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Europa ist nur im Plural zu haben

Ein grenzüberschreitendes Interesse der europäischen Gesellschaften besteht darin, Orientierung zu schaffen - ein klares Bild von Europa zu gewinnen. Seit 2009 wird das Projekt "Lost in Translation? Europabilder und ihre Übersetzungen" vom Bundesforschungsministerium gefördert.

Von Bettina Mittelstrass | 12.07.2012
    Was ist dieses "Europa" eigentlich? Die Frage ist so alt wie die Idee, so aktuell wie die Euro-Krise und immer noch nicht zufriedenstellend beantwortet.

    "Europa mit diesen Grenzen war erstens nicht immer in dieser Gestalt geografische Referenzgröße - es gibt unendlich viele geografische Gliederungen Europas im 19. und 20. Jahrhundert -, und die, die sich letztlich bis heute durchgesetzt hat, ist im Grunde heute völlig uninteressant."

    Europa ist nur im Plural zu haben - auch geografisch, sagt Hans-Dietrich Schultz, Professor für Geografie an der Humboldt-Univeristät zu Berlin. Wo europäische Grenzen verlaufen und was mit Europa gemeint ist, war immer und bleibt immer Kommunikation, Aushandlung, Vereinbarung und Konstruktion - egal, ob es um Wirtschaft, Politik, Kultur oder eben um den geografischen Raum Europas geht. Europa forme sich permanent abhängig von Interessen. Ein grenzüberschreitendes Interesse der europäischen Gesellschaften besteht immerhin darin, Orientierung zu schaffen - ein irgendwie klares Bild von Europa zu gewinnen und zu vermitteln. Aber genau das kann zu Problemen führen.

    "Ordnung hinein zu bringen in eine Welt von einer Vielzahl von Daten in Chaos läuft immer unter Reduktion von Komplexität. Das heißt, man hat enormen Informationsverlust und gewinnt Orientierung. Aber umgekehrt, wenn man es zu sehr strapaziert das Motiv, dann hat man am Ende einen so riesengroßen Informationsverlust, dass es ziemlich falsch wird."

    Heraus kommen peinliche Stereotype - insbesondere in Bezug auf jeweils andere Europäer. Die Griechen zum Beispiel. Die Frage, ob sie und wenn ja wie zu Europa gehören, ist derzeit ein Schlachtfeld der Klischees. Unterschiedliche Wahrnehmungen über das, was Europa und europäisch ist, interessiert seit drei Jahren die Wissenschaftler im Forschungsprojekt "Lost in Translation? Europabilder und ihre Übersetzungen." Im Verbund untersuchten Historiker des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig, der Universität Kassel und am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam was sich beim Grenzübertritt von einem europäischen Land zum anderen so alles an Deutungen verschiebt, was hinzukommt oder verloren geht. Ein Beispiel:

    "Der erste Weltkrieg. Für Deutschland, für Österreich ist das die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen, mit erheblichen Verlusten an nationaler Größe und Stärke einhergegangen, wie sie damals definiert wurde. Gleichzeitig war es aber für viele Länder in Ostmitteleuropa ja der Startpunkt für eine eigenständige nationale Entwicklung. Und damit werden die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs komplett unterschiedlich bewertet."

    Hartnäckig nachzulesen etwa in den jeweiligen nationalen Schulbüchern. Und jeder denkt: So wie ich das lernte, stimmt das wohl auch. Die anderen müssen nur besser verstehen. Die Professorin Simone Lässig, Direktorin des Instituts für internationale Schulbuchforschung:

    "Der Ausgangspunkt für das Projekt ist eigentlich gewesen der metaphorische Begriff der kulturellen Übersetzung. Das heißt auf der Frage, wie deutlich unterschiedliche Kulturen miteinander kommunizieren, gemeinsame Themen verhandeln und in der Übersetzung auch etwas Neues entsteht - eben Europa oder eine neue Vorstellung von Europäizität."

    Auch "Europäisches Kulturerbe" ist so ein Begriff, an dem fleißig gedeutet und konstruiert wird. Was ist das? Was gehört dazu? Winfried Speitkamp, Professor für Geschichte an der Universität Kassel:

    "Schon der Begriff 'Kulturerbe' muss übersetzt werden. Aber Übersetzung auch im Sinne von Übertragung und Aneignung. Wie macht man einer anderen Nation oder einer regionalen Gemeinschaft deutlich, was das eigene Kulturerbe ist? Mit welchen historischen Informationen, kulturellen Informationen kann man überhaupt verständlich machen, was der eine unter einem bestimmten Objekt, unter einem bestimmten Bau, unter einem bestimmten Denkmal oder einer anderen Hinterlassenschaft versteht, und was es für ihn bedeutet? Also ständige Diskussion um Übertragung, Aneignung und in dem Sinne um Übersetzung von Kulturerbe."

    Nicht anders sieht es in parlamentarischen Debatten europäischer Länder aus. Die Historikerin Paulina Gulínska-Jurgiel hat sich am Zentrum für Zeithistorische Forschung mit polnischen Parlamentsdebatten nach dem Ende der Diktatur beschäftigt. Ihr Fokus lag dabei auf der Übersetzung des politischen "Wandels". Wie spielten konkret in den polnischen Debatten um die Vergangenheitsbewältigung die Vorstellungen der Nachbarländer mit hinein?

    "Es ist in der Tat so, dass diese Verzahnung, gegenseitige Wahrnehmung durchaus der Fall war. Also Polen hat enorm andere Länder rezipiert. So logisch oder selbstzwingend die Beispiele Tschechien oder Deutschland sind, haben sich die polnischen Parlamentarier wirklich alles Mögliche ausgedacht. Die haben Spanien aufgegriffen, die haben Ungarn aufgegriffen, die haben Clearing Procedures von den USA rübergenommen, Londoner Scotland Yard haben sie als Gegenfolie genommen, also alles, was sozusagen in die eigene parteipolitische Argumentation passte, wurde verwendet."

    Dabei entstanden auch Missverständnisse, die von einer langen Lebensdauer sind, sagt die Wissenschaftlerin. Ein Beispiel ist die Rede vom "Schlussstrich" des ersten demokratisch gewählten polnischen Ministerpräsidenten 1989, der für das Argument herangezogen wird, dass Polen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zunächst keine Aufarbeitung der Stasiakten wollte.

    "Ministerpräsident Mazowiecki, der sich in seinem Antrittsexpose wirklich den einen Satz zusammengelegt hat: Wir ziehen unter die Vergangenheit eine dicke Linie. Er meinte damit, dass seine Regierung nur die Verantwortung von jetzt an übernimmt. Vor allen Dingen meinte er damit die Lage der Wirtschaft. Er wollte aber nicht damit andeuten, dass er keine Vergangenheitsaufarbeitung vornehmen wird. Jetzt wird aber schon über Jahre hinweg Mazowiecki mit einem Schlussstrich gleichgesetzt, was meint: Keine Abrechnung, wir lassen es erstmal ruhen."

    Bis heute lebt diese Deutung immer wieder auf – zuletzt in deutschen Medien im Zusammenhang mit dem Staatsbesuch von Bundespräsident Joachim Gauck in Polen. Besseres Übersetzen in die Vielfalt kultureller Deutungen wird Europa gerechter als einfache Festlegungen, will die Arbeit des Forschungsprojektes zeigen. Die aktuelle Euro-Krise bestätigt das wohl:

    "Die Diskussion um Euro, D-Mark und so weiter ist ja auch eine Diskussion um Kulturerbe. Die D-Mark wird ja fast als Kulturerbe behandelt. Es kommen so viele Vorstellungen von nationalen Stereotypen, aber auch von nationalem Erbe dabei wieder zum Vorschein, dass man sieht, dass so eine Diskussion immer auf verschiedenen Ebenen geführt wird und das Kulturelle gehört durchaus dazu, auch wenn es scheinbar in den Hintergrund tritt momentan."