Die Türkei ist zu Gast in Baku, die Mannschaft eingeflogen aus Rom und mit ihr viele, viele Fans, ein Heimspiel für die Türkei. So viel wurde wohl während einer Europameisterschaft noch nie geflogen. Von Rom nach Baku sind es rund 3.100 Flugkilometer, die zwischen den beiden Spielorten in der Gruppe A hin- und hergereist wurden. Noch weiter die Distanz zwischen Sevilla und Sankt Petersburg: Etwa 3.600 Flugkilometer wurden in der Gruppe E pro Strecke bewältigt.
Reiseeuropameister ist schon jetzt das schweizerische Team – mit bislang schon rund 13.500 Flugkilometern. Schaffen es die Schweizer bis ins Halbfinale, wären es am Ende 20.400 Kilometer. Ist diese Europameisterschaft also ein Turnier mit verheerender Klimabilanz? Ja und nein.
Viele Heimteams, wenig Neubauten - das spart CO2
Die Strecken für einige Teams sind extrem für ein Kontinentalturnier, das sonst in einem, maximal zwei Ländern stattfindet. Aber zugleich gibt es auch sechs Mannschaften, die die Gruppenphase komplett als Heimspiele bestreiten konnten. Italien, Dänemark, die Niederlande, England, Spanien und Deutschland – sollte es England ins Finale schaffen, wäre es das Team, das den geringsten Reiseaufwand gehabt hätte – nur zum Viertelfinale ein Flug nach Rom und dann gleich wieder zurück nach London.
"Wir reden ja nur über die Teams, die reisen, die Zehntausenden werden in den seltensten Fällen für alle Spiele ihrer Teams Tickets haben und deswegen auch wenig hinterherreisen, selbst bei den Extrembeispielen mit den Schweizern. Deswegen wird da gar nicht der ganz große Unterschied sein von den Reisekilometern", sagt Henning Wilts, Klimaexperte am Wuppertal Institut. Bedingt durch Corona reisen Fans nicht in dem Ausmaß quer durch Europa, wie es ohne die Pandemie gewesen wäre. Das kommt der Klimabilanz dieser Europameisterschaft jetzt zugute.
Und bis auf die Púskas-Arena in Budapest, die erneuert wurde, gab es keine großen Bauprojekte für die EM, betont Wilts. "Man hat nicht, wie das der Fall gewesen wäre, wenn man eine solche Großveranstaltung in einem Land macht, neue Stadien gebaut, neue Autobahnen dahin, die ganze Infrastruktur drumherum. Man wird nicht die sonst bei Olympischen Spielen so häufigen Bauruinen nach vier Jahren haben und das spart auch schon extrem viel CO2, wenn man jetzt nicht unnötig hunderttausende Tonnen von Zement in den Sand setzt."
UEFA leistet Kompensationszahlungen
Die CO2-Emissionen dieser Europameisterschaft werden zum allergrößten Teil durch die Reisen verursacht und zum ersten Mal überhaupt leistet die UEFA dafür Kompensationszahlungen, nach dem sogenannten Gold Standard, dem strengsten Zertifizierungsstandard, den es weltweit gibt. Berechnet wurde auf der Basis voll ausgelasteter Stadien, die Zahlungen seien bereits geleistet, erklärt die UEFA. Hierbei hat sie mit dem Schweizer Klimaberatungsunternehmen South Pole zusammengearbeitet, einer anerkannten Organisation für Klimaschutzkompensationen.
Deren auf Sport spezialisierter Berater Christopher Politano erklärt, wie die mit diesem Geld finanzierten Kompensationsprojekte nach dem Goldstandard funktionieren. Es sollen nicht einfach irgendwo auf der Welt ein paar Bäume gepflanzt oder Solaranlagen aufgestellt werden, sondern es werde genau geschaut, dass diese Projekte auch sinnvoll seien und nicht am Ende noch kontraproduktiv wirkten. Das heißt:
"Was würde passieren mit dem Emissionsszenario in diesem Projektgebiet, wenn die Intervention, ob das jetzt eine Solaranlage ist, ob Methan aufgefangen wird oder ob jetzt Wald geschützt wird oder Wald gepflanzt wird, was würde in diesem Projektgebiet lokal passieren, wenn Intervention nicht stattfinden würde?", fragt Politano. "Und was passiert konkret, wenn die Intervention stattfinden würde und genau diese Analyse, das evaluiert man eben im Rahmen dieses Standards." Allerdings – wie viel Geld in diese Kompensationsprojekte geflossen ist und wie genau die Höhe berechnet wurden, darüber haben die UEFA und South Pole Stillschweigen vereinbart.
Keine Werbung in den Stadien für Klimaneutralität
Was zunächst gut klingt ist also nicht transparent. Und der Wille, Fußballgroßturniere bereits vom Ansatz so klimaschonend wie möglich zu gestalten, ist auch noch nicht erkennbar. Denn selbst wenn die Europameisterschaft über die Kompensationszahlungen klimaneutral sein sollte, so hätte sie durch die Auswahl näher gelegener Stadien in Europa und einer optimierten Gruppenphase mit erheblich weniger Reisekilometern sehr viel besser abschneiden können.
Aber noch ein Aspekt wirft Fragen auf: Die UEFA hat die Chance nicht genutzt, für Klimaneutralität offensiv zu werben – dabei erreicht sie mit ihrem Turnier viele. Welches Potenzial darin läge, betonen sowohl Christopher Politano als auch Henning Wilts: "Sport ist Emotion, das ist etwas, wo die Menschen mitfiebern, wo die Menschen sehr emotional abgeholt werden können und das ist auch eine gewisse Plattform bietet, auf der man auch zum Wandel inspirieren kann", sagt Politano.
Und Wilts fügt an: "Mit Fußball erreicht man Bevölkerungsgruppen, die man sonst nie bekommt und wenn wir es schaffen, solche Themen an Fußball anzudocken, wenn dann nur ein Prozent der Leute, die in die Stadien gehen, am Ende überlegen, ich könnte ja auch mal Fahrradfahren anstatt alle 500 Meter mit dem Auto zu fahren, dann hätte die EM einen sehr positiven Effekt auch auf das Klima." Aber Werbung für Klimaschutz, große Aktionen vor, während oder nach den Spielen gibt es keine.
Unklarheit über die Verschwiegenheit
Warum die UEFA so still ist, darüber lässt sich nur spekulieren. Es könnte sein, das die Emissions-Bilanz so ausfällt, dass der Verband lieber keine öffentliche Diskussion haben will. Vielleicht herrscht in der Verbandsspitze auch die Auffassung vor, dass bei ihren Sponsoren, Fans und politischen Partnern mit dem Thema Klimaschutz nicht so viel zu gewinnen ist. Aber die Anstrengungen dennoch unternommen wurden, um wiederum auch nicht als großer Klimasünder dazustehen.
Was auch immer dazu geführt hat, diese Chance nicht zu nutzen, bei der EM in drei Jahren in Deutschland könnte die Rechnung dann schon ganz anders aussehen.