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Europapolitik steht im Mittelpunkt der 77. deutsch-französische Zusammenkunft

    Remme: Freiburg im Breisgau ist heute Schauplatz der regelmäßigen deutsch-französischen Konsultationen. Es stand schon besser um die bilateralen Beziehungen als vor dieser 77. Zusammenkunft. Auch wenn die Tagesordnung anderes verkündet: Im Mittelpunkt steht die Europapolitik, und da gibt es jede Menge Gesprächsstoff, auch kontroverser Natur, denn wenn es um den zukünftigen Weg Europas geht, dann schaut man in Paris und in Berlin in unterschiedliche Richtungen. Das wirkt sich nicht nur auf die gegenseitigen Beziehungen aus, sondern wird auch in den anderen EU-Staaten - und denen, die es werden wollen - sorgfältig wahrgenommen. Am Telefon ist nun Daniel Cohn-Bendit. Er sitzt für die französischen Grünen im Europaparlament. Guten Morgen Herr Cohn-Bendit.

    Cohn-Bendit: Guten Morgen.

    Remme: Herr Cohn-Bendit, europapolitisch stehen Frankreich und Deutschland für unterschiedliche Konzepte, die Iren sagen ‚Nein' zu Nizza, die Beitrittskandidaten sind besorgt. Ein Gipfel steht vor der Tür - und der Bundeskanzler lädt die Franzosen heute ein zum ‚Kampf gegen den Rassismus'. Muss man da nicht sagen: "Thema verfehlt?"

    Cohn-Bendit: Nein, nein, muss man nicht. Also ich finde, das ist langfristig vorbereitet worden und es gibt ja genügend Vorfälle in Europa, die das Thema ‚Rassismus' auch begründen. Das bedeutet ja nicht, dass man nur über Rassismus redet. Aber ich finde es richtig, dass man versucht, auch eine deutsch-französische Initiative zu starten, um ein leidiges Thema in Europa mal zu behandeln.

    Remme: Wir haben vor einer halben Stunde schon mit Ihrem Parlamentskollegen Elmar Brok gesprochen. Auch an Sie die Frage: Was lehrt uns das Abstimmungsergebnis in Irland?

    Cohn-Bendit: Nun, erstmal, dass es ein schlechter Vertrag ist, weil im Grunde genommen haben in Irland sich verschiedene Dimensionen zusammengefunden - die, die unzufrieden sind, weil Europa ihnen zu weit geht; die, die unzufrieden sind, weil Europa ihnen nicht weit genug geht und die, die unzufrieden sind, weil sie sich nicht verstehen und nicht zur Wahl gegangen sind - Ergebnis: 30 Prozent Wahlbeteiligung - und da ein Ergebnis, weil es für den Vertrag von Nizza schlecht ist. Es lehrt uns: Halbe Sachen sind keine Sachen. Wir müssen den Verfassungsprozess in Europa vorantreiben, wir müssen aufhören, Klein-Klein-Kompromisse zu machen, die niemand mehr versteht.

    Remme: Und reicht es, dann zu sagen: ‚Dann stimmen wir eben nochmal ab'?

    Cohn-Bendit: Nein, ich finde, dass man im Grunde genommen diesen Vertrag von Nizza ad akta legen soll. Gut, die werden eine Vereinbarung treffen über die Neutralität oder irgendwas, das ist ja nicht das Problem. Grundsätzlich müssen wir jetzt nach vorne schauen und sagen: Ok - das nenne man den ‚Post-Nizza-Prozess' -, wir müssen jetzt durch einen Konvents eine verfassungsgebende Versammlung einberufen und müssen vor der Erweiterung Sinn und Inhalt Europas definieren, damit die Menschen einfach wissen, worum es geht. Es geht nicht nur ums Nehmen, das heißt, Europa ist nicht ein Selbstbedienungsladen, wo man sich immer etwas rausnehmen kann, sondern ist auch eine Wertegemeinschaft, es ist eine demokratische Gemeinschaft. Und das muss klargelegt werden, damit die Länder, die dazu kommen, auch ganz klar wissen, worum es bei diesem Europabeitritt geht. Es geht nicht nur um Subventionen.

    Remme: Worum geht es uns vor allen Dingen, wohin will man? - Darüber streiten und diskutieren Deutsche und Franzosen. Wie schwer wiegen diese unterschiedlichen Auffassungen - die Konzepte Fischers, Schröders, Raus, Chiracs, Jospins - über diesen zukünftigen Weg?

    Cohn-Bendit: Also ich finde, dass ihr Journalisten merkwürdigerweise einen großen Fehler macht. Zwischen Jospin und Fischer ist kein großer Unterschied. Klar, Schröder ist ein deutscher Föderalist. Schröder weiß - das ist ein Leitantrag vom SPD Parteitag - Schröder weiß doch genau, dass der deutsche Föderalismus nicht europäische Realität werden wird, sondern es geht darum, jetzt einen historischen Kompromiss zu finden. Und wenn man klar hört, was Fischer sagt und Jospin, dann sind sie gar nicht weit voneinander. Fischer ist sicherlich föderalistischer als Jospin, aber er weiß, dass es einen Kompromiss zwischen Deutschland und Frankreich geben muss - Thema wird diese Föderation der Nationen sein, und in dieser Richtung kann es nach der Wahl 2002 eine starke deutsch-französische Initiative geben. Dann bin ich davon überzeugt.

    Remme: Welchen der genannten Beiträge können denn Sie sich am ehesten anschließen?

    Cohn-Bendit: Na ja, ich bin föderalistischer als Schröder, Jospin, Chirac und Fischer zusammen. Aber ich weiß, wie kompromissfähig im Moment Europa ist. Deswegen würde ich sagen: Es wird eine starke Parlamentarisierung der Gemeinschaft geben, und es wird eine Stärkung der Kommission durch eine Form der Direktwahl des Präsidenten der Kommission geben. Und es wird eine Stabilität des institutionellen Dreiecks geben - zwischen Kommission, Parlament, Rat -, das alles überwacht vom Europäischen Gerichtshof.

    Remme: Sie haben das Wahldatum 2002 gerade angesprochen; nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich wird gewählt. Werden die Wahlkämpfe diese Unterschiede in der Sichtweise noch weiter befördern?

    Cohn-Bendit: Ich glaube, da in Deutschland im Grunde genommen Europavisionen nicht so unterschiedlich sind, wird es interessant bei dem Inhalt, also: Wozu will man dieses Europa stärken, welche Rolle soll Europa in der Globalisierung spielen, welche Rolle soll in Europa in Krisensituationen spielen, brauchen wir eine Europasteuer? Also, das heißt: Was wollen wir auf Europa übertragen? Welche Politiken wollen wir der europäischen Souveränität übertragen? Das wird im Wahlkampf eine Rolle spielen in beiden Ländern.

    Remme: Die europapolitischen Meinungsunterschiede - wir haben jetzt gerade über das Wahldatum gesprochen -: Ist das eigentlich etwas, was das Abbild der jeweiligen politischen Führung ist, also die Meinungsunterschiede vorübergehend sein können, die da auch wechseln können - oder sind da nationale Befindlichkeiten berührt, die tiefer gehen?

    Cohn-Bendit: Also, ich würde es nicht nationale Befindlichkeit nennen, sondern nationale politische Kultur. Der Föderalismus ist nun mal eine deutsche politische Kultur, der Zentralismus eine französische. Deswegen sind erstmal die Vorschläge von diesen unterschiedlichen politischen - gesellschaftlich politischen - Kulturen geprägt. Aber ich glaube schon - oder ich bin überzeugt -, dass alle wissen, dass am Ende ein Kompromiss stehen wird - nicht ein französisches Europa oder ein deutsches Europa oder ein englisches Europa, aber ein europäisches Europa - das heißt, ein politischer Mix aus politischen Kulturen. Und darum geht es. Und ich muss ehrlich sagen: Der, der am weitesten diesen Kompromiss im Moment versucht zu finden, ist der deutsche Außenminister.

    Remme: Tony Blair, Herr Cohn-Bendit, hat in der vergangenen Woche ein neues Mandat für seine Politik, auch für seine Europapolitik, erhalten . . . Cohn-Bendit: . . . das ist so nicht richtig . . .

    Remme: . . . Entschuldigung . . . Cohn-Bendit: . . . das ist ein bisschen schnell, die haben überhaupt nicht überhaupt nicht über Europa geredet beim Wahlkampf - aus Angst, es könnte problematisch werden.

    Remme: Wie wichtig ist denn der Beitrag Großbritanniens - ein Beitritt zur Währungsunion - für die Entwicklung der EU?

    Cohn-Bendit: Nun ja, also wenn Großbritannien in Europa bleiben will, dann ist es wichtig, dass Großbritannien dem Euro beitritt und stärker sich an Europa orientiert. Ich bin mir - ich muss ehrlich sagen - bei Großbritannien nie so sicher, ob sie dabeibleiben. Vor allem Blair sagt: Europa, wie es jetzt ist, ist eigentlich in Ordnung. Die Briten gehen davon aus, dass Europa eine Freihandelszone ist, die man erweitern muss - und nicht mehr. Und das ist im Moment der Konflikt, und ich glaube, die Engländer müssen sich da entscheiden. Ich würde verstehen, wenn sie nicht weiter nach Europa wollen. Aber das würde bedeuten, dass wir uns eben ein Europa auch ohne Großbritannien ausdenken müssen. Ich glaube, dass - wenn diese Frage so gestellt wird, wird die Antwort von Blair sein: ‚Nein, nein, wir wollen mitmachen'. Also, es wird entscheidend sein für die Stabilität Europas, dass die Engländer - nicht nur Blair, sondern die englische Gesellschaft sich klar wird, was sie will.

    Remme: Wird eine stärkere Rolle Londons die deutsch-französische Kooperation beeinflussen?

    Cohn-Bendit: Nein, glaube ich nicht, weil eine stärkere Rolle Englands immer noch eine zögerliche Rolle sein wird. Deswegen braucht man die deutsch-französischen Initiativen. Und ich glaube, dessen sind sich mittlerweile sowohl Chirac als auch Jospin als auch Schröder bewusst.

    Remme: Abschließend, Herr Cohn-Bendit: Bei all dem, insbesondere auch mit Blick auf die irische Abstimmung, schauen die Beitrittskandidaten in Ost- und Mitteleuropa etwas besorgt zu. Haben sie Grund zur Sorge?

    Cohn-Bendit: Nun ja, die schauen besorgt. Aber ich glaube, wir müssen mal ehrlich Tacheles reden mit ihnen. Sie wollen nach Europa, weil sie sagen: ‚Da gibt es etwas zu verteilen, da gibt es einen Kuchen zu verteilen'. Und wir müssen uns klar sein: Das ist mehr als ein Kuchen, das ist eine Werte- und politische Gemeinschaft, die es gilt zu verteidigen. Und deswegen sollten wir uns diese Beitrittsdebatten nicht zu leicht machen, sonst haben wir dann am Ende 27 Irlandfälle in Europa, was das Ganze dann völlig lähmen würde.

    Remme: Der grüne Parlamentarier im Europaparlament Daniel Cohn-Bendit. Herr Cohn-Bendit, ich bedanke mich für das Gespräch.

    Cohn-Bendit: Bitte sehr.

    Link: Interview als RealAudio