Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Europäisches Handgepäck (4/7)
Mohntorte und Fabeltier

Der Turul ist ein mythologischer Vogel, der Ur-Magyaren aus den Tiefen Innerasiens in die Mitte Europas geführt haben soll. Er ist, so deklamiert es der ungarische Regierungschef Viktor Orbán, "das Symbol der nationalen Identität der jetzt lebenden, der schon gestorbenen und der erst noch auf die Welt kommenden Ungarn".

Von Mathias Greffrath | 13.05.2018
    Eine Skulptur des Turul-Vogels als ungarischer Nationalvogel
    Turul-Vogel als ungarischer Nationalvogel (imago / Volker Preußer)
    Schon im Taxi vom Flughafen in die Innenstadt von Budapest wird Autor Mathias Greffrath mulmig zu Mute: Er trifft auf ein Ungarn, in dem Migranten verfemt werden und Verschwörungstheorien allgegenwärtig sind. Kurz vor der Wahl können selbst Enthüllungen zu Korruptionsfällen im Umfeld von Präsident Victor Orban die Bevölkerung nicht aufregen. In vielen Fällen erfährt sie von Vetternwirtschaft und persönlicher Bereicherung nichts, denn die großen Medien sind in der Hand von Regierungstreuen. Ähnlich selektiv stellt sich dem Autor die Erinnerungskultur im Land dar: Die eigene Verantwortung an der Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg wird verschwiegen und Ungarn zum Opfer stilisiert. Der Autor erfährt: Nach vielen Diktaturen und Systemwechseln hat sich Ungarn auf die Opferrolle kapriziert. Die eigene Geschichte ist bis heute nicht aufgearbeitet. Das Schweigen darüber weiß der alte neu Präsidenten gekonnt einzusetzen.
    Es begann wie in einem Film, und eigentlich hätte ich gleich wieder zum Flughafen zurückfahren können. Der Taxifahrer, Ende Vierzig, glänzend schwarzgelockt und extrem gestikulationsfreudig, hatte mir schon alles Wesentliche gesagt, ach was, vorgeführt, in der halben Stunde vom Flughafen bis zum Zentrum von Buda. "Wo kommen Sie her? Berlin?" Er drehte sich um: "Was halten Sie von den Flüchtlingen?" Und als ich sagte, wir können sie doch nicht alle umbringen an der Grenze, kicherte er. Er hatte verstanden: Wir können doch nicht alle umbringen.
    Und dann ging es los. Merkel sollte den Ungarn dankbar sein; sie hat zwei Millionen reingelassen, wir haben jetzt die Grenzen dichtgemacht. Nein, Orbán ist kein Rechtsradikaler; er rettet die Ungarische Kultur. Woraus die bestehe? Na ja, er schob die Sonnenbrille in die Stirn und drehte das Fenster runter, na ja, unsere Musik zum Beispiel; Franz Liszt und Bartok, vor allem aber unsere Sprachen. Ja, ungarisch sei eine merkwürdige Sprache, die könne sich kein Ausländer merken. Aber es ist, die Sonnenbrille war wieder runtergerutscht und er checkte etwas auf seinem Smartphone, die älteste Sprache der Welt. "Seit der Steinzeit, sagen die Wissenschaftler. Eine Art Ur-Sprache." Die hätten inzwischen auch rausgefunden, dass diese Sache der Verwandtschaft des Ungarischen mit dem Finnischen nicht stimmt, das hätten sich Leute im 19. Jahrhundert ausgedacht, um sie, die Ungarn aus dem Kreis der arischen Völker auszuschließen. Fake News sozusagen - er schob die Sonnenbrille wieder hoch, öffnete das Fenster und hielt seinen Arm raus: da hinten links, auf der Donau-Insel, ist die größte chinesische Ansiedelung in Europa, das zeigt doch ganz klar, dass wir keine Rassisten sind, und Roosevelt, er scrollte sich immer weiter, von Roosevelt stammte die Erkenntnis, dass die Ungarn schon die Demokratie verteidigt hätten, als Europa noch in den Windeln lag. Da oben übrigens, der Vogel auf der Freiheitsbrücke, er lachte, früher Franz-Josefs-Brücke, das sei der Turul. "Unser Ur-Vogel, halb ungarisch, halb türkisch, oder hunnisch, halb Adler und halb Falke, der hat unsere ersten Könige gezeugt." Wieder kicherte er.
    Blick auf Budapest: Das Parlamentsgebäude Orszaghaz , die Donau sowie die Szechenyi Lanchid (Kettenbruecke)
    Blick auf Budapest (imago / Florian Gärtner)
    Wir hatten die Innenstadt erreicht, die ersten Rossmanns und Aldifilialen tauchten auf, und auch die ersten großen Wahlplakate. Auf einem war der Milliardär George Soros, umgeben von seinen Lakaien, den Führern der ungarischen Oppositionsparteien. "Lassen Sie uns an die Arbeit gehen" übersetzte der Fahrer Soros' Sprechblase, und kicherte. Und dann rechtfertigte er Orbán, der sei kein Faschist, und Soros habe schließlich die Börsen der Welt ruiniert, und jetzt schicke er die Flüchtlinge nach Europa, 2000 Agenten habe der Milliardär im Land. Nein, er sei kein Rassist, aber was sollte man denn mit den Afrikanern anfangen, vielleicht wollten einige arbeiten, aber sie könnten das doch gar nicht, höchstens als Hirten oder Hilfsarbeiter, man sollte ihnen doch da helfen, wo sie herkommen, er kicherte wieder, die brauchen doch nicht viel, ein paar Körner, dann wären sie schon zufrieden. Aber wie Orbán gesagt hätte, wir hätten nur die Wahl: Sozialstaat oder Migranten. Er bremste heftig, wechselte die Spur, hupte und hielt an. Wir waren angekommen, ich hatte alles Wesentliche über den Stand der ungarischen Volksseele im achten Jahr der Epoche Orbán mitbekommen. Ich hätte eigentlich gleich wieder umkehren können.
    Und das ist leider nicht einmal ironisch gemeint, denn in der Woche vor und nach der Wahl wurde es mir von Tag zu Tag unheimlicher.
    Wie eine Operette im 19. Jahrhundert
    Kundgebung in Székesfehérvár
    Kundgebung in Székesfehérvár (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Am Tag nach meiner Ankunft fuhr ich mit dem EC zur Abschlusskundgebung von Viktor Orbáns Wahlkampf, achtzig Kilometer nach Südwesten. Über dem Marktplatz von Székesfehérvár kreiste die Drohne von Echo-TV, das Wahlvolk schwenkte die von jungen Männern mit Sonnenbrille verteilten Fahnen, die Ordner hatten die Demonstranten mit den gelben Jacken schon eine Stunde zuvor abgedrängt, auf dem Podest, vor der haushohen Nationalfahne ein Flügel. Ein Bariton sang ein traurig-patriotisches Lied zur Einstimmung und reckte gegen Ende die Hände gen Himmel. Es sah aus wie eine Operettenaufführung im neunzehnten Jahrhundert.
    Der ungarische Premierminister Viktor Orban hält seine Rede während der letzten Wahlkampfveranstaltung seiner Fidesz-Partei in Szekesfehervar am 6. April 2018.
    Mit Bedacht hat Viktor Orbán Székesfehérvár zum symbolträchtigen Abschluss seiner Wiederwahl-Kampagne ausgesucht (AFP / Ferenc Isza)
    Auftritt Orbán. Ich hatte einen feurigen Demagogen erwartet, aber der Mann im dunklen Anzug las seine Rede ab wie die Bilanz eines mittelgroßen Familienbetriebs. Verbeugte sich nach jedem Absatz vor dem "lieben Volk von Székesfehérvár", aber seine Rede ist ungeheuerlich:
    Ihr habt, liebes Volk von Székesfehérvár, die Wahl: Euer Ungarn oder das von Soros. "Sie wollen", so ging es weiter, ganz ruhig, ganz sachlich, ohne rhetorische Höhepunkte, "sie wollen uns unser Land rauben. Oppositionsparteien im Dienste fremder Interessen wollen an die Macht kommen. Sie wollen fremden Söldnern die Macht geben, unseren Grenzzaun zu demolieren, die Brüsseler Zwangsquote von Einwanderern zu akzeptieren, Ungarn in ein Land aus Einwanderern zu verwandeln, und so den Finanz- und der Machtinteressen ihrer Auftraggeber zu dienen. Sagt es allen, liebes Volk von Székesfehérvar, dass sie noch in diesem Jahr die ersten zehntausend Migranten in Ungarn ansiedeln wollen. Sagt allen, dass sie einen Vertrag gemacht haben mit allen, von der Demokratischen Front bis hin zu Jobbik. Sagt allen, dass Einwanderung der Pesthauch ist, der langsam aber sicher unser Heimatland zersetzen wird. Sagt allen, dass man uns zwingen will, Migranten zu unterstützen. Wenn sie angesiedelt werden, wird das Wachstum vergeblich sein, wird nichts übrig bleiben, womit wir Familien unterstützen und Renten zahlen können. Sagt allen, dass Massenmigration die Sicherheit des Daseins gefährdet, an die wir gewöhnt sind. Mit Massenmigration wächst die Drohung des Terrors. Es ist so klar wie der helle Tag: wo Massenmigration herrscht, sind Frauen nicht mehr sicher vor gewalttätigen Angriffen."
    Vielleicht war ich ja naiv, aber ich habe so etwas nicht für möglich gehalten.
    Eine Schicksalswahl
    Am Abend treffe ich mich mit Marton Gergely, einem Journalisten der Wochenzeitung HVG. An der Endhaltestelle der U-Bahn in Buda kontrollieren Polizisten Menschen die Papiere von Menschen mit dunkler Haut. "Es wird eine Schicksalswahl", sagt Gergely, "und das ist keine Übertreibung." Er hat das "System Orbán" zu spüren bekommen, vor zwei Jahren. Da wurde von einem Tag zum anderen Népszabadság geschlossen, die einzige seriöse überregionale Zeitung, die in Opposition zur Regierung stand, die Journalisten entlassen, das Archiv geschlossen. Der Eigentümer, ein wegen anderer, dunkler Geschäfte vorbestrafter Wiener Investmentmanager, erhielt im Gegenzug von der Regierung die Lizenz für eine Handvoll ungarischer Provinzzeitungen - was vorher rechtlich nicht möglich war.
    Fast alle Regionalzeitungen und Fernsehstationen sind regierungstreu oder gehören Parteigängern von Viktor Orbán. Nur auf den Internetplattformen wird unzensiert kritisch berichtet: über die Bereicherungsorgien der regierenden Partei Fidesz, über die Verteilung von Staatseigentum, die Staatsaufträge ohne Ausschreibung, die versickerten EU-Fonds. Aber die Rentner und die Arbeitslosen, die Armen, die ihre Stromrechnungen nicht bezahlen können, die Gruppen, denen die Regierung groß publizierte Wahlgeschenke macht, gehen nicht ins Internet. Enthüllungen bleiben folgenlos.
    Aber das System Orbán, das ist mehr als die faktische Liquidierung der Pressefreiheit. Mit Verfassungsmehrheit hat Orbán nach 2010 den Staat umgebaut. Beamte werden gekündigt, Richter zwangspensioniert, die öffentlich-rechtlichen Medien zu Propagandainstrumenten umgebaut, Spitzenämter mit Mandaten ausgestattet, die weit über Wahlperioden hinausreichen.
    Eine neue Universität bildet ideologisch gestärkte Staatsdiener aus. Eine neu gegründete Akademie der Künste verteilt Gehälter und Stipendien an Künstler, die genehm sind, die politischen Stiftungen der Zentralbank, der Fonds für Bürgerinitiativen fest in der Hand von Günstlingen. Mit den Profiten von Staatsaufträgen kaufen die Familien von Politikern Weingüter, Adelsschlösser, Ländereien auf, das ist die kleptokratische Zuspitzung. Es sei praktizierte Mittelstandspolitik, lautet die zynische Antwort auf Kritik.
    Kurz vor der Wahl wird es noch einmal eng für Orbán. Die Firma seines Schwiegersohns, die im ganzen Land Straßenbeleuchtungen installiert hat, soll 40 Millionen EU-Gelder zurückzahlen, wegen Unregelmäßigkeiten. Das meldet die Zeitung von Orbáns ehemaligem Weggefährten und jetzigen Kritikers, Simicska.
    Das Schlimmste ist: es regt niemanden mehr auf. "Es wird eine Schicksalswahl" hatte Merton Gergely gesagt, "und das ist keine Übertreibung. Ich befürchte, dass das System Orbán, wenn es weiterhin siegreich ist, auch andere anstecken wird." Auswandern will er nicht, aber wenn es hart auf hart kommt, wenn auch seine neue Zeitung in die Mangel gerät...
    Am nächsten Tag gehe ich auf den Geschichtsparcours. Auf einer Brücke aus Bronze steht ein trauriger Mann aus Bronze, in Mantel und Hut: Imre Nagy, der Kommunist, der die Fesseln des Stalinismus lockerte, sich auf die Seiten der Aufständischen von 1956 schlug und in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wurde. Er blickt auf das neugotische Parlament der Doppelmonarchie, in dessen Kuppelhalle nun wieder die mythische Stephanskrone liegt.
    Imre Nagy-Denkmal in Budapest
    Imre Nagy (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Wer die besaß, so die Überlieferung, der durfte über Ungarn herrschen. 1945 trat die Krone eine lange Reise an, die Nazis brachten sie nach Österreich, von dort kam sie nach Fort Knox und zur 1000-Jahrfeier hat Viktor Orbán sie aus dem Museum ins demokratische Parlament bringen und die Verfassung umschreiben lassen. Nun wird Ungarn auf Gott, die Stephanskrone und das Vaterland, auf Christentum, Familie, Treue, Glaube, Liebe und Nationalstolz gegründet.
    Und in öffentlicher Rede verbindet der Ministerpräsident die Volksseele mit ihren völkischen Ursprüngen, mit der Reinrassigkeit der Urmagyaren, die aus dem inneren Asiens kamen, und mit dem Vogel auf den Pfeilern der Freiheitsbrücke, die Buda und Pest verbindet:
    "Der Turul ist ein Urbild, das Urbild der Ungarn. Wir werden in ihn hineingeboren, so wie wir in unsere Sprache und Geschichte hineingeboren werden. Das Urbild gehört zum Blut und zum Heimatboden. (…) Der Turul ist das Symbol der nationalen Identität der jetzt lebenden, der schon gestorbenen und der erst noch auf die Welt kommenden Ungarn."
    Freiheitsdenkmal in Budapest
    Freiheitsdenkmal in Budapest (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Eine Ecke weiter, flankiert von US-Botschaft und Nationalbank, in Marmor, Kitsch und Bronze das Freiheitsdenkmal, das Orbán in einer Nacht- und Nebelaktion auf den Platz stellen ließ. Offiziell heißt es "Denkmal für die Opfer der deutschen Besatzung": der schöne und unschuldige Erzengel Gabriel, wird unter Fragmenten griechischer Säulen vom hässlichen deutschen Adler attackiert - eine Geschichtsklitterung, sie verdeckt die Waffenbrüderschaft der ersten Kriegsjahre, die Mitwirkung des antisemitischen Horthy-Regimes am Holocaust. Und sie bleibt nicht ohne Antwort: Vor dem Denkmal nicht nur Blumen und Kinderschuhe und Steine, sondern Dutzende von beschrifteten Fotos, Dokumente in Klarsichthüllen. "Mein Vater, der von ungarischen Wachmännern getötet wurde" - einer von 400 000 Juden, die aus der ungarischen Provinz deportiert wurden. Selbst Eichmann war damals verblüfft über die Bereitschaft zur Kooperation.
    Eine historische Geisterbahn
    Vorm Haus des Terrors in der Andrassy-Allee eine lange Warteschlange. Zwei Stelen im Eingang sind den Opfern des Nazi- und des Sowjet-Terrors gewidmet. Aber das Haus des Terrors ist kein Museum, es ist eine dramaturgisch geschickt aufgebaute, von dräuender Musik oder stilisierten Chorälen unterlegte historische Geisterbahn; auf vier Stockwerken geht vor allem um den sowjetischen Terror gegen das ungarische Volk, die Verhörzellen der Geheimpolizei, die Unterdrückung der Kirche. Die Beteiligung des Horthy-Regimes an den Deportationen, der Antisemitismus, der mit großungarischen Gebietsgewinnen verbundene Eintritt in den Krieg - all das tritt hinter den nachgebauten Verhörzellen, Folterkellern, Parteibüros, Kulissen von Schauprozessen zurück.
    Im Museumsshop der historischen Geisterbeschwörung gibt es Andenken zu kaufen, zur Erinnerung an die gruselige Zeit, kleine Büsten mit Docht, Stalin und Lenin aus Wachs, zum Abbrennen.
    Skurile Devotionalien im Museumsshop
    Skurile Devotionalien im Museumsshop (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    "Nehmen Sie das mit Soros nicht so ernst, es sind kontrollierte Provokationen. Bei uns ist die Rhetorik etwas rauher als bei Ihnen, aber das empört doch nur die Intellektuellen". Der junge Chef des Meinungsforschungsinstituts Nézözpont - er lebt von Regierungsaufträgen - Samuel Agoston Mraz, verharmlost das Spiel auf dem Klavier der antisemitischen Gefühle, das alle Nöte und Übel auf die Unterwanderung durch den Juden George Soros projiziert. Ein perfides Spiel; wenn man den zum diabolischen Übermenschen stilisiert, dann braucht man keinen Antisemitismus. Ja, lächelt Mraz, Macchiavelli hätte seine Freude an Orbán.
    Und dann erklärt er mir, wer wirklich unfrei ist: "Sicher, es gib auch noch freie Wahlen in Westeuropa, aber Ihre Eliten sind weit weg von den Menschen, es fühlen sich doch immer weniger Menschen von denen vertreten. Sie sind gewählt, aber oft nur weil das Volk keine Alternative hat. 2017 werde das Jahr der Rebellion, hatte Orbán gesagt, aber Le Pen war nicht gut genug, und die AfD auch nicht".
    Orbán sei ein Spieler. "Sie müssen das Dreieck sehen". Mal setzt er Soros ein, mal gibt er in der jüdischen Gemeinde den Freund Israels, mal preist er Horthy als Ausnahmestaatsmann und mal bedauert er dessen "trauriges Engagement" im zweiten Weltkrieg.
    Und die Medienpolitik? Orbán mache doch nur, was alle anderen auch machten. Hätten die Kommunisten nicht vor der ersten Wahl nach der Wende alle Regionalzeitungen an Bertelsmann verkauft, unter der Bedingung, dass die Chefredakteure bleiben? Haben die Westdeutschen nicht die ostdeutsche Presse plattgemacht? Wer dran ist, setze eben seine Meinung durch, Merkel fahre ja auch nicht Peugeot....und so weiter.
    Ich bin sprachlos gegenüber diesem völlig unkaschierten Bekenntnis zum "Winner-takes-it-all" -System. Hier nützt kein Diskutieren; hier habe ich es mit einem Realisten zu tun, der Wirtschaft, Politik, Öffentlichkeit, Kultur und Wahrheitsfindung zu einem Feld zusammendenkt, und auf dem wird um die Macht gespielt. Hier meint einer mit Demokratie etwas ganz anderes.
    "Er wird wahrmachen, was er gesagt hat"
    Was wird nach der Wahl sein? Er wird, sagt Agoston Mraz, das Gesetz gegen die Nichtregierungsorganisationen durchsetzen. Und er wird wahrmachen, was er gesagt hat, dass einige zahlen werden. Er hat Simicska gewarnt, er werde es nicht dulden, dass im Wahlkampf über Privatleben geredet wird.
    Sind damit auch die Geschäfte gemeint?
    Das haben Sie gesagt.
    Wissen Sie, sagt Agoston Mraz, als ich gehe, meine einzige Angst ist, dass unsere neuen Eliten hier nicht stark genug sind.
    Nicht stark genug?
    Ich meine die Qualität der Anführer, ich habe Verständnis für die Ziele, aber nicht immer für die Methoden. Ich finde, dass sie zu viele Stadien bauen.
    Das ist deutlich, denn jeder im Lande weiß vom Fußballstadion in Orbáns Heimatdorf Félscut, einem Prachtbau aus Holz, Stein und Kupfer, mit doppelt so viel Plätzen wie jemals benötigt werden.
    Kaffeehaus in Budapest
    Kaffeehaus in Budapest (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Wenn Menschen traurig sind, essen sie viel Kuchen, hat mir einmal ein Lobbyist der Zuckerindustrie gesagt. Wenn das stimmt, waren die Ungarn ungeheuer traurig in ihrer Geschichte. Oder kommen sie mir nur heute so gedrückt vor, einen Tag nach der Wahl? Im Müvész Kávéház in der Prachtstraße Andrássy bestelle ich mir die legendäre Mohntorte, schwarz mit einer roten Schicht aus Kirschen.
    An diesem Montag nach der Wahl beginnt die Arrondierung des Systems Orbán. Magyar Nemzet, die Tageszeitung seines Feindes Lajos Simicska, macht dicht, ebenso dessen Radiosender, und auch der kritische, englischsprachige Budapest Beacon gibt auf. Das regierungsnahe Wochenmagazin Figyelö von Maria Schmidt, der Milliardärin und Hofhistorikerin Orbáns, veröffentlicht eine Liste mit 200 Namen der Soros-Liste: Publizisten, Bürgerinitiativen, Wissenschaftler der Central European University. Weiße Schrift auf schwarzem Grund, in der Mitte: das Gesicht von George Soros.
    Und: Orbán kündigt einen Dialog mit den ungarischen Frauen an: denn bis 2030 soll nun Ungarns Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau auf 2,1 gesteigert werden. Das ist das Niveau, das erforderlich ist, damit die Bevölkerung ohne Einwanderung nicht weiter schrumpft, und es erinnert an Ceauscescus Bevölkerungsdiktatur. Denn nach wir vor verlassen jedes Jahr zigtausend Ungarn das Land, arbeiten etwa zehn Prozent der arbeitsfähigen schon im Westen.
    Wie ist Orbáns Ungarn möglich geworden?
    Willkommen im Totalitarismus, so begrüßt mich Judit Mészáros in ihrer Wohnung am Großen Ring in der Leopoldstadt, in der Klassizismus und Jugendstil ineinander changieren, dicht an der Margaretenbrücke. Mészáros - früher hießen wir Flejscher, sagt sie - ist die Vorsitzende der internationalen Férenczi-Gesellschaft. Sandor Férenczi, das war der phantasievollste Freud-Schüler, der geistige Vater der Budapester Schule der Psychoanalyse. "Das alte Europa", denke ich unwillkürlich in Judit Mészáros großer Wohnung. mit Büchern und Bildern und Pflanzen, kleinen Statuetten und, natürlich, der Couch.
    "Ich versuche, sehr vorsichtig zu sein bei der Anwendung von Psychologie auf Politik", sagt die Analytikerin, aber wenn man die Nation auf die Couch legen könnte, dann sei es schon ein Fall einer schweren narzisstischen Störung, mit der Tendenz, sich selbst, die eigene Geschichte zu idealisieren und die anderen zu entwerten. Ungarn, das sei eine traumatisierte Nation, die in 100 Jahren so viele Regimewechsel, so viel territoriale Veränderungen, so viele Varianten des Terrors erlebt hat. Die einzige Nation außer Deutschland, die das Ende des zweiten Weltkriegs als Niederlage erfahren hat. Narzisstisch auch im Beharren auf der eigenen Unschuld. "Die Verantwortung für Geschehenes, ja, sie ist ungleich verteilt", sagt Mészáros, "aber Unschuld ist etwas unmögliches..."
    Es gab keine "Aufarbeitung"
    In Ungarn hat es keine "Aufarbeitung" gegeben, der Übergang war gleitend, und die Vergangenheit wurde beschwiegen. Auch das war ein Gleitmittel für die allgegenwärtige Korruption. Das Wissen über das was war, wurde zur Münze der kleineren oder größeren Erpressungen und Geschäfte: ich sage nichts, wenn du mir was gibst, ich gebe Dir damit du nichts sagst. Und so wie in der Gesellschaft, so auch in den Familien.
    Die Verdrängungen seien enorm: es habe keine Diskussion über die Beteiligung am Holocaust gegeben. "Bis heute", sagte sie, "wird hier nicht über die Großväter gesprochen, die mitgemacht haben, auch nicht über die Väter, die in den Fünfziger Jahren für den Geheimdienst gearbeitet haben oder seine Opfer waren. Auch nicht auf der Couch. Über alles mögliche andere, aber nicht darüber".
    Orbán und seine Wähler, so scheint es, haben sich gefunden. Orbán, soviel kann man seiner Biographie entnehmen, sei mit Sicherheit traumatisiert, sein Vater, ein Parteifunktionär habe ihn schwer geprügelt und erniedrigt. "Er wurde das, was Férenczi ein verlogenes Kind nennt, das andere - und letztlich auch sich selbst - belügt, die Schuld immer bei den anderen sieht."
    Nun sei die Welt voll von solchen Menschen, sagt die Analytikerin, aber nicht alle würden politische Führer werden, dazu brauchen sie eine Massenbasis - und die habe Orbán hier in Ungarn. Eine Bevölkerung mit traumatischen Erfahrungen, verinnerlichten totalitären Figuren, eine Disposition, die zur Identifikation mit allmächtigen Figuren einerseits, mit äußeren Feindfiguren andererseits neigt. Auf der einen Seite der autoritäre Führer, Horthy, Hitler, Stalin, auf der anderen Seite die Juden, die Kommunisten, das ausländisch Kapital und, neuerdings, die EU.
    Wenn beides zusammenpasst, begründet das die Popularität eines politischen Führers. Diese Korrespondenz ist das Kapital, mit dem Orbán das Land in Besitz genommen hat.
    Und der Ausweg? Judit Mészáros lächelt: das, was immer der Ausweg ist. "Die Wahrheit. Über die eigenen Bedürfnisse und die der Anderen . Die Freiheit, sagen zu können was war, was geschehen ist, und nun nicht mehr ist, und deshalb in mir nicht mehr sein muss, mich nicht mehr verpflichtet: nicht zur falschen Loyalität und nicht zur binden Rebellion. Die Freiheit, eine Vergangenheit haben, und mit ihr zu leben. Mit der neuen Generation wird es kommen. Mein Sohn ist dreißig Jahre", sagt sie, "und gerade in London". Was er da macht? Er arbeite für die EU, verhandle gerade den Brexit.
    Gabor Ivanyi
    Gabor Ivanyi (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Wenn man die Innenstadt von Pest nach Osten verlässt, kommt man in den Achten Bezirk, Chicago genannt. Keine Restaurants, keine Cafés mehr, sondern Dönerläden, Obdachlose auf den Straßen, aufgerissene Straßenpflaster und abgerissene Fassaden, mit Schusslöchern, man weiß nicht, ob aus dem letzten Krieg oder vom Aufstand von 56, sagt meine Begleiterin, die Übersetzerin Agnes Relle. Sie bringt mich zu Pfarrer Gabor Ivanyi, einem Methodisten und Präsidenten einer Wohltätigkeitsorganisation mit 1000 Mitarbeitern im ganzen Land. Hier, im Achten Bezirk, betreibt er die "Beheizte Straße", eine zur Behelfsunterkunft für Obdachlose umgebaute ehemalige Garage, mit Doppelstockbetten, Matratzen auf der Erde, warmem Essen. Die Armut, die Obdachlosigkeit sei seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems chronisch. 40 Prozent der Menschen im Land lebten unter der offiziellen Armutsgrenze, viele könnten die Nebenkosten der Wohnung für Strom und Heizung nicht zahlen und fielen in die Obdachlosigkeit. Orbáns gemeinnützige Arbeit löse keine Probleme, die Bürgermeister benutzen sie zur Disziplinierung der Wähler. Seiner methodistischen Kirche wurde der Status der Religionsgemeinschaft aberkannt, damit entfallen die staatlichen Zuwendungen, sie sind auf Spenden angewiesen.
    Ivanyi war ein Dissident unter dem Kommunismus, jetzt klagt er gegen die Regierung, die mit ihrer Lizensierung von Religionsgemeinschaften kritische Gruppen aushungern will. Ivanyis Klagen vor europäischen Gerichten sind erfolgreich, aber die finanzielle Sabotage und Diskriminierung nimmt kein Ende. Die Regierung halte sich nicht an die Urteile. Ivanyi ist ein Kämpfer, er hat Soros für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Orbán würde er nicht einmal einen Kloschlüssel anvertrauen, sagt der friedliche Mann mit dem langen weißen Bart. Sie kannten sich vor langer Zeit, er hat zwei von Orbáns Kindern getauft, im Kommunismus. Dann, als er Ministerpräsident wurde, wurden sie katholisch.
    Die Partie ist noch nicht beendet
    Michael Ignatieff
    Michael Ignatieff (Deutschlandradio / Mathias Greffrath)
    Es ist noch nicht entschieden, ob die Central European University aufgeben und nach Wien ziehen muss. Die Regierung will der liberalen Institution, die von George Soros gegründet wurde und ein intellektueller hotspot Budapests ist, die Lizenz entziehen. Ihr Präsident, Michael Ignatieff, der kanadische Historiker und Romanautor, hält die Partie noch nicht für beendet. Aber nicht aus diplomatischer Zurückhaltung unternimmt es, zu verstehen, was hinter der Konservativen Revolution der Fidesz steckt, deren Ausdrucksformen ihn an die Dreißiger Jahre erinnern.
    In den Achtziger Jahren hat Ignatieff einen wunderschönen Essay geschrieben - Was braucht der Mensch? - darüber, dass wir noch keine Sprache und keine Gefühle für die Solidarität mit den Fernsten haben, mit den Fremden, die uns durch den Zwang der Ökonomie so nahe gerückt sind.
    Er hat diese Sprache bis heute noch nicht gefunden. Es sei eine Illusion, zu meinen, wir könnten in der internationalen Politik die Nation als Rahmen der Identität und der Solidarität überspringen. Die Nation sei nicht nur atavistisch. Immer noch ist es die Nation, die uns schützt, wenn unsere Rechte, unsere soziale Situation, unser Leben verletzt oder bedroht wird; die größte Gemeinschaft, in der die meisten Menschen ihre gesellschaftliche Identität gewinnen und sich historisch verorten.
    Aber wie, so frage ich ihn, gehen wir damit um, dass Nation im Osten so unterschiedlich erfahren, interpretiert, gefühlt wird? Wie können wir ein Europa werden, mit so unterschiedlichen Wertsystemen?
    "Ehrlich werden", sagt Ignatieff, "ehrlich vor allem uns selbst gegenüber".
    Wer die konservative Revolution kritisiert, der müsse doch zumindest anerkennen, dass die Furcht vor Wandel, von der sie getragen ist, nicht nur eine reaktionäre Verirrung ist. Dass wir, wenn auch auf unterschiedliche Weise, alle von demselben bedroht werden: vom Verlust an Gemeinschaft, an Nachbarschaft, dass die Familien bedroht sind und die gewohnten Lebensweisen.
    Wenn man sich darauf einigen kann, dann könnte man daran gehen, Lösungen auch für Europa zu finden, Regeln für eine geordnete Migration, von außen und innerhalb zum Beispiel, Zahlen und Prozeduren auszuhandeln. Dazu gehöre aber auch, zu sehen, dass unterschiedliche Länder unterschiedliche Rezepte brauchten. "Was für Deutschland richtig sein mag, muss für Ungarn nicht richtig sein. Es geht nicht mit abstraktem europäischen Schemata."
    Was werden künftige Historiker sagen, frage ich ihn.
    "Wer weiß", sagt Ignatieff - und der Gedanke ist nicht angenehm – "vielleicht würden künftige Historiker sagen: die Konservativen haben uns auf diese Probleme gestoßen, als es schon fast zu spät war".
    Eszter, in deren Wohnung ich für ein paar Tage gewohnt habe, Juristin, freut sich über den Sieg von Fidesz. Warum? Seit einigen Jahren gebe es mehr Kindergeld und großzügige Baukostenzuschüsse für junge Familien. Ja, da sei die Korruption, und das mit Soros sei vielleicht übertrieben, sagt Eszter. Als Christin könne sie das nicht gut finden, aber die Muslims beunruhigen sie, wegen der Kinder, und auch was man so hört aus den multikulturellen Vierteln Schwedens...
    Diesmal nehme ich kein Taxi zum Flughafen. Im Handgepäck die beiden Büsten zum Abbrennen, Lenin und Stalin aus dem Museum des Terrors und ja, wenigstens das Rezept für den Mohnkuchen mit dem roten Strich in der Mitte. Und die Erinnerung an traurige Menschen.
    Und ich? Bin auf eine ratlose Weise wütend. Da rutscht ein Land ab, da zerstört eine Clan Stück für Stück die Institutionen, und Politiker wie Mike Möhring aus Thüringen fahren mit eine Delegation der thüringischen CDU zur Schwesterpartei Fidesz und führen "tolle Gespräche", und unser Innenminister Seehofers gratuliert herzlich zu dem großartigen Sieg: "Nichts ist eine stärkere Bestätigung als der Erfolg an der Wahlurne", Merkel schweigt - und für unsere Zeitungen ist das alles nur interessant ein paar Wochen vor und ein paar Tage nach der Wahl.
    Ich bin schon wieder zu Hause, da kommt eine SMS von Eszter: "Ich vergaß, Dir zu sagen, dass in unserem Land seit Jahrhunderten die Situation des Zigeunervolks ungelöst ist, wir sollten als erstes diesen Teil unserer Gesellschaft bilden und ihnen helfen, denn sonst wird das schon bald ein großes Problem..." Ich will schon aufatmen; dann lese ich weiter: "...denn sie gebären so viele Kinder, und wenn das so weitergeht, braucht es nicht viel, und sie sind in der Mehrheit."
    Auf sechs Reisen sucht Mathias Greffrath nach dem, was die Europäer noch miteinander verbindet und macht eine fragmentarische Bestandsaufnahme. Gibt es ein gemeinsames kulturelles Erbe und nicht nur politisch ausbeutbare Identitäten? Wie steht es um die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die Europa geformt haben, und die wir - in verwandelter Form - in die Zukunft mitnehmen müssen? In diesem Fall als Handgepäck - unauffällige Gegenstände, die man einsteckt im Vorübergehen, als Merkzeichen, als Erinnerungen, als Fetische der Zukunft.