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Europa-Experte: "Es geht ums große Ganze"

Der Publizist Joachim-Fritz Vannahme hält es für einen taktischen Fehler von Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, die Ergebnisse ihres Treffens im Vorfeld des EU-Gipfels nicht als Kompromissangebot präsentiert zu haben. Viele der kleineren Mitgliedsstaaten ließen sich ungern von den beiden großen etwas vormachen.

Joachim-Fritz Vannahme im Gespräch mit Gerwald Herter |
    Gerwald Herter: Zunächst aber zum EU-Gipfel, der morgen in Brüssel beginnt. Bundeskanzlerin Angela Merkel muss dort mit Widerstand rechnen. In Sachen Euro-Stabilitätspakt war sie sich zwar mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy an der Atlantikküste einig geworden; andere Regierungen aber haben sich darüber beschwert. Die Kanzlerin ist auch in Deutschland kritisiert worden, sogar von ihrem Vizekanzler, Außenminister Guido Westerwelle (FDP). Zur Stunde gibt Merkel eine Regierungserklärung im Bundestag zum EU-Gipfel ab. Ein erster Auszug:

    "Unser sozialer und wirtschaftlicher Erfolg ist untrennbar mit der europäischen Entwicklung verknüpft. Das macht es notwendig, dass sich alle Mitgliedsstaaten gemeinsamen Regeln unterwerfen, denn das Fehlverhalten einzelner kann zu Verwerfungen für alle führen. Das hat uns die Krisensituation im Frühjahr um Griechenland und den Euro in erschreckender Weise vor Augen geführt. Diese Krise in Europa, sie war existenziell. Wir haben sie in den Griff bekommen, aber das alleine reicht noch nicht. Und ich sage Ihnen deshalb ganz deutlich: Mein Ziel und das Ziel der Bundesregierung insgesamt ist, dass die Währung Europas, dass der Euro dauerhaft stabil ist."

    Herter: So weit Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Regierungserklärung, die gerade begonnen hat. - Dass Merkel so stark angegriffen wird, wenn es um ihre Europapolitik geht, ist ungewöhnlich. Was steckt dahinter? - Das will ich nun im Gespräch mit Joachim-Fritz Vannahme klären. Er war früher Korrespondent der "Zeit" und ist jetzt EU-Fachmann der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag, Herr Vannahme.

    Joachim-Fritz Vannahme: Einen schönen guten Tag.

    Herter: Herr Vannahme, ist die Bundeskanzlerin umgefallen beim Stabilitätspakt, ohne andere mitzunehmen?

    Vannahme: Ja, ich glaube, man muss erst noch mal einen Schritt zurückgehen und sagen, was die beiden, Sarkozy und Frau Merkel, sich da am normannischen Strand geleistet haben, hätte so oder so Ärger ausgelöst. Sie hätten da im Grunde genommen beschließen können was sie wollen, denn in dieser EU der 27 lassen sich viele - und das ist ja nun wirklich die Mehrheit - der kleineren Mitgliedsstaaten ungern von den beiden ganz großen was vormachen. Das, was dort verkündet wurde, fast schon ex cathedra im Sinne, als ob es auch schon in Brüssel beschlossen worden ist, ist natürlich eigentlich nichts anderes, als erst mal ein Verhandlungsangebot mit einer Position, die hinterher unter Umständen gar nicht in den Entschlussprotokollen des Gipfels ihren Niederschlag finden wird, sondern irgendwo auf eine Kompromisslinie einschwenkt. Aber als Kompromissangebot haben die beiden das nicht präsentiert, und insofern war das schon einmal ein taktischer Fehler, es so zu machen, wie sie es da in Deauville gemacht haben.

    Herter: Die Euro-Gruppe würde entmachtet unter Umständen, wenn dieser Kompromiss durchkommt. Warum?

    Vannahme: Ich sehe das nicht so, dass die Euro-Gruppe da gleich entmachtet werden würde. Wir müssen vielleicht mal aufs große Ganze gucken. Es geht hier wirklich - und da hat die Kanzlerin im Bundestag eben recht gehabt - darum, den Euro dauerhaft stabil zu machen und den sozialen und wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands in diesem Rahmen zu stabilisieren. Es geht ums große Ganze. Dieser Euro ist ja nicht einfach nur eine Währung, es ist ein politischer Wille, der sich in dieser Währung ausdrückt: der politische Wille, gemeinsam etwas nach innen wie nach außen mit dieser Währung zu bewerkstelligen. Dieses "gemeinsam", das ist in den letzten Tagen doch sehr in den Hintergrund getreten, weil man den Eindruck hatte, der eine schreit hü, der andere schreit hott und dann brüllen so und so viele im Hintergrund, so wollen wir es aber gar nicht haben und von euch schon gar nicht präsentiert bekommen. Ich glaube, durch die Unruhe, die hier auf einmal reingekommen ist in einen Prozess, der eigentlich sich relativ gut angelassen hat - ich erinnere daran, erst mal hat die EU-Kommission einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, dann haben die Finanzminister, gesteuert vom EU-Ratspräsidenten van Rompuy, einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, der gar nicht so schrecklich weit von dem der Kommission weg war, und alle haben gedacht, na ja, das kann ja jetzt eigentlich in einer vernünftigen, durchaus kontroversen Diskussion so weitergehen -, wurde dieser ganze Prozess jäh zum Stoppen gebracht, durch eine Ankündigung aus dem normannischen Deauville von Präsident Sarkozy und Kanzlerin Merkel. Ich glaube, da liegt irgendwo der Mangel an Gemeinsamkeit drin, den im Moment viele spüren, und das ist wirklich der Kern des Streites, um den es hier gehen muss und gehen sollte. Diese Gemeinsamkeit wird nur dann den Euro stärken und damit die Europäische Union stärken, wenn sie auf eine vernünftige Art und Weise herbeidiskutiert wird und nicht mit plötzlichen Einfällen oder plötzlichen Vorstößen eigentlich ad absurdum geführt wird.

    Herter: Da war die Rede vom Automatismus, wenn die Bestimmungen des Stabilitätspakts verletzt werden. Dieser Automatismus, der steht ja jetzt nicht mehr so da. Es sollte ja einen Ratsbeschluss geben. Zwei Drittel Mehrheit, davon ist die Rede. Das ist doch weicher als das, was Bundeskanzlerin Merkel jetzt gerade eben auch als Ziel formuliert hat!

    Vannahme: Es ist sicherlich weicher und da muss man mal daran erinnern, wer hier mit dem Aufweichen eigentlich angefangen hat. Das waren Deutschland und Frankreich, die 2002 als Erste gegen den Stabilitätspakt verstoßen haben und genau über einen solchen Mechanismus, nämlich einen mehrheitlichen Ratsbeschluss, es verhindern konnten, dass über den blauen Brief der Kommission hinaus irgendwo ein Verfahren gegen sie eingeleitet worden ist, und das haben die anderen nicht vergessen. Ganz besonders die sogenannten kleinen Mitgliedsstaaten haben das nicht vergessen. Die sagen, wir waren doch nicht, nicht die Griechen waren die ersten Sünder, auch wenn es die schlimmsten und die größten Sünder am Ende gewesen sind, sondern die Urszene, die Ursünde ist begangen worden genau von den beiden, die uns heute diesen Automatismus irgendwo wegreden wollen.

    Herter: Es geht da um die mögliche Aberkennung von Stimmrechten. Auch dagegen wehren sich vor allem kleinere Länder.

    Vannahme: Ich glaube, da gibt es zwei Momente. Da gibt es einerseits das Klein-groß-Moment, das ins Spiel kommt, zum anderen aber die Angst, dass dieser Beschluss eine Vertragsänderung bedeutet, und eine Vertragsänderung heißt unter den heutigen Bedingungen bei 27 ein Ratifikationsprozess, der sehr, sehr lang ist und sehr, sehr gefährlich ist, zumal er in vielen Ländern pflichtgemäß mit Volksabstimmungen verbunden ist.

    Herter: Und da wird oft abgestimmt über Fragen, die gar nichts mit der EU zu tun haben!

    Vannahme: Richtig, und das ist, glaube ich, der Punkt, der auch bei vielen Gegnern - ich habe etwa tschechische Stimmen heute Morgen gelesen, die genau in diese Richtung gehen, die sagen, Mensch, wir haben jetzt gerade zehn Jahre Reformprozess vertraglich hinter uns, mühsamstens, jetzt sollen wir den nächsten Prozess da aufmachen und wir haben einfach die Befürchtung, wir verlieren Zeit und am Ende verlieren wir die Abstimmung und fangen wieder von vorne an.

    Herter: Herr Vannahme, müssen wir uns daran gewöhnen, dass die deutsch-französische Achse nicht mehr so den Antrieb darstellt, den die Achse früher dargestellt hat, in Europa, in der Europäischen Union, aber auch in den Europäischen Gemeinschaften?

    Vannahme: Ich glaube, das ist einfach ein Stück Arithmetik. Da kann man einfach rechnen: Bei sechs waren zwei ein Drittel und das war bereits eine ganze Menge, bei 27 ist das eine nach wie vor nicht zu überhörende und übersehende Minorität, aber halt eine Minorität. Das zweite ist: Wenn man an diese großen Zeiten der deutsch-französischen Achse - ich mag das Wort nicht so sehr -, sagen wir das Tandem dort erinnert, dann hat das dann immer besonders gut funktioniert, wenn sowohl die Franzosen, als auch die Deutschen unabhängig von ihrem Einverständnis untereinander einen Schritt auf die sogenannten kleineren zugemacht haben. Früher war das sehr, sehr häufig Luxemburg oder Belgien, die da ins Spiel gebracht worden sind. Dann waren es mal eine Zeit lang so Partner wie Spanien, immer wieder mal auch die Niederlande, als sie noch proeuropäisch gestimmt waren und von der Idee auch wirklich überzeugt waren. Ich glaube, dieses Spiel zwischen Deutschland und Frankreich funktioniert immer dann, wenn man ganz früh auf andere Dritte zugeht und die teilhaben lässt und mit ins Spiel bringt. Dann ist hinterher das eigentlich unwahrscheinlich, was wir jetzt gerade erleben, nämlich 24 Stunden vor einem Gipfel helle Aufregung und die Erwartung, dass der Gipfel wo möglich ein schallender Misserfolg werden wird.

    Herter: Joachim-Fritz Vannahme, Fachmann der Bertelsmann-Stiftung für EU-Fragen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Vannahme.

    Vannahme: Gern geschehen!