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Europäische Flüchtlingspolitik
"An der Außengrenze muss Recht und Ordnung durchgesetzt werden"

Der CSU-Politiker und EVP-Vorsitzende im Europaparlament, Manfred Weber, hält das Vorgehen der griechischen Regierung für richtig, Flüchtlinge an der türkisch-griechischen Grenze zurückzuweisen. Die Menschen müssten kontingentiert und nicht unkontrolliert aufgenommen werden, sagte Weber im Dlf.

Manfred Weber im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 02.03.2020
Manfred Weber (CSU), stellvertretender Parteivorsitzender der CSU, spricht beim Deutschlandtag der Jungen Union
Manfred Weber (CSU): "Wir reden von Menschen, die missbraucht werden" (picture alliance / Harald Tittel)
Die Türkei hindert Flüchtlinge seit Samstag nicht mehr am Grenzübertritt nach Griechenland. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan begründete dies damit, dass die EU ihre Zusagen im türkisch-europäischen Flüchtlingsabkommen nicht einhalte.
Griechenland hat angekündigt, für einen Monat lang keine Asylanträge anzunehmen. Die Polizei hat inzwischen auch schwere Wasserwerfer im Einsatz an der Grenze zur Türkei, um Flüchtlinge am Übertritt der Grenze zu hindern.
Wie die EU nun reagieren kann und wie sie sich gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verhalten muss, dazu äußert sich Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der EVP im Europäischen Parlament.
Flüchtlinge in der türkischen Provinz Edirne wärmen sich auf, bevor sie den Versuch starten, nach Griechenland durchzukommen.
Migrationsforscher - Stillhalten der EU "kann man noch korrigieren"
Schon vor Wochen hätte die EU der Türkei zusagen müssen, sie in der Flüchtlingsfrage zu unterstützen, sagte Migrationsforscher Gerald Knaus. Dieser Fehler könne durch eine Konferenz korrigiert werden.
Volle Unterstützung für Kyriakos Mitsotakis
Ann-Kathrin Büüsker: Herr Weber, Schutzsuchende bekommen in Griechenland jetzt Tränengas anstelle eines Asylverfahrens. Ist das das moderne Europa?
Manfred Weber: Das moderne Europa muss helfen. Das steht außer Frage. Gerade die Türkei verdient massive Unterstützung, weil sie enorm viel leistet in der Aufnahme und in der Betreuung der syrischen Flüchtlinge. Auf der anderen Seite muss Europa auch in der Lage sein, Grenzen zu sichern. Und das heißt, wenn es zu kollektiven Versuchen kommt, die Grenze zu überschreiten, dass dann auch eine Abwehr stattfindet. Aus meiner Sicht hat Kyriakos Mitsotakis, die griechische Regierung in diesem Zusammenhang volle Unterstützung verdient. Wir können nicht zulassen, dass die Grenzverfahren, die im Schengen-Recht verankert sind, automatisch über Bord geworfen werden, nur weil es Erdogan politisch in die Tagesordnung passt.
Büüsker: Aber diese Menschen, die da an die Grenze kommen, die bitten um Asyl. Müsste Griechenland nicht Asylverfahren durchführen?
Weber: Wir haben jetzt vor kurzem ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs in Straßburg bekommen, der gerade das Verfahren, das beispielsweise auch in Marokko, in Ceuta von spanischen Behörden angewandt wird, dass dann auch, wenn es zu kollektiven Angriffen auf die Grenze kommt, dass dann auch kollektiv zurückgeführt werden kann. Das wird jetzt in Griechenland auch durchgeführt. Die Rechtslage ist deswegen eindeutig. Es handelt sich nicht um individuelle Menschen, die sagen, ich möchte jetzt in Griechenland Asyl beantragen, sondern es geht um Busse, die von Erdogan bezahlt werden, die an die Grenze gefahren werden, die oft aus bestehenden Flüchtlingslagern kommen, Menschen, die bereits untergebracht sind, und man darf auch darauf hinweisen, dass die Türkei ein sicherer Drittstaat ist. In der Türkei droht niemandem, dass er keine Unterstützung bekommt. Ich verstehe auch nicht, wenn die Leute sagen, sie werden nicht medizinisch oder durch Bildung unterstützt. Die Kinder dürfen in die Schule gehen. Das finanziert übrigens alles die Europäische Union, die Ausbildung der syrischen Kinder in den Camps.
Büüsker: Herr Weber, vielleicht können wir über die Situation der Menschen in der Türkei später noch sprechen. Das steht auch alles bei mir auf dem Zettel. Ich muss aber noch mal nachhaken. Sie bezeichnen das, was da jetzt passiert in der Region Edirne, als einen kollektiven Angriff auf die Europäische Union?
Weber: Es ist angekündigt. Erdogan hat das sogar die letzten Tage angekündigt, dass er das organisiert.
"Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen"
Büüsker: Aber wir reden ja hier von Individuen, von Menschen.
Weber: Wir reden von Menschen, die missbraucht werden, um politische Interessen zu erzielen. Von dem reden wir. Deswegen muss man den Menschen aber auch die Wahrheit sagen. Mitsotakis war in seinem öffentlichen Statement sehr klar. Die griechische Grenze ist geschlossen, auch übrigens die bulgarische. Die Grenzen sind geschlossen und es darf niemand über die Grenze. Jeder Staat hat das Recht, seine Grenze zu schützen und auch an der Grenze zu sagen, ich lasse jemand rein oder ich lasse jemand nicht rein. Deswegen muss es die Möglichkeit geben, dass wir das machen. Das wird jetzt in Griechenland durchgeführt. Ich unterstütze das voll. Die Grundbotschaft, Frau Büüsker, müssen wir auch klar sagen. Die Grundbotschaft ist auch, dass sich das Jahr 2015 nicht wiederholen darf. Einen unkontrollierten Zustrom von Tausenden, vielleicht Millionen Menschen nach Europa, wo wir nicht wissen, wer kommt, wo wir nicht wissen, wer da an der Grenze steht, weil die Prüfung faktisch nicht mehr möglich ist, wird sich und darf sich nicht wiederholen, und das ist natürlich auch die politische Botschaft dahinter. Die zweite politische Botschaft ist: Lieber Erdogan, lass uns an den Tisch setzen und miteinander reden, wie wir es machen, wie wir das klären, wie wir helfen, aber bitte versuch nicht, Europa mit Flüchtlingen zu erpressen, versuch nicht, Menschen zu nutzen, um uns zu erpressen, das wird nicht funktionieren.
Büüsker: Aber fallen Sie nicht auf das Spiel von Erdogan rein, wenn Sie jetzt den Menschen, die dort an die Grenze kommen, die Individualität absprechen und diese Menschen als Angriff bezeichnen? Da klingen Sie ja wie Viktor Orbán.
Weber: Niemand will an der Außengrenze solche Bilder. Niemand will das. Nur wir verursachen das nicht. Es sind organisierte Strukturen, die auch der türkische Staat zulässt, vielleicht sogar unterstützt, ich weiß das nicht, um die Menschen dann in diese Notsituation zu bringen. Ich wiederhole: Das sind keine Menschen, die jetzt in Idlib ganz konkret vorm Bombenterror von Assad fliehen, sondern das sind alles Menschen, die bereits in einem Flüchtlingscamp untergebracht sind, die bereits einen Platz haben.
Büüsker: Die vor Jahren aus Syrien geflohen sind und die jetzt zum Teil in der Türkei erleben, dass sie illegal nach Syrien zurückgeschickt werden.
Weber: Frau Büüsker, ich wäre ja bereit, dass wir auch in Europa über Kontingente reden, über Solidarität reden, dass wir sagen als Europäer, wir sind ein reicher Kontinent, wir nennen uns auch in Teilen einen christlichen Kontinent. Und wenn wir so sind, dann sollten wir auch in der konkreten Idlib-Situation überlegen, ob die Europäische Union nicht feste Kontingente der Türkei zusichert, um Lastenverteilung zu praktizieren. Zum Beispiel die alten Menschen, die in einem syrischen Flüchtlingscamp nicht gut untergebracht sind, oder die Menschen, die eine medizinische Untersuchung brauchen oder eine Unterstützung brauchen, dass wir die nach Europa holen, kontingentiert und staatlich organisiert. Aber das setzt voraus, dass an der Außengrenze Ordnung herrscht, dass die Menschen in Europa wissen, dass der Staat die Grenzen kontrolliert und auch prüft, wer denn diese Grenze überschreitet. Das geht nicht, wenn an der Grenze 13.000 einfach einreisen wollen. Das wird so nicht funktionieren. Und deswegen: Die Abfolge einer europäischen Flüchtlingspolitik ist erstens entschiedene Grenzsicherung. Ich will garantieren, dass die Menschen sicher sind, dass wer nach Europa kommt kontrolliert ist. Das zweite: Wir brauchen an der Außengrenze eine schnelle Prüfung, wer ist Flüchtling. Und das dritte: Wir brauchen dann in Europa endlich Solidarität in der Aufnahme. Europa muss weiter offen sein, muss weiter hilfsbereit sein, aber der Staat muss es kontrollieren.
"Der Staat hat das Recht, auch Tränengas einzusetzen"
Büüsker: Genau diese Prüfung an den Außengrenzen, die Sie gerade gefordert haben, die hat Griechenland jetzt aber für den kommenden Monat ausgesetzt. Es werden keine Asylverfahren durchgeführt. Ich möchte gerne noch mal mit Ihnen an dieser Stelle festhalten: Im Moment sehen Sie Tränengas gehen Individuen an der europäischen Außengrenze für vollkommen gerechtfertigt?
Weber: Wenn der Staat an der Außengrenze dafür sorgt, dass die Grenzen gesichert werden und dass das Recht durchgesetzt wird, dann muss er auch in der Lage sein, wie übrigens auch bei Demonstrationen in Deutschland, in Frankreich, wenn Gewalttätige gegen Polizisten vorgehen, hat der Staat das Recht, auch Tränengas einzusetzen. Das machen wir Deutsche auch, wenn Gewalt auf der Straße herrscht. Wenn Sie sich die Bilder noch mal genau anschauen, werden Sie erleben, dass dort viele von den sogenannten Flüchtlingen – ich weiß ja gar nicht, von wem wir dort reden; wir kennen die Menschen ja nicht -, von den Menschen, die dort sind, auch mit Steinen gegen Polizisten vorgehen, auch mit Gewalt gegen Polizisten vorgehen, und dann muss der Staat das Recht haben, Recht durchzusetzen.
Noch mal: Keiner will das. Keiner will das. Und die Griechen sind die Letzten, die dafür verantwortlich sind. Aber man muss klarstellen, dass an der Außengrenze Recht und Ordnung umgesetzt wird. Und ich wiederhole noch mal, Frau Büüsker, weil ich da nicht in eine Ecke gestellt werden will: Wir wollen helfen! Wir haben sechs Milliarden Euro der Türkei bereits überwiesen. Ich bin bereit, auch mit dem EU-Budget, wenn wir im Parlament übers Budget reden, noch mal neue Mittel für Syrien, für Libanon, für Jordanien und auch für die Türkei bereitzustellen. Wir wollen helfen und ich gehe sogar so weit, dass ich auch Menschen aufnehmen will, kontingentiert. Aber ich bitte Sie zu sehen: Wir dürfen nicht zulassen, dass unkontrolliert und durch Erdogan politisch motiviert Menschen nach Europa kommen. Das ist die Substanz der Frage, die jetzt auf dem Tisch liegt, und deswegen ist jetzt entschiedenes Handeln auch richtig.
"Schnell mit Erdogan ins Gespräch kommen"
Büüsker: Was soll aus Ihrer Sicht dann jetzt aus den über 10.000 Menschen dort im Grenzgebiet werden? Wie können wir denen helfen als Europäische Union?
Weber: Die Europäische Union muss jetzt schnell mit dem türkischen Staatspräsidenten Erdogan wieder ins Gespräch kommen. Sie wissen, dass der bulgarische Premierminister, der ja auch indirekt betroffen ist, weil es eine direkte Grenze gibt, die Tage bereits mit Erdogan sich treffen wird und zusammentreffen wird. Es ist auch ein Gipfel geplant der drei Staaten in der Region. Und wir auf europäischer Ebene sind in Gesprächen mit Erdogan, um zu klären, was er denn konkret auch von uns erwartet, um solidarisch zu sein, um zu helfen. Dann muss Erdogan – es ist türkisches Staatsgebiet – sich auch um diese Menschen kümmern und wir wollen das finanziell und auch mit anderen Maßnahmen unterstützen.
Büüsker: Was Erdogan will, hat er ja eigentlich im Vorfeld schon ziemlich klargemacht. Er möchte, dass die Gelder aus der Europäischen Union fließen und dass diese nicht nur an Hilfsorganisationen fließen, sondern auch direkt in seinen Haushalt. Können Sie sich das vorstellen?
Weber: Nach dem heutigen Stand kann ich mir das nicht vorstellen. Wir wollten mit dem Prinzip, dass die Gelder an die Hilfsorganisationen fließen, für die Bürger Europas, für die Steuerzahler in Europa sicherstellen, dass die Gelder wirklich zielgerichtet bei den Flüchtlingen ankommen. Das ist die Idee dahinter und die ist nach wie vor richtig. Der Bedarf ist nach wie vor auch da in der Türkei und deswegen sollten wir am Prinzip festhalten, dass die EU-Gelder direkt an die Hilfsorganisationen fließen. Wir finanzieren in der Türkei die gesamte Schulausbildung der syrischen Flüchtlinge. In den Camps finanzieren wir faktisch das Leben, weil wir über sogenannte Credit Cards den Flüchtlingen Gelder geben, mit denen sie dann Einkäufe tätigen können. Die Europäische Union ist solidarisch in der Region präsent und das sollten wir auch weiterführen.
Entwicklungen in Syrien machen sehr viel Sorge
Büüsker: Und wie wollen Sie Erdogan davon überzeugen?
Weber: Mit Gesprächen. Er muss zunächst mal wissen, dass sich Europa nicht erpressen lässt. Das muss er zunächst wissen. Im zweiten Schritt hoffe ich und das hoffe ich, dass das auch schnell geht, dass wir dann in ein konstruktives Gespräch kommen. Die große Frage, Frau Büüsker, ist natürlich, wie geht es in Syrien weiter, weil die Entwicklungen, die wir dort haben, uns alle sehr viel Sorge machen. Es fliehen wieder Hunderttausende, Millionen, die wieder neu ihre Heimat verlassen müssen, und deswegen ist jenseits der konkreten Situation an der griechisch-türkischen Grenze aus meiner Sicht jetzt auch ein neuer diplomatischer Anlauf in Sachen Syrien notwendig. Europa ist Zuschauer in Sachen Syrien, obwohl es so viele Probleme für uns und für viele Menschen verursacht. Deswegen brauchen wir als Europäer jetzt einen neuen Anlauf, um in Syrien diplomatisch aktiv zu werden.
Büüsker: Europa müsste hier ja nicht unbedingt Zuschauer sein. Wie stellen Sie sich das europäische Engagement mit Blick auf Syrien vor?
Weber: Syrien ist ein sehr schwieriges Themenfeld, wo wir zu viele Player haben, zu viele Entwicklungen haben. Das Entscheidende ist: Kann es gelingen, wie das auch Annegret Kramp-Karrenbauer vor Monaten vorgeschlagen hat, im Norden Syriens eine Zone unter internationalem Kommando mit einem UN-Mandat einzurichten, um dort den Menschen wirklich einen sicheren Hafen anzubieten, Sicherheit, Stabilität anzubieten. Das wäre für die verworrene Situation, die wir jetzt in Syrien haben, sicher das Beste. Dafür ist aber ein UN-Sicherheitsratsmandat notwendig, was sicher sehr kompliziert ist, aber das wäre sicher eine Zielrichtung, der wir nachgehen sollten.
Büüsker: Und dafür wären auch sicherlich Gespräche mit Russland notwendig, um das durchzusetzen. Sehen Sie hier denn bei Putin eine Bereitschaft für eine solche Zone?
Weber: Die Lage ist verworren und ich glaube, dass im Moment keiner ein Interesse hat an Eskalation.
Büüsker: Sicher?
Weber: Ja, doch. Deswegen gibt es schon ein Momentum zu sagen, lasst uns miteinander ins Gespräch kommen. Die Einschätzung gegenüber Russland muss klar sein, dass wenn Russland nicht bereit ist, sich an den Verhandlungstisch zu setzen, muss auch Europa über stärkere Maßnahmen nachdenken, über mehr Druck nachdenken.
Büüsker: Mehr Sanktionen?
Weber: Ich würde nichts ausschließen. Wir sind in einer komplexen Situation, wo Russland über Syrien Einfluss auf die europäische Migrationspolitik nimmt, und deswegen muss man mit allen, die versuchen, Europa und auch die Nachbarschaft von Europa, die Türkei zu destabilisieren, muss man mit allen sehr kritisch reden, und die Hauptmacht, die wir haben als Europäer, sind nun mal die Wirtschaftsmacht, die wir einbringen können. Deswegen muss alles auf den Tisch, aber die zentrale Forderung ist, wir brauchen eine diplomatische Initiative in Sachen Syrien. Wir müssen wieder einen Anlauf unternehmen, einen Versuch unternehmen, gemeinsam dafür zu sorgen, die Sache zumindest zu stabilisieren, zumindest einen Waffenstillstand zu erreichen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.