Samstag, 20. April 2024

Archiv

Europas Sinnkrise
Wohin steuert die Wirtschafts- und Währungsunion?

Zehn Jahre ist die Finanzkrise her - auf dem kommenden EU-Gipfel wollen die Staats- und Regierungschefs die Eurozone krisenfester machen. Bei den Reformen spielen die unterschiedlichen Vorstellungen von Deutschland und Frankreich eine wichtige Rolle. Am Ende müssen aber alle EU-Länder an einem Strang ziehen.

Von Casper Dohmen | 27.06.2018
    Europafahnen vor dem Gebäude der Europäischen Kommission, Berlaymont Gebäude, Brüssel.
    Was als wirtschaftliches Projekt startete, ist heute zu einem politischen geworden (imago stock&people)
    Das Airbus-Werk in Hamburg-Finkenwerder. In einer Halle montieren Arbeiter drei Kurzstreckenflieger des Typs A 320 für die indische Airline IndiGo, China Southern und Easyjet. Olaf Lawrenz, bei Airbus für Logistik zuständig:
    "Mit dem vorderen Rumpfbereich, der kommt aus Frankreich, dann haben wir den hinteren Rumpfbereich, das kommt aus Hamburg, die Flügel kommen traditionell aus England, das Seitenleitwerk kommt aus Stade und das Höhenleitwerk kommt aus Spanien, aus Getafe in der Nähe von Madrid. Triebwerke je nachdem unterschiedlich, welche Triebwerksvariante der Kunde sich wählt, und auch das Fahrwerk kommt hauptsächlich aus England."
    Airbus wurde eine Erfolgsgeschichte – genauso wie die EU
    Die Erwartungen hat Airbus weit übertroffen, auch beim A 320, der erstmals 1987 abhob. "Interessanterweise, der ganze Businesscase der A-320-Familie ist mal gerechnet worden auf 600 Flugzeuge, dass wir 600 Flugzeuge liefern. Das liefere ich jetzt im Jahr."
    Den Weltmarkt für Passagierflugzeuge beherrschten in den 1960er-Jahren die US-amerikanischen Hersteller Boeing und McDonell Douglas. Politiker aus Deutschland und Frankreich trafen damals eine wegweisende industriepolitische Entscheidung und schufen mit dem Airbus-Vertrag 1969 einen europäischen Anbieter. Airbus wurde eine Erfolgsgeschichte – genauso wie die EU. Die wirtschaftliche Integration der Länder nahm zu. 1999 startete sogar eine gemeinsame Währung. In 19 Ländern wurde der Euro eingeführt. Mit der Finanzkrise geriet das Projekt 2008 in Schieflage, die bis heute andauert.
    Um die Eurozone dauerhaft zusammenzuhalten, braucht es erneut wegweisende politische Entscheidungen, denn die Zeiten sind rauer geworden. Das transatlantische Verhältnis ist seit Donald Trumps Machtübernahme brüchig und die Chinesen fordern mit ihrem autoritären Wirtschaftsmodell Europa heraus. Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft:
    "Wir haben auch einen Systemwettbewerb und diesen Systemwettbewerb, den kann weder Belgien alleine, noch Frankreich alleine, noch die Bundesrepublik alleine. Aber gemeinsam haben wir da schon eine Chance."

    Frankreichs Präsident Emanuel Macron skizzierte in einer fulminanten Rede an der Universität Sorbonne im September 2017 seine Initiative für Europa. Er forderte unter anderem einen eigenen Haushalt für die Euro-Zone, eine Bankenunion mit einer gemeinsam garantierten Einlagensicherung und die Umwandlung des bestehenden Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM in einen gemeinsamen Europäischen Währungsfonds. Erst neun Monate später reagierte Bundeskanzlerin Angela Merkel - in einem Zeitungsinterview. Ihre Antwort fiel bescheiden aus. Am 19. Juni trafen sich beide Politiker im brandenburgischen Schloss Meseberg und erarbeiteten einen Kompromissvorschlag.
    Beim anstehenden Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel könnten nun Entscheidungen fallen. Können Macron und Merkel die anderen Euro-Staaten von ihrem Vorschlag überzeugen? Was ist von deren Ideen zu halten? Greifen die Vorschläge weit genug? Den Ökonom Pawel Tokarski von der Stiftung Wissenschaft und Politik haben Macrons Vorschläge nicht überrascht.
    Emmanuel Macron hielt seine Rede zu Europa am 26. September 2017 an der Universität Sorbonne
    Emmanuel Macron hielt seine Rede zu Europa am 26. September 2017 an der Universität Sorbonne (picture alliance / dpa / Frédéric Dugit)
    Profitiert hat der Norden, verloren der Süden
    "Man vergisst, dass die französischen Vorschläge nicht neu sind. Sie sind einfach anders eingepackt als vorher und Präsident Macron repräsentiert einfach die alte französische Linie. Die Franzosen sagen einfach ungefähr das Gleiche seit den letzten 20 Jahren. Sie wollen mehr innerstaatliche Zusammenarbeit in der Eurozone, einen gemeinsamen Haushalt."
    Es gibt gute Gründe, warum es neben dem EU-Haushalt noch einen extra Topf für die Eurozonenländer braucht. Vor allem hat das Gefälle der Lebensverhältnisse in den 19 Euroländern nicht - wie erwartet - ab, sondern zu genommen. Profitiert hat der Norden, verloren der Süden. Ohne ein Mindestmaß an einheitlichen Lebensverhältnissen zerreißt es eine Währungsunion aber auf Dauer. Zudem gibt es Investitionsbedarf. Michael Hüther:
    "Also die Idee ein gemeinsames Eurozonen-Investitions-Budget aufzusetzen hat natürlich einen gewissen Charme. Wir sehen ja unverändert in der gesamteuropäischen Infrastruktur, also transeuropäische Netzen insbesondere, aber auch an den grenzüberschreitenden Vernetzungen der nationalen Infrastruktursysteme, doch unverändert hohen Investitionsbedarf."
    Bereits nach der Finanzkrise von 2008 gab es Planspiele für Investitionen in großem Stil in der Eurozone, etwa den massiven Ausbau von Sonnenenergie in Griechenland. Schon damals war die Rede von einem Marshallplan für Südeuropa. Wirklichkeit wurde dies nicht.
    Man sollte erst über Ideen und dann über Geld reden, rät der Ökonom Peter Bofinger, einziger Keynsianer im fünfköpfigen Sachverständigenrat, der die Bundesregierung in wirtschaftlichen Fragen berät.
    "Diese Leuchttürme sozusagen beschreiben, identifizieren würde, dass die Leute dann auch sehen, ja, das ist was, beispielsweise ein Zentrum für Biomedizin in Europa mit dem man Krankheiten wie Krebs und Alzheimer und Diabetes behandeln kann, also solche Projekte, wo jeder Bürger und jede Bürgerin sieht, oh ja, wenn wir das machen, bringt das Europa voran und auch unser eigenes Land voran.
    Macron will klotzen statt kleckern
    Macron wünscht sich einen dreistelligen Milliardenbetrag, will klotzen statt kleckern. Allerdings erklärte er nie, wer eigentlich die Summe aufbringen soll. Er muss wohl erhebliche Abstriche machen, denn die deutsche Kanzlerin will kleinere Brötchen backen, spricht von einem niedrigen zweistelligen Milliardenbetrag. Und die EU-Kommission hat einen Betrag von 30 Milliarden Euro für die Stabilisierungsfunktion ins Spiel gebracht. Ökonom Tokarski:
    "Ehrlich gesagt, es ist sehr schwer sich solche Mechanismen in der Eurozone vorzustellen, die zum Beispiel Italien helfen könnten. Ein Fonds für die Unterstützung der staatlichen Investitionen, der ungefähr 30 Milliarden groß ist für alle 19 Eurozonenmitgliedsstaaten, das ist einfach zu wenig Geld, um eine konkrete makroökonomische Auswirkung zu verursachen."
    Koppeln wollte Macron das Eurozonen-Budget mit der Schaffung eines gemeinsamen Finanzministers. In der gegenwärtigen Lage hält Bofinger wenig davon:
    "Solange die grundsätzliche Bereitschaft zusätzliche Kompetenzen abzutreten auf der europäischen Ebene nicht da ist, ist das quasi mehr oder weniger eine Hülle ohne das damit wirklich auch neue Funktionen verbunden sind."
    Auch Pawel Tokarski warnt: "Ein Finanzminister für die Eurozone würde sehr einfach ein Sündenbock für die nationalen Populisten werden."
    Ein Militärtransporter vom Typ Airbus A400M in einer Fertigungshalle in Toulouse im Südwesten Frankreichs.
    Airbus - ein europäisches Erfolgsprojekt - hier ein Militärtransporter vom Typ Airbus A400M in einer Fertigungshalle in Toulouse im Südwesten Frankreichs (AFP PHOTO / Remy Gabalda)

    Fähren pendeln zwischen Hamburg Teufelsbrück und dem Airbus-Werk auf dem anderen Elbeufer. Tausende Beschäftigte nutzen sie täglich. Von den weltweit knapp 130.000 Airbus-Beschäftigten arbeiten rund 15.000 in Hamburg. Eine ist Melissa Ferarra – sie macht eine Ausbildung zur Fluggerätemechanikerin. Dazu gehörte für sie auch ein achtwöchiger Arbeitsaufenthalt in der Airbus-Zentrale in Toulouse. Ferrara lernte dort auch kulturelle Unterschiede kennen:
    "Ich finde, es fängt schon auch dabei an, dass dann die Mittagspausen ein bisschen länger sind und das komplette Team zusammen in die Kantine geht. In Deutschland ist es eher, ja, dann die Mittagspause ist kurz, eine halbe Stunde nur, manche gehen hierhin und dahin, man ist dann mehr für sich."
    Deutschland ohne die EU: ein Flugzeug ohne Düsenantrieb
    Wer sich besser kenne, gehe auch anders miteinander um, glaubt Melissa Ferrara.
    "Was ich auch gemerkt habe, das es weniger Hierarchie gibt. Mit denen allen konnte man trotzdem irgendwie auf einer Ebene reden. Wir haben unsere Unterschiede, eben kulturell, aber wie gleich wir auch eben alle arbeiten und sind. Und nur so ist es dann ja auch möglich, dass wir das Flugzeug zusammen bauen."
    Die Bundesrepublik wäre ohne den Binnenmarkt und den Euro ein Flugzeug ohne Düsenantrieb. Europas größte Volkswirtschaft ist auch viel zu klein, um alleine den USA zu trotzen, wenn diese etwa Zölle gegen Autos einführen sollten. Deutschland ist auch zu klein, um sich der chinesischen Macht zu erwehren. Die größten Internetkonzerne der Welt stammen aus den USA oder China. Wenn Deutschland in der digitalen Ökonomie nicht völlig abgehängt werden will, braucht es auch hier europäische Lösungen. Jan Gaspers vom Mercator Institut für Chinaforschungen:
    "Worüber wir aber sicherlich nachdenken müssen ist, ob wir eine kluge Industriepolitik an der ein oder anderen Stelle brauchen, um bestimmte Industrien zu schützen, um sie besser gegen chinesische Mitbewerber auch zu positionieren. Denn eins ist ja klar in China steckt der Staat überall in den Schlüsselindustrien mit drin und da wird ganz massiv Industriepolitik gefahren."
    Vor der Verwirklichung industriepolitischer Träume müssen die Eurozonenländer die Währungsunion krisenfest machen. Stabil ist der Euro heute vor allem dank der Geldpolitik der EZB. Deren Präsident Mario Draghi hat aber immer deutlich gemacht, dass Währungshüter den Politikern nur Zeit kaufen können. Notwendige Reformen müssen sie selbst erledigen. Wesentlich hängt dies von Frankreich und Deutschland ab. Die beiden größten Volkswirtschaften der Eurozone müssten währungspolitisch auf einen echten gemeinsamen Nenner kommen - eine Herkulesaufgabe.
    Keynesianer gegen Marktliberale?
    Denn beide Länder hängen unterschiedlichen Wirtschaftsphilosophien an. Frankreich - ist zugespitzt gesagt - planerisch und keynesianisch orientiert, Deutschland dagegen wirtschaftsliberal. Dadurch sind Missverständnisse programmiert, so die Hauptthese des Buches: "Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen", geschrieben von dem Ökonom Markus Brunnermeier, dem Historiker Harold James sowie Jean-Pierre Landau - ehemals Vizepräsident der Bank von Frankreich. Pragmatiker treffen auf Prinzipienreiter, lautet der Grundkonflikt
    Konferenz bei der Friedrich-Ebert-Stiftung unter dem Titel: "Europa nach der Euro-Krise: Wohin steuert die Wirtschafts- und Währungsunion?" Auf dem Podium dabei ist Helene Schuberth, die Leiterin der Forschungsabteilung der Österreichischen Nationalbank.
    "Die Bankenunion ist nicht vollständig."
    Zwar haben die Eurostaaten die Aufsicht für Banken vereinheitlicht und Regeln verschärft, erhalten blieb aber ein verhängnisvoller Teufelskreis.
    "Der Doom loop, also die Verschränkung von Risiken zwischen Banken und Staaten, konnten durch die Bankenunion nicht zur Gänze beseitigt werden."
    "Das führt dazu, dass Banken sehr stark die Staatsanleihen ihres jeweiligen Sitzlandes kaufen und deswegen auch in der Risikobewertung immer eng an den Risiken des Staates hängen; in Italien kann man das sehr gut beobachten."
    Geht es dem Staat schlecht, geht es auch den heimischen Banken schlecht und umgekehrt.
    "Das zu zerschneiden, bedeutet diese Privilegierung aufzugeben, heißt im zweiten Schritt, ich muss ein Menge Eigenkapital mobilisieren. Das ist ein längerer Weg."
    Die Angst vor der Bankenunion
    Notwendig für eine vollständige Bankenunion wäre auch eine einheitliche Absicherung der Geldeinlagen aller Bürger in der Eurozone. Damit würden auch deutsche Sparer bei der Pleite einer Bank in einem anderen Eurozonenland mit einstehen. Dagegen laufen Interessenvertreter von Sparkassen und Genossenschaftsbanken in Deutschland Sturm. Zuletzt warnten auch 154 hiesige Ökonomen vor Vergemeinschaftungsrisiken.
    Hüther sieht dies anders: "Ich habe aber grundsätzlich keine Einwände gegen eine Einlagensicherung wie manche deutsche Ökonomen, die dann immer gleich irgendwelche Vergemeinschaftungsrisiken sehen. Ja, ich meine, wir sind in einer gemeinsamen Währung. Wir sind auch in einem teilföderativen System, das ist kein Staatenbund mehr, aber es ist auch kein Bundesstaat. Also dieses Europa realistisch zu betrachten, heißt auch sich sozusagen nicht irgendwelche Lösungen vorzustellen, die im antiseptischen Reinraum gemacht werden, die gibt es auch in nationalen Lösungen nicht."

    Deutschland lehnt eine gemeinsame Einlagensicherung nicht generell ab, verlangt aber vorher einen Abbau von Risiken, also vor allem von faulen Krediten in Bankbilanzen. Den Südländern dürfte bei dem Gipfel daran gelegen sein, zumindest die Option einer gemeinsamen Einlagensicherung für die Zukunft zu erhalten.
    Beide - Macron und Merkel – wollen den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM zu einer Art Europäischen Währungsfonds ausbauen. Bei der Abwendung der Pleite Griechenlands hatten die Europäer den Internationalen Währungsfonds zu Hilfe gerufen. Gerade aus Staaten des globalen Südens kam Kritik daran, dass der Fonds mit großen Summen im reichen Europa aushalf.
    19.06.2018, Brandenburg, Meseberg: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU,r) und Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, sprechen bei einer Pressekonferenz beim Deutsch-Französischen Ministerrat auf Schloss Meseberg. 
    Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU,r) und Emmanuel Macron, Präsident von Frankreich, sprechen bei einer Pressekonferenz beim Deutsch-Französischen Ministerrat auf Schloss Meseberg (picture alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Michael Hüther: "Wir können auf Dauer nicht davon ausgehen, dass der Internationale Währungsfonds unsere Arbeit leistet, das sollten wir schon selbst können."
    Deutsche und Franzosen wollen dem ESM deswegen neue Zuständigkeiten geben. Bei einer Krise könnte er dann langfristige Kredite vergeben, um eine Staatspleite abzuwenden. Der Fonds soll aber auch mittelfristige Kredite vergeben dürfen, wenn Staaten unverschuldet Probleme bekommen. Das könnte etwa Irland in Folge des Brexit blühen. Aber es gibt offene Fragen: Welche Unabhängigkeit bekäme ein solcher ESM? Welche Vorrechte der Parlamente sind richtig und wichtig? Welchen Beitrag könnte ein solcher Währungsfonds tatsächlich im Krisenfall leisten? Für eine stabile Architektur der Währungsunion reicht dies aber ohnehin nicht aus. Sprengkraft haben etwa die Handelsungleichgewichte. Notenbänkerin Schuberth:
    "Eine Währungsunion funktioniert nur, eine Erkenntnis von John Maynard Keynes, wenn es einen Ausgleichsmechanismus gibt. Leistungsbilanzüberschüsse, die sich jetzt auch in dem Euroraum-Leistungsbilanzüberschuss manifestieren von 3,7 Prozent sind nicht nachhaltig und riskant."
    Boom vor der Krise teils auf Sand gebaut
    Nach Ansicht von Keynes sollten sowohl die Überschuss- als auch die Defizitländer die Kosten eines Abbaus solcher Ungleichgewichte tragen. In der Eurokrise mussten aber fast nur die Defizitländer die Kosten schultern.
    Gute Nachrichten für die Eurozone: Die Wirtschaftsleistung stieg 2017 um 2,5 Prozent – ein Zehnjahreshoch. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Trotzdem geht es vielen Menschen schlechter als vor der Krise. Zum ganzen Bild der Wahrheit gehört auch, dass der Boom vor der Krise teils auf Sand gebaut wurde.
    Ein Beispiel nennt Ökonom Bofinger: "In Spanien war die Situation vor der Krise auch aufgebläht durch extrem niedrige Zinsen, durch eine völlig exzessive Bautätigkeit, das heißt, dass war natürlich auch nicht stabil. Und das man jetzt durch so einen Prozess gehen musste, der eine Strukturanpassung mit sich gebracht hat, die für viele Menschen sehr, sehr schwierig ist, ist vielleicht auch ein bisschen unvermeidbar gewesen."

    Hinter Strukturanpassungen verbergen sich auch sozial gravierende Maßnahmen mit erheblichen Folgen, etwa Kürzungen bei Gesundheit und Rente oder ein Abbau von Arbeitnehmerrechten. In den meisten europäischen Ländern haben etwa Gewerkschaften nicht mehr die Organisationsmacht, um mit ihren Abschlüssen die allgemeine Lohnentwicklung zu beeinflussen. Dierk Hirschel, Chef-Ökonom bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi:
    "Das führt dann dazu, dass in elf Ländern der Europäischen Union die Reallöhne sinken. Das führt wiederum dazu, dass die Beschäftigten sich von Europa abwenden."
    "Internationale Institutionen und auch die Europäische Zentralbank haben in den letzten Jahren immer wieder die Inflationsrate zu positiv eingeschätzt in ihren Prognosen. Man hat dann den Prognosefehler genau analysiert und ist darauf gekommen, ja es waren die Löhne, die man überschätzt hat."
    Erklärt die Notenbänkerin Schuberth mit Blick auf eine neue Studie ihres Hauses: "Das heißt prekäre Beschäftigten haben einen ähnlichen, das wäre so die theoretische Grundlage, ähnliche Wirkung wie, sagen wir das Heer der Arbeitslosen auf die Löhne der Vollzeitbeschäftigten und regulär Beschäftigten. Und ich glaube, das ist extrem relevant."
    Hans-Dietrich Genscher (links) und Theo Waigel (rechts) unterzeichnen am 7. Februar 1992 den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht (Niederlande). 
    Hans-Dietrich Genscher (links) und Theo Waigel (rechts) unterzeichnen am 7. Februar 1992 den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht (Niederlande).  (picture alliance / dpa - epa)
    Die Jugend ist weiterhin arbeitslos
    Die populistischen Folgen dieser Entwicklung sind unübersehbar. Ökonom Pawel Tokarski von der Stiftung Wissenschaft und Politik: "Ich finde das auch wichtig eine soziale Säule innerhalb der Währungsunion zu entwickeln. Während der Krise haben wir ganz viel über die Rettung der Banken, der Staatsfinanzen diskutiert, aber ganz wenig wie die sozialen Folgen der Krise sind. Und diese Folgen sind noch sehr spürbar in fast allen südeuropäischen Ländern."
    Es gab in der Krise Ideen wie die Jobgarantie für arbeitslose Jugendliche.
    Dierk Hirschel, Chefkökonom bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi: "Daraus ist nichts geworden. Es hat nicht wirklich funktioniert. Es ist nicht gelungen arbeitslose Jugendliche europaweit wieder in Beschäftigung zu kriegen."
    Deutschlands Finanzminister Olaf Scholz forderte jüngst eine Arbeitslosen-Rückversicherung auf Kreditbasis. Aber selbst diese kleine Idee zur Stärkung der Sozialunion dürfte derzeit keine Chance haben. Frankreichs Star-Ökonom Thomas Piketty, der mit seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" zur Entwicklung der Vermögensungleichheit weltweit Furore gemacht hat, findet selbst die ursprünglichen Reformideen von Macron unzureichend.
    "Was bedeutet es zu sagen, dass wir einen Haushalt für die Eurozone wollen, ohne zu bestimmen, wer hat das Sagen, welches Parlament, welche Steuer es geben soll. Das ist alles völlig vage. Und ich denke, das ist das Problem, dass tatsächlich beide - Macron und Merkel - nicht wirklich etwas machen wollen."
    Er wünscht sich noch tiefergreifende institutionelle Reformen, die Europas Demokratie stärken und den Nationalisten den Wind aus dem Segel nehmen. "Wenn man Europa voranbringen will, muss man dafür sorgen, dass die Politiker gleichzeitig Teil des Europaparlaments und des nationalen Parlaments sind."
    Dann würden die Politiker seltener in Brüssel etwas beschließen und später daheim auf Brüssel schimpfen. Verwirklicht wurde Europa nur, weil Politiker groß dachten. Gemeinsam schufen die Staaten, wozu jeder alleine zu schwach war, zum Beispiel Airbus. Manager Olaf Lawrenz.
    "Ich glaube zu dem Zeitpunkt, wo man sich dazu entschieden hat, das war ja Ende der 60er Jahre, da ging es ja hauptsächlich erst mal darum ein Momentum gegen Boeing und McDonell Douglas zu schaffen. Da war ich gerade geboren. Aber wenn man mal so retrospektiv das ganze betrachtet, glaube ich, wäre das von dem finanziellen Aufwand oder auch von der Technik, die damals beherrscht werden musste, für ein Land alleine, wäre es nicht möglich gewesen."