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Europäische Rabbiner-Konferenz
"Es wird immer schwieriger, Jude in Europa zu sein"

Antisemitismus grassiere überall, sagte der Moskauer Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt im Dlf. Für Juden sei es allerdings in Moskau sicherer, mit Kippa auf die Straße zu gehen, als in Berlin oder Brüssel. Die meisten Attacken auf Synagogen ereigneten sich in Westeuropa.

Pinchas Goldschmidt im Gespräch mit Stefan Heinlein | 13.05.2019
Der Vorsitzende der Europäischen Rabbinerkonferenz, Pinchas Goldschmidt
Der Moskauer Oberrabbiner und Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner, Pinchas Goldschmidt, sieht ein Sicherheitsproblem für Juden in Europa (imago stock&people)
Stefan Heinlein: Noch sind es nur Einzelfälle, doch viele Juden in Europa sind tief besorgt über die wachsende Zahl von Angriffen auf Synagogen, Schmierereien auf jüdischen Friedhöfen oder Gewalt gegen kippatragende Juden in Paris, Brüssel oder Berlin. Das Thema Antisemitismus in Europa steht deshalb mit auf der Tagesordnung ab heute in Antwerpen. Dort treffen sich mehr als 500 Rabbiner, religiöse Führer und Politiker zur Generalversammlung der Europäischen Rabbiner-Konferenz. "Tora und Tradition angesichts der aktuellen Herausforderungen" ist die offizielle Überschrift der Versammlung. Geleitet wird sie vom Oberrabbiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, seit 2011 Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner. Guten Morgen!
Pinchas Goldschmidt: Guten Morgen!
Heinlein: Herr Oberrabbiner, ich habe den Arbeitstitel Ihrer Konferenz genannt. Was sind die aktuellen Herausforderungen für Juden in Europa?
Goldschmidt: Es wird immer schwieriger, Jude in Europa zu sein. Es wird schwerer von verschiedenen Seiten. Auf der einen Seite haben wir ein großes Sicherheitsproblem. Die Zahl der Juden in Europa ist in den letzten Jahren runtergegangen. Wir sind von zwei Millionen zu 1,6 Millionen runter wegen der Emigration von Europa. Und wir haben auch mehr und mehr Probleme mit europäischen Ländern, die versuchen, die jüdische Tradition, die jüdische Religion zu begrenzen.
"Der Antisemitismus grassiert überall"
Heinlein: Es gibt ein großes Sicherheitsproblem, sagen Sie, Herr Goldschmidt. Wie groß sind denn die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern in Europa? Sie sind der Oberrabbiner von Moskau. Gibt es dort etwa weniger Antisemitismus als in Berlin, Brüssel oder Paris?
Goldschmidt: Der Antisemitismus grassiert überall. Wenn wir jetzt auf die Zahlen und die Statistik der letzten Jahren sehen, sehen wir, dass die meisten Überfälle und Attacken gegen Synagogen und jüdische Institutionen in Westeuropa stattgefunden haben, speziell in Frankreich wie auch in Belgien und in Dänemark. Und wir sehen, wie verschiedene Regionen in Westeuropa sich für die jüdische Gemeinde engagieren. Wir wissen, dass zum Beispiel in England wie auch in Deutschland und Frankreich die Regierung und die Landesregierungen sehr behilflich den jüdischen Gemeinden sind, um die Sicherheit der jüdischen Institutionen zu erhöhen. Aber das hat nichts mit der privaten Sicherheit von jüdischen Bürgern zu tun. Die Frage ist: Ich saß gestern Abend bei einem Abendessen von der marokkanischen muslimischen Gemeinde hier in Brüssel und neben mir saß die Budget-Ministerin Belgiens, und die fragte mich: Kann man sicher mit einer Kippa in der Straße gehen in Moskau? Da habe ich ihr gesagt, das ist sicherer als in Brüssel oder in Paris. Das ist auch ein Problem: Man kann keinen Polizist neben ein jüdisches Kind in Berlin oder Frankfurt stehen lassen.
Heinlein: Warum ist ein Jude, ein erkennbarer Jude in Moskau sicherer, wie Sie sagen, als in Berlin, Paris oder Brüssel?
Goldschmidt: Ich glaube, dass der Straßenantisemitismus, wie das in Russland genannt wird, viel weniger geduldet wird. Und ich glaube, es hat auch mit der Emigration oder Immigration, mit Europa zu tun. Jetzt reden wir ja vom Antisemitismus, den wir heute in Europa kennen. Der kommt von verschiedenen Seiten. Auf der einen Seite kommt der Antisemitismus von den religiös-islamistischen Radikalen wie ISIS. Auf der anderen Seite kommt der Antisemitismus von den Rechtsradikalen, von den Neonazis, und wir wissen, dass in Deutschland in verschiedenen Städten in den letzten paar Wochen es Demonstrationen gegeben hat, wo wieder Hunderte von Braunhemden mit dem Hitler-Gruß in den Städten Deutschlands marschiert sind.
Die Attacken gegen die Synagogen in Westeuropa kamen meistens von den Islamisten, von den radikalen Islamisten. Aber in Osteuropa, zum Beispiel die Attacken, die wir letztens in Moskau gesehen haben gegen die Synagogen, kamen ausschließlich von Rechtsextremisten.
Wenn wir uns jetzt global die Sache ansehen, sehen wir die Attacken gegen Synagogen in den Vereinigten Staaten, in Pittsburgh oder vor drei Wochen wieder in Kalifornien, in San Diego. Das waren auch Rechtsradikale.
Rote Linie zwischen Antisemitismus und Israel-Kritik?
Heinlein: Herr Oberrabbiner, wenn wir nicht von Terror sprechen, sind Angriffe auf Juden, Hakenkreuz-Schmierereien in Deutschland, Belgien oder Frankreich, ist das tatsächlich Ausdruck von Antisemitismus? Oder ist das auch eine Kritik, ein Signal, das sich gegen die Politik Israels im Nahen Osten richtet, gerade wenn junge Muslime daran beteiligt sind?
Goldschmidt: Das ist eine sehr gute Frage. Wo ist die rote Linie oder die Grenze zwischen Kritik, die man gegen den israelischen Staat oder die Regierung ausüben kann. Und wir Juden sind auch nicht nur manchmal, sondern oft sehr kritisch gegen die Regierung Israels. Da haben wir uns auch geäußert. Aber die Frage ist, wo ist diese rote Linie zwischen dem, sagen wir, Antisemitismus und einer gerechtfertigten Kritik an einer Regierung. – Ich glaube, wenn man sagt, dass Israel weniger Recht hat, sich zu verteidigen, oder wenn wir jetzt das letzte Gefecht zwischen Israel und Gaza nehmen, wo über 600 Raketen innerhalb 48 Stunden einfach Israel angegriffen haben und es mehr als vier Tote und viele Verletzte gab, dass man sagt, Israel hat weniger Recht, sich zu verteidigen, dann fragen wir, was würde Russland, was würde Deutschland, was würden die Vereinigten Staaten oder Frankreich in solch einer Situation tun. Dass man sagt, Israel hat kein Recht, sich zu beschützen, oder weniger Recht, sich zu beschützen, oder die Juden haben weniger Recht auf einen jüdischen Staat, oder die Israelis haben weniger Recht auf einen Staat als Deutsche, Franzosen oder Schweizer – hier fängt der Antisemitismus an.
Heinlein: Aber kann, Herr Oberrabbiner Goldschmidt, ein deutscher Politiker sagen, ich bin nicht einverstanden mit der Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu, ohne dass er befürchten muss, in die rechte, in die antisemitische Ecke gestellt zu werden?
Goldschmidt: Ich glaube, 40 oder 30 Prozent der Israelis sind auch nicht mit der Siedlungspolitik von Netanjahus Regierung einverstanden. Man wird nicht antisemitisch. Das gilt auch in den Vereinigten Staaten. Das ist ein Dialog zwischen Rechten und den Linken, auch wie in Israel.
Was ich sagen möchte ist, in Israel der Dialog zwischen den Rechten und den Linken über die Siedlungspolitik ist nicht die Frage, ob Judäa und Samaria ein Teil des historischen Israels sind. Die Frage ist eine ganz andere Frage. Es gibt dort zwei Millionen Araber, die dort wohnen, und sie haben auch ein Recht zu leben und zu existieren.
"Wichtigster Feind der Rechtsradikalen sind die Muslime"
Heinlein: Herr Oberrabbiner Goldschmidt, ich wollte noch auf ein Thema zu sprechen kommen, das Sie auch angesprochen haben: Das Thema Rechtsradikalismus. Ist ein kippatragender Jude in Dresden, in Warschau stärker gefährdet als eine kopftuchtragende Frau? Oder sind das zwei Seiten einer Medaille von Fremdenfeindlichkeit, der Abscheu vor Minderheiten und von religiösen Minderheiten?
Goldschmidt: Ich muss schon sagen, der wichtigste Feind der Rechtsradikalen sind heute nicht die Juden, sondern sind die Muslime. Wir glauben, dass all die Gesetze oder die Gesetzentwürfe meistens in Nordeuropa wie in Island und auch in Skandinavien gegen die Beschneidung oder gegen die halal oder koscher Fleisch gegen die islamischen Glaubensgemeinden gerichtet sind. Wir als Juden sind kollaterale Beschädigung.
Heinlein: Vor diesem Hintergrund, was Sie genannt haben, das Verbot von religiösen Schlachtungen, das sogenannte Schächten, die Beschneidung von Jungen, sind das Themen, die Gemeinsamkeiten hervorbringen zwischen Muslimen und Juden, beides religiöse Minderheiten, die mit Vorurteilen der meist christlichen Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sind?
Goldschmidt: Wir haben vieles gemeinsam mit der muslimischen Glaubensgemeinde in Europa. Wir arbeiten zusammen. Wir haben vor drei Jahren unter Mitarbeit des Interreligiösen Instituts in Wien die MJLC - das ist die Muslim Jewish Leadership Council; das ist ein Rat von Imamen und Rabbinern – hervorgerufen, um sich zusammen gegen diese neue Attacke gegen die Religionsfreiheit zu verteidigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.