der Behörden wäre. Wir haben ja außerdem, wenn wir erkennen, da ist ein richtig schlimmer Finger unterwegs, auch die Möglichkeit, mit G10-Maßnahmen, direktes Abhören von Gesprächsinhalten, zu agieren, was auch mit hohen Auflagen belegt ist - das ist gut, dass die Auflagen so hoch sind -, aber durchaus möglich ist. Wäre dies das einzige Instrument für die Polizei, wäre die arm dran, und deshalb darf man das ganze Instrument auch nicht hochstilisieren, als sei es die Zauberkiste polizeilicher Ermittlungstätigkeit.
    Müller: Gehen Sie, abschließend, Herr Hartmann, davon aus, dass die amtierende Große Koalition in dieser Legislaturperiode eine neue Regelung finden wird?
    Hartmann: Ich gehe davon aus, dass jetzt erst mal Europa am Ball ist, und ich will, gemeinsam mit Herrn Maas und anderen, sehr schnell mit dem Innenminister darüber reden, wie wir in Deutschland vorgehen und ob wir sofort vorgehen. Geben Sie uns bitte etwas Zeit, ein Urteil, das wenige Stunden alt ist, erst einmal genau zu analysieren.
    Müller: Das heißt, wenn man jetzt kriminelle Energie hat, in der Phase, weil es keine Regelung gibt, dann sollte man jetzt versuchen, das umzusetzen?
    Hartmann: Die Polizei ist gut, auch ohne Vorratsdatenspeicherung, und sie wird auch weiterhin gut sein. Wenn sie das Instrument zusätzlich hat, so sehe ich das zumindest, kann sie an der einen oder anderen Stelle noch besser werden, nicht mehr und nicht weniger.
    Müller: Michael Hartmann, der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, bei uns hier im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Hartmann: Sehr gerne. Auf Wiederhören!