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Europäisches Kulturerbejahr
Sinti und Roma sehen sich als wahre Europäer

Großzügigkeit und Gastfreundschaft sind zentral in ihrer Kultur: Sinti und Roma leben seit 600 Jahren in Europa und kämpfen trotzdem immer noch um Anerkennung. Beim Gipfel zum Europäischen Kulturerbejahr 2018 in Berlin präsentiert ein neu gegründetes Institut die Kulturleistungen der Roma.

Von Christiane Habermalz | 20.06.2018
    Ein Werk des Künstlers Kálman Várady im Büro vom "Europäischen Roma-Institut für Kunst und Kultur"
    Ein Werk des Künstlers Kálman Várady im Büro vom "Europäischen Roma-Institut für Kunst und Kultur" (Deutschlandradio / Christiane Habermalz)
    Das auffälligste Kunstwerk im Büro von ERIAC, dem gerade erst neu gegründeten "Europäischen Roma-Institut für Kunst und Kultur", ist eine riesige silberne Hand. Sie streckt sich dem Besucher entgegen in Anspielung an die Geste, die viele Menschen in Europa mit den Sinti und Roma verbinden: die bettelnde Hand auf der Straße. Doch bei den Werken des Künstlers Kálman Várady muss man immer genau hinsehen, erklärt Anna Mirga-Kruszelnicka und zeigt auf die Handfläche, in der ein silbernes Herz liegt.
    "Das ist keine bettelnde Hand, das ist eine gebende Hand", erklärt die Kuratorin der Ausstellung, die gleichzeitig stellvertretende Direktorin von ERIAC ist. Das Herz in der Hand stehe für Wärme, Großzügigkeit und Gastfreundschaft, zentrale Eigenschaften der Roma-Kultur.
    "Und es steht für das kulturelle Erbe der Roma, das sie über Jahrhunderte an die Mehrheitsgesellschaft weitergegeben haben und das gerne genommen wurde - nur dass bis heute das Bewusstsein und die Anerkennung dafür fehlt, wie sehr wir mit unserem Talent, unserem Sinn für Schönheit, unseren Menschen auf vielen Ebenen in Europa zur Kulturgeschichte beigetragen haben."
    Auf viele Länder verstreute Familie
    Im Rahmen des einwöchigen Programmarathons zum Europäischen Kulturerbejahr 2018 in Berlin ist die Veranstaltung der Sinti und Roma eher ein Event am Rande. Nur etwas mehr als zehn Besucher haben den Weg in die ERIAC-Vertretung in der Reinhardtstraße im Berliner Regierungsviertel gefunden. Dabei sind die Sinti und Roma vielleicht mehr Europäer als alle anderen, und das schon seit Jahrhunderten. Wer könnte mehr zu den europäischen Idealen beitragen als die Sinti und Roma, die ihre Identität und Gemeinschaft seit Jahrhunderten über nationale Grenzen hinweg pflegen? Timea Junghaus:
    "Ich denke, dass wir in Sachen Anpassungsfähigkeit, Vielsprachigkeit, Mobilität - alles Eigenschaften, die in Europa heute gefragt sind - viel voraus haben. Wir wissen, wie es ist, wenn man von seiner Familie getrennt leben muss, wie das heute viele arbeitende Europäer tun müssen. Wir Roma haben uns immer als eine auf viele Länder verstreute Familie gesehen, es ist Teil unserer Identität."
    Timea Junghaus ist die Direktorin von ERIAC. Sie stammt aus Ungarn. Seit vielen Jahren setzt sie sich für die Anerkennung der Kulturleistungen der Roma in Europa ein. Mit der Initiative RomaMoma kämpft sie für ein eigenes Roma-Kunstmuseum in Budapest, 2007 kuratierte sie den ersten internationalen Roma-Pavillon auf der Biennale in Venedig. Es sei an der Zeit, dass die Roma ihr Kulturerbe selber repräsentieren, nachdem es über Jahrhunderte von den verschiedenen Ländern Europas negiert, verachtet, im besten Fall namenlos absorbiert wurde.
    Globalisierung bedroht ihre Identität
    "Erst seit den 60er-Jahren haben Roma-Künstler und Schriftsteller die Autorschaft für ihre Werke beansprucht. Und stellen Sie sich vor, dass die ersten Roma vor 600 Jahren nach Europa kamen. Also seit 600 Jahren lag die Darstellung und Interpretation dessen, was Roma-Kultur ist, immerhin der größten europäischen Minderheit, in den Händen der Nicht-Roma."
    Was aber genau ist Roma-Kultur? Jeder kennt Django Reinhardt, den genialen Gitarristen und Begründer des Gipsy Jazz. Doch die vielfältigen Einflüsse von anonymen Roma-Musikern, -Tänzern, und -Künstlern auf die europäische Kulturgeschichte sind kaum bekannt. Romanes, die Sprache, die altindische Wurzeln hat und in 20 Dialekten gesprochen wird, hat ihre Spuren in sämtlichen europäischen Sprachen hinterlassen - und umgekehrt. Doch auch die Roma haben mit der Globalisierung zu kämpfen. Ihre Sprache und Identität droht verloren zu gehen, je mehr sie ihr Ziel, ihr Stigma abzuschütteln und anerkannt zu werden, erreichen.
    Am Ende werden auch die Gäste der Veranstaltung im ERIAC-Büro zu Roma-Aktivisten gemacht. In einem Rollenspiel sollen sie gegenüber der EU-Kommission Forderungen aufstellen, damit das Kulturerbe der Roma in Europa endlich die Anerkennung und den Stellenwert bekommt, den es verdient. Die Vorschläge reichen von einer Romakunst-Quote für europäische Museen bis hin zur Forderung nach Roma-Repräsentanten in allen EU-Institutionen. Wir müssen die Mehrheitsgesellschaft erziehen, ruft eine Besucherin engagiert. Junghaus lacht: So weit habe man sich bislang bei ERIAC nicht vorgewagt. Aber man werde diskutieren, ob man die Vorlage für die EU entsprechend erweitert.