Montag, 20. Mai 2024

Zwischen Euphorie und Spaltung
Doppelte Verantwortung für Georgiens Spieler bei EM-Debüt

Die georgische Nationalmannschaft hat sich für die EURO 2024 qualifiziert. Die Euphorie im Land war groß, sie hielt aber nicht lang. Ein umstrittenes Gesetz spaltet die Bevölkerung und führt zu Protesten - ein Land zwischen Euphorie und Spaltung.

Von Matti Mehlhos | 09.05.2024
Die Spieler aus Georgien jubeln nach einem Tor in der Qualifikation gegen Norwegen.
Die Fußballer aus Georgien sind in einer Doppelrolle: Fußballstars und zugleich sollen sie ein Sprachrohr in der politisch angespannten Lage sein. (IMAGO / Sports Press Photo / IMAGO / Ane Frosaker / SPP)
Ein Abend für die Geschichtsbücher. Am 26. März 2024 qualifiziert sich Georgien zum ersten Mal für eine Europameisterschaft. Tausende Fans stürmen auf den Platz, Menschen liegen sich jubelnd in den Armen.
„Ich war live dabei. Dieses Erlebnis war einmalig, wirklich für unseren Fußball und für unser Land. Diese Nacht vergisst man nicht so einfach",
beschreibt Irakli Gemazashvili den Abend. Viele Jahre spielte er in Deutschland Fußball, seit einigen Jahren ist er zurück in Georgien und arbeitet unter anderem als Sportlehrer an der deutschen Schule. Die Qualifikation als vorläufiger Höhepunkt der Fußballgeschichte Georgiens.
"Es herrschte immer ein starkes Gemeinschaftsgefühl, auf und neben dem Platz. Das sieht man bei den Siegesfeiern und den Fangesängen, die die Mannschaft das ganze Spiel über anfeuerten. Man spürt diese besondere Atmosphäre," beschreibt Blogger Luka Lagvilava seine Eindrücke aus dem Stadion.

Fankultur mit Leidenschaft

Die Euphorie der Fans hat Klaus Toppmöller bis heute nicht vergessen. Von 2006 bis 2008 war Toppmöller Nationaltrainer in Georgien:
"Wenn die Leute dann ins Stadion durften, da war ein richtiger Hexenkessel, wo richtig was los war. Da war Stimmung, die haben gesungen. Sie haben uns angefeuert und, und, und..."
„Die Herzlichkeit der Menschen also, dass sich große, starke Männer in den Armen liegen. Im Fußball kann das sein, das sehen wir ja öfter mal und in Georgien ist das noch mal eine Stufe herzlicher,“ beschreibt Marcel Röthig. Er leitet das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Tiflis:
„Und die Georgier sind natürlich auch ein, wie soll ich sagen, sehr ausgiebiges, sehr leidenschaftliches Völkchen. Das heißt Freud und Leid wird dann auch sehr nach außen getragen und sehr miteinander geteilt. Und man kann mit den Georgiern unfassbar gut mitfiebern. Und natürlich, man kann auch mit ihnen unfassbar traurig sein, wenn etwas schiefgeht.“

Russland-freundliche Politik überschattet die Euphorie

Die große Fußballeuphorie seit der Qualifikation im März wird aktuell aber überschattet von heftigen Protesten gegen die Regierung.
„Es ist schmerzhaft, zu sehen. Vor anderthalb Monaten hat die ganze Nation noch den Einzug bei der EM gefeiert. Jetzt, nur wenige Wochen später, ist das Gefühl eingebrochen und die Nation ist gespalten“, bedauert das Blogger Luka Lagvilava.
Seit Wochen gehen in Georgien immer wieder Tausenden Menschen auf die Straße, um gegen die in ihren Augen zu russland-freundliche Politik zu demonstrieren. Sie sorgen sich um die Zukunft und fürchten, der Weg in die EU, von dem viele träumen, könnte sich so verbauen. Das geht auch am Fußball nicht vorbei.

Nationalspieler als Sprachrohr

Als erster Nationalspieler postete Giorgi Kochorashvili Bilder der Proteste auf Instagram. Auch Budu Zivzivadze vom Karlsruher SC äußerte sich zu den Protesten auf Instagram und solidarisierte sich mit einem eher pro-europäischen Kurs und gegen Russland.
Dass sich Spieler äußern, findet Marcel Röthig von der Ebert-Stiftung „ganz, ganz wichtig, sowohl für den Schutz als auch für für die Wahrscheinlichkeit, dass diese Proteste noch friedlich bleiben, aber auch dem Mobilisierungsgrad: Je mehr berühmte Unterstützung es gibt, desto mehr Menschen gehen natürlich auch auf die Straße.“
Andere aus der Nationalmannschaft, wie Superstar Khvicha Kvaratskhelia vom SSC Neapel, haben sich bisher nicht geäußert. Doch der Druck in der Bevölkerung wächst.
 „Sie stehen definitiv unter Druck, a) weil sie Leistung bringen müssen und b) weil sie für alle Menschen sprechen sollen“ meint Blogger Luka Lagvilava.
Doch die Frage, wie politisch Spitzensport sein darf, wird auch in Georgien heftig diskutiert. Ex-Fußballer Irakli Gemazashvili hält Äußerungen von Profis für falsch:
"Definitiv ist das nicht in Ordnung, wie die Fußballer oder Sportler, die Profisportler in politische sozusagen Gefechte einzubeziehen."
Politik und Fußball sind in Georgien schon lange eng verwoben. In der Regierungspartei "Georgischer Traum" sitzen einige ehemalige Fußballer, sie nutzen ihre Bekanntheit heute politisch.

Fußball als verbindendes Element

Politisch steht das Land durch die aktuellen Proteste an einem Scheideweg. Fußball und die EM-Teilnahme im Sommer könnte zu einem verbindenden Element werden, hofft Blogger Luka Lagvilava.
„Das ist natürlich eine politische Debatte, aber der Fußball ist ein Teil davon. Vermutlich hofft man, dass Erfolge bei der EM die Menschen wieder zusammenbringen und sie einfach ihre Zeit und ihr Land genießen können.“
Fußball und Erfolge auf dem Rasen als Kitt einer zerrissenen Gesellschaft, in Georgien wird hautnah spürbar, wie groß die Hoffnung auf die Kraft des Fußballs ist. Das kann zu einer echten Chance werden, meint Marcel Röthig von der Ebert-Stiftung:
"Im Fußball ist das egal. Hauptsache Georgien gewinnt. Das ist das, was sie dann am Ende auch wieder beide verbindet, und beide probieren natürlich auch, daraus Kapital zu schlagen. Aber das ist natürlich so ein bisschen auch die Hoffnung, Fußballer als das verbindende Element einer gespaltenen Nation."