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"Europa kann die Türkei nicht aufgeben"

Vor dem Hintergrund des anstehenden Verbotsverfahrens gegen die türkische Regierungspartei AKP vermisst der türkischstämmige SPD-Abgeordnete Vural Öger positive Signale aus Europa für einen EU-Beitritt des Landes. Die ständige Kritik an der Türkei stärke den Nationalismus und schwäche die Reformkräfte.

Moderation: Jochen Fischer |
    Jochen Fischer: Der türkische Ministerpräsident Erdogan regiert unter den wachsamen Augen der türkischen Generäle und die hegen Feindschaft gegen den Mann von der islamischen AKP-Partei. Deshalb läuft vor dem Verfassungsgericht ein Verfahren auf Verbot der AKP. Wohl gemerkt: Es handelt sich nicht um eine extremistische Splittergruppe, sondern um die Regierungspartei, um die Partei, die bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr 46,6 Prozent der Stimmen und damit die absolute Mehrheit erreicht hatte. Sie passt den Generälen, die sich als Hüter der türkischen Verfassung sehen, nicht ins Konzept. Sie befürchten die Verwandlung des Landes in eine religiös geprägte Republik. Gleichzeitig gab es im Land Verhaftungen, denen auch hohe Militärs zum Opfer gefallen sind. Am Telefon begrüße ich Vural Öger. Er sitzt für die SPD im Europaparlament und ist in der Türkei geboren. Guten Morgen Herr Öger.

    Vural Öger: Guten Morgen!

    Fischer: Der türkische Verfassungsgerichtshof verhandelt über das Verbot der Regierungspartei AKP. Sie wird also mit Argwohn betrachtet wegen ihrer angeblichen Nähe zum Islam. Ist da was dran? Will die AKP den Gottesstaat in der Türkei?

    Öger: Nein, das glaube ich nicht. Aber die AKP hat natürlich islamistische Wurzeln. Die Partei ist entstanden, nachdem die Refah-Partei, also die Partei von Erbakan, auch von der türkischen Justiz geschlossen worden war. Dann haben sie sich allerdings entschieden, einen moderaten Weg zu gehen, einen weltlichen Islam kann man sagen. Manche sagen, so ein calvinistischer Islam in der Türkei. Das heißt sie haben großen Wert auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gelegt und sie sind auch dabei, die anatolische Bevölkerung mit der Modernität zusammenzubringen.

    Fischer: Ja und damit haben sie auch die Wahlen gewonnen. Sie sind die stärkste Kraft.

    Öger: Ja. Damit haben sie die Wahlen gewonnen. Sie haben die Wahl überwiegend in Anatolien gewonnen und selbst auch in den Kurdengebieten haben sie die Wahlen gewonnen. Es ist erstaunlich, dass sie weit über 50 Prozent in den kurdischen Gebieten bekommen haben - mehr als die kurdische Partei. Das heißt es gibt eine Hoffnung in dieser Partei, dass die Situation in der Türkei besser sein könnte. Bis jetzt war die Leistung der Partei in Ordnung, bis natürlich zu der Zeit, in der sich Erdogan entschlossen hat, das Kopftuch in den Universitäten einzuführen.

    Fischer: Er ist ja als Wahlsieger sozusagen legitimiert. Das Vertrauen der Wähler, der Bürger hat er sowieso. Warum reicht diese Legitimation dem Gericht nicht aus?

    Öger: Das Kopftuch ist in der Türkei nicht nur ein Stück Stoff. Für die kemalistischen Eliten in Ankara bedeutet es ein Symbol der Islamisierung und einen Verstoß gegen den Laizismus des Staates. Aber tatsächlich nach den Wahlen am 22. Juli des vergangenen Jahres wollte Erdogan nicht nur die Regierung; er wollte auch den Staat. Er fing an, in Ankara sozusagen in den höchsten Etagen des Staates viele Bürokraten auszutauschen. Er bevorzugte zum Beispiel die Bürokraten, deren Frauen Kopftücher trugen. Das alles war natürlich für die Armee ein Dorn im Auge gewesen und sowohl die Armee als auch die Justiz haben sich seit der Gründung der türkischen Republik immer als Hüter des Staates, Hüter der Verfassung verstanden. In deren Augen ist es ein Verstoß gegen die laizistischen Prinzipien des Staates.

    Fischer: Also es gibt eine Instanz, die über der Verfassung steht, über der Regierung. Müssen die Türken, muss die Türkei nicht eigentlich klären, wer der Souverän im Land ist?

    Öger: Selbstverständlich, aber das Laizismusverständnis in der Türkei ist natürlich anders. Laut Verfassung hat die Armee die Aufgabe, den Laizismus zu schützen, die Verfassung zu schützen. Das gibt es in keinem anderen westlichen Land in Europa. Die Armee glaubt, aus der Verfassung heraus dieses Recht zu haben, in deren Verständnis natürlich den Laizismus in der Türkei zu schützen. Diese Bewegung der Regierung, an den Universitäten wie gesagt das Kopftuch einzuführen, ist für die ein Verstoß gegen den Laizismus des Staates. Daher fühlen sie sich natürlich beauftragt, laut Verfassung einzuschreiten, beziehungsweise die Justizorgane fühlen sich berufen, dagegen vorzugehen.

    Fischer: Damit entfernt sich die Türkei offenbar weiter von Europa. Es gibt deutliche Kritik aus der EU an diesem Verfahren. Wie weit ist denn die Türkei wirklich noch von Europa entfernt, wenn es in diesem Verbotsverfahren weitergeht?

    Öger: Man kann natürlich nach dem Ist-Zustand gehen. Dass die Türkei von heute noch nicht beitrittsfähig ist, das ist völlig klar. Das ist ein Prozess. Das sind Verhandlungen, die noch mehrere Jahre dauern werden. Und kein Land, gerade unter den 10 oder 12 der neulich aufgenommenen Länder, war in den Verhandlungen beitrittsfähig. Das ist ein Prozess. Das muss man in Ruhe abwarten. Und man wird vielleicht in acht bis zehn Jahren sehen, ob das Land sich so weit entwickelt hat, dass man über den Beitritt reden könnte.

    Fischer: Hat die Türkei denn so lange Zeit, so lange zu warten? Bekommen jetzt nicht diejenigen Auftrieb die sagen, einen solchen Staat, in dem die Regierungspartei verboten werden kann, können wir in Europa überhaupt nicht integrieren?

    Öger: Wissen Sie, es ist eine lange Zeit. Aber ich meine es fehlt auch in Europa überwiegend eine Bereitschaft, die Türkei aufzunehmen. Das darf man auch nicht vergessen. Das ist ein sehr mühsamer Prozess. Man schickt sehr wenige positive Signale in dieses Land, weil jedes Mal gibt es eine Kritik. Dass das Land so nationalistisch wurde, hat finde ich auch einen Grund, indem man aus Europa ständig negative Signale bekommt. Die Eliten in der Türkei haben die Hoffnung aufgegeben, dass sie überhaupt eines Tages Mitglied werden. Daher spielt die Europäische Union in dieser Bewegung Richtung Nationalismus auch eine gewisse Rolle: sei es Sarkozy, sei es die Äußerung von Angela Merkel, von vielen europäischen Politikern. Unter diesen Umständen fällt es den Reformkräften in der Türkei natürlich wirklich schwer, den Reformprozess weiter fortzusetzen. Das ist eine zweiseitige Geschichte. Einmal machen die Türken wie gesagt am laufenden Band Fehler; auf der anderen Seite fehlt eigentlich die wirkliche Bereitschaft, der Türkei gegenüber zu sagen, wir nehmen euch sehr bald auf und wie auch immer. Deswegen ist das ein sehr mühsamer, langsam verlaufener Prozess. Europa kann die Türkei nicht aufgeben. Auf der anderen Seite wollen sie die Türkei nicht gleich aufnehmen. Die türkische Seite hat wiederum das Vertrauen und den Glauben verloren. Es ist ein recht mühsamer Verhandlungsprozess.

    Fischer: Der Europaabgeordnete Vural Öger. Vielen Dank für das Interview in den "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk.