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"Europa ist jedenfalls keine abgeschlossene Veranstaltung"

Im Vorfeld einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga unter dem Titel "Brücken bauen in Europa" hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die Staaten der Europäischen Union erneut aufgefordert, eine europäische Verfassung voranzutreiben. Ohne eine gemeinsame Konstitution lasse sich die Bedeutung Europas "in einer immer mehr zusammenrückenden globalen Welt nicht aufrechterhalten", sagte der CDU-Politiker.

Moderation: Jürgen Liminski |
    Jürgen Liminski: Ohne Nationalgefühl kann ein Volk in der heutigen Welt der europäischen Integration nicht bestehen. Dieses Wort des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer ist für das Deutschland im Jahr 2007 eine Selbstverständlichkeit. Natürlich gibt es hierzulande Ausschläge in die eine oder andere Richtung, aber die große Mitte bewegt sich eben in der Mitte. Anders sieht es aus bei manchen osteuropäischen Ländern, denen Europa nicht so viel sagt, wo vielleicht sogar ein gewisses Misstrauen gegenüber der EU und damit auch wieder ein Nationalismus wächst. Darüber wird seit heute in Riga auf einer Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung diskutiert und auch Bundestagspräsident Norbert Lammert wird heute nach Riga reisen, aber vorher noch mit uns sprechen. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen Herr Lammert!

    Norbert Lammert: Hallo. Ich grüße Sie!

    Liminski: Herr Lammert, womöglich haben sich etliche Bürger der neuen EU-Länder Europa anders vorgestellt. Jedenfalls wächst in manchen Ländern im Osten des Kontinents der Nationalismus. Kann man sagen je schwächer die Bindekraft Europas, umso stärker der Nationalismus?

    Lammert: Nein, das wäre mir ein bisschen zu pauschal und auch ein bisschen zu unhistorisch. Ich will es mal am Beispiel des Vergleichs Deutschland und Polen deutlich machen. Deutschland ist in die Europäische Gemeinschaft gegangen zu einem Zeitpunkt, als ein maßlos übersteigertes Nationalgefühl nach dem Zweiten Weltkrieg den Deutschen gründlich verloren gegangen war und als einzig aussichtsreiche Perspektive für die Wiederherstellung der eigenen politischen Reputation und als vage Zukunftshoffnung einer möglichen Wiederherstellung der nationalen Einheit. Europa war die große Chance für Deutschland, auch als Nation gewissermaßen wieder sicheren Boden unter die eigenen Füße zu bekommen. Wenn Sie jetzt Polen nehmen, ein Land, das über Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg immer wieder von Nachbarn dominiert war, das über 100 Jahre in seiner staatlichen Existenz verloren gegangen war und das dann gerade mal nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum unter russischer, sowjetischer Vorherrschaft am Ende der 80er Jahre seine politische und Anfang der 90er seine politische Souveränität gefunden hat. Dass ein solches Land sich schwer tut, wenn es als neues Mitglied der Europäischen Gemeinschaft gewissermaßen als erste Aktion die gerade mal wiederhergestellte Souveränität weiterreichen soll, dafür habe ich viel Verständnis.

    Liminski: Europa die Chance für Deutschland damals. Hat denn Osteuropa heute andere Alternativen?

    Lammert: Nein oder fairerweise müsste man sagen es gibt immer Alternativen. Weder Polen noch Ungarn noch die Tschechische Republik und schon gar nicht die baltischen Staaten hat irgendjemand genötigt, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden. Aber es ist ja hoch aufschlussreich, dass quer durch die verschiedenen politischen Gruppierungen in allen diesen Ländern kaum ein anderes Interesse nachdrücklicher, leidenschaftlicher vertreten wurde als die möglichst schnelle Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft. Mindestens ein Indiz dafür, Dass sie selber das als in ihrem Interesse liegend empfunden haben.

    Liminski: Welche Rolle, Herr Lammert, sehen Sie denn für Deutschland im Spannungsfeld zwischen Nationalismus und Europa oder anderen Alternativen? Sind wir sozusagen ein Vorbild für Polen, Litauen, Lettland, Estland, auch die anderen Neuzugänge?

    Lammert: Mindestens sollten wir diesen Anspruch nicht erheben. Wenn wir es sind, sind wir es, aber eine solche Rolle kann man nicht durch Anspruch gewinnen. Für Deutschland gilt wie für alle anderen Mitgliedsstaaten in jeweils unterschiedlicher Ausprägung, weil jedes Land seine eigene Geschichte hat, Dass wir unsere nationale Identität nicht an europäischen Garderoben abgeben. Im Übrigen hat ja, wenn dieser Vergleich gestattet ist, die Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Jahr in einer wirklich überzeugenden Weise demonstriert, dass das eine sich mit dem anderen sehr gut verbinden lässt. Die Freude über die Zugehörigkeit zum eigenen Land und die Erfolge einer eigenen Mannschaft mit einer Aufgeschlossenheit und Weltoffenheit und einer Fröhlichkeit auch im Umgang miteinander, von der man früher nicht vermutet hätte, dass so etwas jedenfalls in Deutschland möglich ist.

    Liminski: Patriotismus und Weltoffenheit. Für die Franzosen und Briten war das nie ein Problem. Ist das Europa der Vaterländer mittlerweile eine unumstößliche Realität, oder halten Sie es für möglich, Dass das Großprojekt Europa am Nationalismus noch scheitern könnte, oder um es anders zu formulieren ist auch Europa ein tägliches Plebiszit?

    Lammert: Europa ist jedenfalls keine abgeschlossene Veranstaltung. Allerdings sind das die Nationalstaaten auch nicht. Wenn vor 50 Jahren, als sechs Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft die Römischen Verträge untereinander vereinbart haben, irgendjemand vorausgesagt hätte, dass diese Wirtschaftsgemeinschaft ihren 50. Geburtstag erleben würde, hätte das schon manche Skepsis erzeugt. Wenn es mit der Prognose verbunden gewesen wäre, sie würde ihren Geburtstag mit 27 Mitgliedsstaaten feiern aus West-, Mittel- und Osteuropa und das nicht mehr als Wirtschaftsgemeinschaft, sondern als politische Union, man hätte das für Fantasterei gehalten. Deswegen sind Entwicklungen ergebnisoffen und sie hängen von der Gestaltung, von den Absichten, von dem Wollen der Menschen ab und wir sollten deswegen auch die zukünftige Entwicklung nicht für präjudiziert halten.

    Liminski: Das führt mich, Herr Lammert, zum Stichwort EU-Verfassung. Da ist ja auch viel Voluntarismus dabei. Ein neuer Anlauf soll nun genügend Schwung vermitteln, damit die nationalen Hürden überwunden werden. Anlauf nehmen ist ein methodischer Ansatz. Die Hürde scheint aber ein inhaltliches Problem zu sein. Muss man, um die Bindekraft Europas zu erhöhen, nicht auch das europäische Profil schärfen?

    Lammert: Ja und im Übrigen das mit dem Anlauf nehmen wird ja auch erkennbar nicht genügen. Also wir müssen auch abspringen und das ist das Problem, das wir ja vor allen Dingen jetzt in der Diskussion über den Verfassungsvertrag haben. Es gibt eine, wenn ich das richtig beurteile, doch breite Einsicht in und zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, dass unter den gegebenen vertraglichen Rahmenbedingungen diese Gemeinschaft von 27 Mitgliedsstaaten nicht handlungsfähig ist. Aber es tun sich verschiedene Länder unterschiedlich schwer, aus dieser vorhandenen Einsicht Schlussfolgerungen zu ziehen, die wiederum dann was zu tun haben mit der Bereitschaft, eigene Zuständigkeiten auch an diese Gemeinschaft zu übertragen. Aber ohne den Absprung zu einer solchen neuen Etappe des europäischen Einigungsprozesses wird sich die Bedeutung Europas in einer immer mehr zusammenrückenden globalen Welt nicht aufrechterhalten lassen.

    Liminski: Die kleine Lösung dieses Verfassungsanlaufs oder Sprungs besteht ja in der Reform der Institutionen, haben Sie angedeutet, was auch nötig ist, weil die Regelungen von Nizza 2009 auslaufen. Halten Sie es denn für möglich, Dass diese kleine Lösung auch mit ein paar Sätzen über das geistige Profil Europas vergrößert wird? Irgendwie muss man ja von der Bürokratie doch wieder zu einer Vision kommen, die zu begeistern vermag.

    Lammert: Das halte ich nicht nur für möglich, sondern das halte ich auch für dringend erwünscht. Ich füge aber hinzu: eine Übereinkunft von 27 Mitgliedsstaaten mit Blick auf die notwendigen institutionellen Reformen würde ich von solchen wünschenswerten Ergänzungen des Textes nicht abhängig machen. Denn ob und mit welcher inhaltlichen Motivation, mit welcher geistigen Orientierung wir dieses Europa begreifen und weiterentwickeln wollen, hat ganz sicher erhebliche Bedeutung für die künftige Entwicklungsperspektive. Das ergibt sich aber nicht zwangsläufig aus einem niedergeschriebenen Text. Es gibt Beispiele für eindrucksvolle philosophische Grundierungen, die politisch folgenlos geblieben sind, und es gibt umgekehrte Beispiele für eindrucksvolle politische Entwicklungen in Ländern, die nicht einmal eine geschriebene Verfassung haben.

    Liminski: Die Tagung in Riga steht unter dem Titel "Brücken bauen in Europa". Gibt es eine Brücke über den Bosporus? Gehört die Türkei zu Europa? Das ist ja ein besonders nationalistisch geprägtes Land.

    Lammert: Wir haben dazu nicht nur in Deutschland, aber auch in Deutschland in den und zwischen den Parteien erkennbar unterschiedliche Grundauffassungen. Es gehört zu den Auffälligkeiten der aktuellen politischen Situation in Deutschland, dass wir eine Regierung haben, die von zwei großen Parteien gebildet wird, in denen diese beiden unterschiedlichen Grundauffassungen jeweils vertreten werden. Die CDU hat sich eher zurückhaltend gegenüber einer Vollmitgliedschaft ausgesprochen und hat eine so genannte privilegierte Partnerschaft der Türkei mit der Gemeinschaft vorgeschlagen, während sich die SPD auch im letzten Bundestagswahlkampf für eine Vollmitgliedschaft ausgesprochen hat. Vereinbart ist, dass die mit der Türkei ja bereits begonnenen Verhandlungen ergebnisoffen geführt werden. Das heißt die Frage, ob sich daraus eine Perspektive für die Vollmitgliedschaft der Türkei ergibt oder nicht, soll im Lichte der erzielten Verhandlungsergebnisse entschieden werden.

    Liminski: Sie neigen so wie Ihre Partei zur privilegierten Partnerschaft in Bezug auf die Türkei. Das wäre ein weiterer Kreis, aber auch innerhalb der EU gibt es wirre Kreise der Integration. Ist das das Modell der Zukunft?

    Lammert: Das hängt von der Entscheidung beispielsweise jetzt über den Verfassungsvertrag ab. Ich plädiere mit Nachdruck dafür, dass wir den weiteren Integrationsprozess der Gemeinschaft mit allen Mitgliedsstaaten gemeinsam gehen sollten. Ich weise aber auch immer wieder darauf hin, dass diejenigen, die einen solchen Schritt jetzt nicht gehen wollen, und die aus Gründen, die man dann wird respektieren müssen, einem solchen Verfassungsvertrag nicht zustimmen können oder wollen, damit genau das Europa der zwei Geschwindigkeiten herbeiführen, das sie in der Regel jedenfalls gerne vermeiden möchten. Denn ich halte für ausgeschlossen, dass bei einem Scheitern dieser Bemühungen, von denen ich dringlich hoffe, dass sie gelingen, sich alle 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft auf den Status Quo festnageln lassen, sondern dann werden die Länder, die an einer intensiveren Zusammenarbeit interessiert sind, andere Vereinbarungen finden, um die gewünschte Verstärkung der Zusammenarbeit möglich zu machen.