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"Europa kann und muss auch vermitteln"

Angesichts des Kaukasuskonflikts hat der Europaabgeordnete der Linkspartei, André Brie, von der EU verstärkte Vermittlungsbemühungen gefordert. Bei den im Oktober stattfindenden deutsch-russischen Konsultationen in St. Petersburg sollte die Bundesrepublik die Rolle des Mittlers übernehmen. Russland habe starke ökonomische und politische Interessen an der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union.

André Brie im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Christoph Heinemann: Kein öffentliches Händeschütteln, kein Familienfoto. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union wollen heute ab 15 Uhr drei Stunden lang konzentriert arbeiten und eine möglichst einheitliche Haltung der Union zum Konflikt zwischen Georgien und Russland erarbeiten. Ein weites Feld, welches die Stichworte "Sanktionen gegen Russland", "NATO-Mitgliedschaft Georgiens", "EU-Mitgliedschaft der Ukraine" umfasst und so weiter.
    In unserer Sendung "Informationen am Morgen" äußerte sich Martin Schulz, der Fraktionschef der Sozialisten im Europaparlament, heute Früh:

    O-Ton Martin Schulz: Man muss im Detail prüfen: Was sind berechtigterweise die Interessen Russlands und wo ist Russland auf dem Weg, sich selbst zu isolieren. Das heißt ich glaube schon, wenn man ihnen einen Ausweg bietet aus der Situation, dass sie dann zumindest als nächsten ersten Schritt bereit wären, sich auf die Ausgangsposition vor dem Konflikt in Südossetien zurückzuziehen. Das wäre ja schon mal ein erster Schritt.

    Heinemann: Der SPD-Politiker Martin Schulz. Am Telefon ist André Brie, Europaabgeordneter der Linkspartei. Guten Tag!

    André Brie: Schönen guten Tag, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Brie, ist Russland auf dem Weg, sich selbst zu isolieren?

    Brie: Die Gefahr gibt es schon. Es gibt in Russland autoritäre Tendenzen. Auf der anderen Seite muss man natürlich auch berücksichtigen, dass Russland bewusst isoliert wird.

    Heinemann: Von wem?

    Brie: Die Osterweiterung der Nato, eine amerikanische Stützpunktpolitik rund um Russland oder auch die Demütigung Russlands halte ich für völlig kontraproduktiv.

    Heinemann: Ist das realistisch, was Martin Schulz gesagt hat? Das heißt, eine ausgestreckte Hand könnte dafür sorgen, dass sich Russland auf die Ausgangsposition vor dem Konflikt zurückzieht?

    Brie: Das halte ich für realistisch und für notwendig. Russland hat ein neues Selbstbewusstsein. Man kann keine Politik verfolgen, wo man Russland isolieren will. Man braucht die Kooperation und soweit ich Russland kenne, gibt es dort starke Interessen an dieser Bindung an den so genannten Westen, an Kooperationen. Deswegen glaube ich, dass das genau die richtige Politik wäre.

    Heinemann: Anderes Wort für Selbstbewusstsein ist, dort wird Politik mit dem Bizeps gemacht.

    Brie: Ja, aber nicht nur dort, sondern ich habe schon erwähnt: die Erweiterung der NATO nach Osten hin oder die amerikanische Politik gegenüber Russland, gegenüber China, das sind auch Dinge, die für Russland zum Teil eine Bedrohung, auf jeden Fall eine Demütigung darstellen. Das ist Machtpolitik, die einfach nicht mehr in diese Welt gehört. Wenn ich jetzt immer höre, Georgien pro-westlich und freiheitlich, und diese Einteilung zum Beispiel in der Ukraine in pro-russisch und pro-westlich, das sind völlig falsche Klischees. Das hat mit der Situation dort nichts zu tun, das hat mit der heutigen Welt nichts zu tun und das sind Regime sowohl in Georgien als auch in Russland, die gleichermaßen autoritäre Tendenzen haben. Da vermisse ich einfach den Realismus bei uns, in unseren Einschätzungen der Situation in diesen Ländern.

    Heinemann: Inwiefern ist die NATO-Osterweiterung eine Bedrohung? Der frühere Bundesverteidigungsminister Volker Rühe hat gesagt, es ist eben nicht mehr die NATO der 70er und 80er Jahre und die NATO hat in den neuen Staaten keine Truppen stationiert.

    Brie: Ja, da hat er sicherlich Recht. Das ist nicht mehr die NATO der Vergangenheit. Aber zum einen muss man berücksichtigen, wie Russland das sieht, ob das falsch oder richtig ist, aber man muss einfach zur Kenntnis nehmen, dass sie das als Bedrohung sehen. Wenn ich die Raketenstationierung, die Anti-Raketen-Raketen der USA jetzt in Polen, in der Tschechischen Republik nehme, dann gibt es, glaube ich, schon reale Bedrohungsgefühle dort. Zum anderen ist es eben die Grundfrage: Wollen wir mit Russland eine kooperative Haltung haben, oder sehen wir Russland als einen potenziellen Gegner? Und das letztere halte ich für völlig falsch.

    Heinemann: Müssten sich nicht vielmehr die Ukrainer, die Moldawier und die Polen Sorgen machen? Sie sprachen gerade von Bedrohung.

    Brie: Es gibt in Russland nicht nur in der Innenpolitik autoritäre Tendenzen. Russland macht Machtpolitik. Sie versuchen, ihren eigenen Einflussbereich zu sichern. Aber für mich ist das Grundproblem: Wenn wir das ändern wollen - und wir müssen es ändern -, dann müssen wir selbst auch auf solche Politik verzichten.

    Heinemann: Wer hat im Kaukasus angefangen?

    Brie: Offensichtlich eindeutig Georgien. Sie haben geglaubt, dass sie vollendete Tatsachen schaffen können. Es ist, glaube ich, unbestritten, dass der Angriff auf Südossetien von Georgien stattfand. Dass Russland selbst in der Vergangenheit auch versucht hat, seine eigenen Machtpositionen zu sichern, das halte ich für genauso eine Tatsache. Ich möchte es aber wiederholen: Wollen wir wirklich, dass Russland seine Politik ändert? Dann müssen wir auch selbst unsere Politik ändern. Und Georgien zu ermutigen, dass sie Abchasien oder Südossetien wieder in ihren eigenen Einflussbereich zurückholen, das ist zurzeit die völlig falsche Politik.

    Heinemann: Das heißt, wenn Sie sagen "sollen wir dafür sorgen, dass Russland seine Politik ändert", der Unterschied zwischen Medwedew und Putin ist kein großer?

    Brie: Das ist kein großer, aber ich muss eben auch sagen, dass auch der Unterschied zwischen Putin oder Medwedew auf der einen Seite und George Bush auf der anderen Seite kein großer ist.

    Heinemann: Herr Brie, Helmut Schmidt hat Russland einst als Obervolta mit Atomraketen beschrieben. Trifft das heute noch zu? Ist Russland Burkina Faso mit Öl, Gas und Waffen?

    Brie: Nein! Russland hat eine sehr rationale Regierung. Da ist nichts an Irrationalität. Das ist alles berechenbar. Wenn ich zum Beispiel den Fall Kosovo nehme: Russland hat immer gesagt, das ist ein Präzedenzfall. Wir im Westen haben gesagt, Kosovo ist ein Einzelfall. Wir haben einfach ignoriert, dass es solche Probleme in vielen anderen Regionen der Welt, übrigens auch in Westeuropa gibt, und haben uns darüber hinweggesetzt. Wir können dann auch nicht erwarten, dass andere Länder wie zum Beispiel Russland sich vernünftiger verhalten oder eine andere Politik machen.

    Heinemann: In den Vereinigten Staaten bestimmt der Wahlkampf die Politik, auch die Außenpolitik. Kann Europa zwischen Georgien und Russland vermitteln, oder hat sich Europa schon zu sehr festgelegt?

    Brie: Nein. Europa kann und muss auch vermitteln. Das ist die wirkliche Verantwortung, das ist die große Chance, die die Europäische Union hat. Russland hat ganz starke Interessen an der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, ökonomische, politische Interessen. Diesen Platz können wir ausfüllen. Das muss jetzt wahrgenommen werden und ich hoffe sehr, dass Ende des Monats, Anfang Oktober, wenn die deutsch-russischen Konsultationen in St. Petersburg stattfinden, gerade die Bundesrepublik Deutschland diese Rolle ausfüllt.

    Heinemann: Und wie viel muss man sich von Moskau gefallen lassen?

    Brie: Man muss sich nichts gefallen lassen. Man muss auch Russland ganz klar sagen, dass wir im Inneren die autoritären Tendenzen, die Unterdrückung von Meinungsfreiheit, von politischem Pluralismus absolut kritisch sehen und dass das für uns unakzeptabel ist. Auf der anderen Seite wird man Russland gegenüber auch eine sehr verantwortungsvolle, geduldige Politik machen müssen und der Kern ist, dass wir selbst nichts machen dürfen gegenüber Russland, was wir von Russland gegenüber Georgien, gegenüber der Ukraine, gegenüber Moldawien nicht erwarten.

    Heinemann: André Brie, Europaabgeordneter der Linkspartei. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.