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Europa braucht Integrationssprung

Die Gefahr populistischer Bewegungen gegen Europa sei nicht gebannt, meint der Historiker Heinrich August Winkler. Es komme jetzt darauf an, den Menschen klar zu machen, warum "mehr Europa notwendig ist" statt weniger.

Heinrich August Winkler im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 03.05.2012
    Tobias Armbrüster: In Frankreich und in Griechenland stehen am kommenden Sonntag wichtige Wahlen an, und wie schon in zahlreichen anderen Ländern zuvor deutet auch hier vieles darauf hin, dass Parteien und Kandidaten zugewinnen, die sich kritisch befassen mit dem gegenwärtigen Kurs der Europäischen Union in der Haushaltskrise. Nur mal zur Erinnerung: Auch die Regierungen von Irland, Spanien und Italien wurden bereits abgewählt, weil ihnen die Wähler das Krisenmanagement nicht zugetraut haben. Es ist also einer der wenigen historischen Momente, in denen sich fast alle Wahlkämpfer in ganz Europa mit den gleichen oder zumindest mit ähnlichen Fragen beschäftigen müssen. Zeit also für ein Gespräch mit einem Historiker, der das alles einordnen kann und der sich intensiv mit der Geschichte Europas auseinandergesetzt hat. Schönen guten Morgen, Heinrich August Winkler.

    Heinrich August Winkler: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Herr Winkler, wir sehen jetzt, wie in Europa reihenweise Regierungen wackeln, alles im Zusammenhang mit der Euro-Krise. Können wir sagen, steht Europa hier vor einem Umbruch?

    Winkler: In jedem Falle befindet sich das europäische Projekt in einer schweren Krise. Diese Krise hat eine lange Vorgeschichte. Im Grunde zeigt sich seit einigen Jahren, dass es einen Konstruktionsfehler der frühen 90er-Jahre gibt. Die früheren Bundesregierungen hatten alle bis 1990 daran festgehalten, dass eine Währungsunion nur zusammen mit einer politischen Union verwirklicht werden kann. Diesen Standpunkt konnte Helmut Kohl damals nicht durchhalten, weil der französische Staatspräsident Francois Mitterrand darauf drängte, möglichst rasch die D-Mark in einer europäischen Währung aufgehen zu lassen, damit das wiedervereinigte Deutschland nicht zu der großen europäischen Hegemonialmacht werden sollte. Und Kohl wollte das deutsch-französische Verhältnis nicht mit einer schweren Belastungsprobe ruinieren und ist deshalb auf diesen Druck eingegangen. Das Ergebnis war: Wir haben die Währungsunion bekommen, die Fiskalunion und die politische Union, die wurden zwar beschworen, aber nicht realisiert, und nun zeigt sich, das geht nicht gut, wir brauchen die Fiskalunion, wir brauchen die politische Union, und das ist genau der tiefere Grund dafür, dass es eine vehemente Diskussion in den Mitgliedsstaaten der Währungsunion gibt und dass viele mit dem Ergebnis der bisherigen Bemühungen, eine Fiskalunion zu bilden, hadern.

    Armbrüster: Können wir dann vielleicht auch festhalten, wenn diese Episode nicht so gelungen ist, wie das ursprünglich geplant war, dass dann hinter uns möglicherweise eine Ära der gemäßigten politischen Kräfte liegt und vor uns eine Zeit, in der die politischen Extreme wieder mehr an Gewicht bekommen?

    Winkler: Die Gefahr der populistischen Bewegung gegen Europa, die ist mitnichten gebannt. Diese Bewegungen haben in den Niederlanden ihre Stärke bewiesen, auch in den skandinavischen Staaten. Auch der Erfolg, der relative Erfolg der französischen Bewegung um Marine Le Pen mit einem geradezu triumphalen Ergebnis von über 17 Prozent beim ersten Wahlgang der Präsidentenwahl zeigt, wie stark diese Opposition der Globalisierungsverlierer gegen Europa ist. Das heißt nicht, dass die demokratischen, die gemäßigten Kräfte überall in der Defensive sind, aber es kommt jetzt wirklich darauf an, Perspektiven deutlich zu machen. Es muss deutlich werden, warum mehr Europa notwendig ist, warum wir einen Integrationssprung brauchen, warum wir ein demokratisch legitimiertes Europa benötigen, um die Währungsunion dauerhaft zu stabilisieren. Wir brauchen eine gemeinsame Fiskalpolitik, und das kann auf die Dauer nur im Rahmen einer politischen Union geschehen, wo das Europäische Parlament, das demokratisch gewählte Europäische Parlament Kontrollfunktionen ausübt, wie sie jetzt in den Händen der nationalen Parlamente liegen.

    Armbrüster: Auf das EU-Parlament würde ich gleich gerne noch mal zu sprechen kommen, Herr Winkler. Zunächst noch mal zu den politisch extremen Parteien. Wenn Sie sich diese Parteien angucken, zum Beispiel was wir da sehen in Frankreich oder auch in Griechenland, wo wir ja wahrscheinlich eine rechtsextreme Partei am Sonntag ins Parlament einziehen sehen werden, werden da bei Ihnen als Historiker auch Erinnerungen wach an frühere Episoden in der europäischen Geschichte?

    Winkler: Es ist unvermeidlich, dass man bei nationalistischen bis faschistischen Parolen, wie sie in Griechenland zu hören sind, an die unselige Vergangenheit der Zwischenkriegszeit zurückdenkt. Ich glaube allerdings nicht, dass Extreme von links und rechts in dem Ausmaß zu einer Gefahr werden dürften, wie das in der Zwischenkriegszeit der Fall war. Sowohl die Faschismen wie die kommunistischen Regime haben sich in Europa durch die Praxis diskreditiert. Aber es ist schlimm genug, wenn es populistische Bewegungen gibt, die eigentlich nur noch durch große Koalitionen bewältigt werden können, in Griechenland etwa durch eine Koalition der verfeindeten Sozialdemokraten und Konservativen – übrigens zwei Parteien, die wesentlich dazu beigetragen haben, ja ganz entscheidend mit verursacht haben, dass Griechenland in die Krise geraten ist, in der es sich noch immer befindet.

    Armbrüster: Aber ist denn nicht das eigentliche Problem, dass uns bisher noch niemand wirklich glaubwürdig sagen kann, wie wir diese Krise hinter uns lassen können?

    Winkler: Ich glaube schon, dass es ein sehr vernünftiger Grundsatz ist zu sagen, dass ohne Strukturreformen ein Wachstumsprogramm nicht greifen wird, wie es der vermutliche Wahlsieger in Frankreich, Herr Hollande, fordert. Wachstumsimpulse sind in vielen Ländern jetzt notwendig, aber sie können nur dann eine Wirkung entfalten, wenn eingeleitete Reformen fortgesetzt werden. Um noch einmal auf Griechenland zurückzukommen: Die Misere dort hat ja ihren Grund darin, dass es kein funktionierendes Steuerverwaltungssystem gibt, kein funktionierendes Grundbuchwesen, keine arbeitsfähige Beamtenschaft und keine funktionierende Justiz. Wenn da nicht angesetzt wird, wenn da nicht Strukturreformen energisch weitergeführt werden, dann helfen auch Zuschüsse der wohlhabenderen europäischen Länder nichts. Dann hieße das wirklich, Geld in ein Fass ohne Boden zu schütten.

    Armbrüster: Und dann müssen wir uns wahrscheinlich auch anfreunden mit dem weiteren Zulauf für extreme politische Positionen?

    Winkler: Genau das wäre die Folge. Wenn die Geberstaaten in dieser Hinsicht nicht eindeutig sind und nicht Solidarität als eine wechselseitige Anstrengung einfordern, dann werden in der Tat populistische Bewegungen in den wohlhabenderen Ländern der EU weiteren Zulauf haben. Also die Regierungen müssen sehr konsequent auf einem Junktim bestehen, nämlich Fortsetzung notwendiger Strukturreformen und Bereitschaft, in Investitionsprojekte Geld zu investieren. Das ist das Junktim, auf das es in den nächsten Monaten ankommen wird, und vor allem in der Beziehung zwischen Berlin und Paris wird es darauf ankommen, eine gemeinsame Formel zu finden, denn unversöhnlich sind ja die Forderungen nach einem Wachstumsimpuls und den Strukturreformen nicht. Es kommt darauf an, dass beide in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Da wird es großer Anstrengungen bedürfen und vor allem muss sich die deutsche Seite anstrengen, französische Vorbehalte gegenüber einer Stärkung des Europäischen Parlaments zu überwinden. Da vertritt vermutlich Francois Hollande nach wie vor eine gaullistische Position, und das ist für Europa eine Hypothek. Die Kontrolle der Regierungen durch die nationalen Parlamente ist notwendig, aber sie reicht nicht aus. Der Fiskalpakt ist bisher ja nur ein Abkommen zwischen den Staaten, die zu einer Art engeren Zusammenarbeit, zu einer engeren Union bereit sind. Es sind nicht alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, sondern nur 25 der 27 Mitglieder der Europäischen Union. Ob daraus jemals europäisches Recht wird, wissen wir nicht, aber diese intergouvernementale Zusammenarbeit ist ein Übergangsstadium. Es kommt darauf an, dass da keine neuen Parallelstrukturen entstehen. Wir müssen alles tun, damit die Europäische Union als solche gestärkt wird, und das wird Änderungen der Verträge erfordern und möglicherweise müssen wir uns in der Bundesrepublik darauf vorbereiten, dass sogar die Frage einer Verfassungsrevision sich stellen wird und einer Abstimmung nach Artikel 146.

    Armbrüster: So weit der Historiker und Buchautor Professor Heinrich August Winkler hier in den "Informationen am Morgen". Das Interview haben wir aus Termingründen vor der Sendung aufgezeichnet.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.