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Europawahl
"Eine schwere Legitimationskrise"

Ist das Integrationsprojekt Europa gefährdet? Lange Zeit seien die Europawahlen als nationale Protestwahlen verstanden worden, sagte der Politikwissenschaftler Philip Manow im Dlf. Das habe dann zu dem "tragischen Ergebnis" geführt, dass sich im EU-Parlament viele Europaskeptiker tummeln.

Philip Manow im Gespräch mit Michael Köhler | 14.05.2019
Der Politikwissenschaftler Philip Manow
Der Politikwissenschaftler Philip Manow über EU-Skeptiker im EU-Parlament (Markus Zielke)
Michael Köhler: Wesentliche Bestandteile von Rechtsstaatlichkeit oder auch das politische Projekt der europäischen Einbindung sind heute in einigen Teilen Europas heftig umstritten. Kurz vor den Wahlen zum Europaparlament ist von EU-Begeisterung wenig zu spüren. Im Gegenteil. Links- und Rechtspopulismus grassieren. Das führt zu einem scheinbar paradoxen Ergebnis: bei der EU-Wahl werden EU-skeptische Stimmen gestärkt.
Philip Manow lehrt Politikwissenschaft an der Universität Bremen und hat vor wenigen Monaten das Buch "Die politische Ökonomie des Populismus" veröffentlicht. Ihn habe ich gefragt: Welche Ergebnisse haben die Europawahlen in der Vergangenheit gebracht, die sich jetzt fortzusetzen scheinen?
Philip Manow: Europawahlen sind lange Zeit immer als nationale Protestwahlen verstanden worden in der Politikwissenschaft. Es geht ja nicht darum, die nächsten vier oder fünf Jahre eine nationale Regierung zu wählen, unter der man dann ja zu leiden hat, sondern irgendwo da im fernen Brüssel wird ein Parlament besetzt. Und das führt einmal dazu, dass viel weniger Leute zur Wahl gehen. Das führt aber auch dazu, dass eher Unzufriedene mobilisiert werden. Die Leute, die ganz mit sich und der Politik im Reinen sind, die gehen eher nicht zur Wahl, und das hat in der Vergangenheit immer dazu geführt, dass häufig von Denkzettelwahlen gesprochen wurde, von Protestwahlen, von Barometerwahlen, Stimmungswahlen, wenn man so möchte, und das hat eher politisch extremeren Parteien gut getan, eher kleineren Parteien, auch eher Parteien, die nicht in der Regierung sind. Das hat dann insgesamt auf dem Aggregat, wenn man die Zusammensetzung des Europaparlaments sich anschaut, zu dem etwas ironischen, oder man kann auch vielleicht sagen tragischen Ergebnis geführt, dass im Europaparlament sich eigentlich viele Europaskeptiker tummeln.
Köhler: Das klingt in der Tat widersprüchlich, oder?
Manow: Ja, das tut es auf den ersten Blick. Wir wissen aber auch natürlich: Die Mehrheiten des Europaparlaments, die sind in der Mitte völlig klar, bislang die beiden großen Parteigruppierungen EVP, die Christdemokraten, und dann die Sozialdemokraten, die ja eigentlich immer eine prointegrationsgroße Koalition gefahren haben. Das ist das Bild, was uns bekannt ist, auch teilweise mit über Bande spielen, Schulz als Parlamentspräsident und Juncker von der EVP als Kommissionspräsident. Aber wenn wir uns das ganze Spektrum anschauen, das heißt auch die linksextremeren und die rechtsextremeren Parteien, so haben die insgesamt doch relativ hohe Sitzanteile - auf alle Fälle stärker, als sie das normalerweise in nationalen Parlamenten haben.
Köhler: Ich habe bis hierhin bei Ihnen drei Dinge rausgehört. Das erste war das Mobilisierungsproblem. Das zweite war das der Protestwahlen. Und das dritte war, dass im Ergebnis im Effekt eine Stärkung extremer Parteien dabei herauskommt. Nun haben wir sezessionistische oder populistische Tendenzen in vielen Ländern Europas, in weiten Teilen Europas, Misstrauen auch gegenüber dem Binnenmarkt. Das drückt sich aus in Formeln wie "geht’s noch, Brüssel" auf Wahlplakaten. Das ist nicht eine Freundschaftserklärung; das ist eher eine Feindschaftserklärung gegen Brüssel. Ist das EU-Friedensprojekt nachhaltig gestört?
Manow: Na ja, es ist in einer schweren Legitimationskrise. Das kann man, glaube ich, schon so sagen. Wenn wir jetzt die Prognosen uns anschauen, jetzt für die Wahl, die sich vom 23. bis 26. hinziehen wird, terminlich leicht abgestuft in den verschiedenen Mitgliedsländern, muss man jetzt vielleicht auch nicht zu einer Komplettdramatisierung greifen. Ganz grob gesprochen: Der Anteil euroskeptischer Parteien wird voraussichtlich um die 250 Sitze liegen. Wenn wir bei 750 oder 751 Sitzen fürs Gesamtparlament sind, sind das satte 30 Prozent.
"Eine Pro-Integrationsmehrheit gibt es trotz alledem noch"
Köhler: Ein Drittel!
Manow: Ganz genau, oder 33 dann sogar. Und das ist natürlich eine Bank, völlig klar. Was auch ein Einschnitt sein wird: Aller Voraussicht nach wird die Große Koalition aus EVP und Sozialdemokraten ihre Mehrheit verlieren. Das ist tatsächlich auch ein Einschnitt. Jetzt geht nicht alles, was Christ- und Sozialdemokraten verlieren, was wahrscheinlich jeweils 40 Sitze sein werden - das ist auch wirklich nicht wenig -, nicht zu den Links- und Rechtspopulisten. Die Mitte, die ALDE, die Liberalen, besonders gestärkt durch Macron und République en Marche, werden wahrscheinlich stark zugewinnen. Insofern einerseits ja, der Anteil der euroskeptischen Parteien wird sich wahrscheinlich doch deutlich verstärken, und sie werden auch einen sehr, sehr, zusammengenommen hohe 30 Prozent dann repräsentieren. Aber damit ist natürlich nicht das ganze Integrationsprojekt jetzt irgendwie gefährdet und eine Pro-Integrationsmehrheit gibt es natürlich dann trotz alledem noch.
Populistischer Schub als Reaktion auf Eurokrisen
Köhler: Worin liegen denn diese Unterschiede, diese kulturellen Unterschiede auch zwischen den Mitgliedsstaaten? Ist es einfach, dass es ein Unterschied ist, ob man in Kopenhagen oder in Athen zur Schule geht und einkaufen geht, zwischen Dänen und Griechen? Ist der Unterschied jetzt doch größer, als wir immer dachten?
Manow: Es ist mit Sicherheit ein Unterschied, ob wir in Kopenhagen zur Schule gehen oder in Athen. Ob das jetzt kulturell ist, wäre eine zweite Frage. Die letzte Europawahl war 2014. Das heißt, sie war noch ganz klar von den Ausläufern auch der Eurokrise mit beeinflusst. Die wirkliche Grexit-Diskussion kochte ja 2015 dann noch mal hoch. Wir haben einfach auch große Europäisierungskrisen erlebt. 2015 war dann auch die Flüchtlingskrise. Wie wir wissen, ist der Norden von den Migrationsströmen eher betroffen gewesen. Wie wir wissen, ist die Peripherie, aber vor allen Dingen Südeuropa stärker von der Eurokrise betroffen gewesen. Dass wir dann erst mal 2014 einen populistischen Schub bekommen haben, eben in diesen Zeiten der Eurokrise, dass wir jetzt auch noch mal einen populistischen Schub bekommen werden in Reaktion auf die Flüchtlingskrise, auch wenn der Höhepunkt natürlich vorbei ist, ist plausibel oder zu vermuten, und das hat dann weniger mit Kultur zu tun, sondern wahrscheinlich tatsächlich mit Unzufriedenheit damit, dass ja Europa auch in beiden Krisen keine besonders gute Figur gemacht hat.
Brexit als große Misstrauenskundgebung gegenüber der EU
Köhler: Würden Sie zustimmen, wenn ich Sie so zusammenfasse: Die Mobilisierung unter den liberalen Wählern ist eher schwächlich, wobei hingegen die Mobilisierung der Protestwähler oder der Extremwähler leichter fällt. Einfaches Beispiel: Nigel Farage steckt den Kopf aus dem Sand, sagt, dass er wieder da ist, neue Partei gründet und sammelt Anhänger hinter sich, ohne dass man eigentlich weiß, was er eigentlich vorhat. Also mit europäischer und freiheitlich verfassten, liberalen Demokratien hat das immer weniger zu tun, oder?
Manow: Das Farage-Beispiel ist natürlich vor dem Hintergrund des Brexits und auch dieser Hängepartie und auch eben da durchaus dem Versagen sowohl von den Tories als auch Labour vielleicht ein Spezialfall. Klar, der Brexit selbst ist natürlich eine großes Misstrauenskundgebung gegenüber der EU, wie man sie sich kaum prononcierter vorstellen kann, völlig klar. Aber der Umstand, den Sie zunächst angesprochen haben, dass Europawahlen schon seit jeher es sozusagen ideologisch intensiver führenden Wählern leichter gemacht haben, zur Wahl zu gehen, während eine saturierte Mitte dann eher nicht zur Wahl geht, und das insgesamt immer schon dazu geführt hat, dass kleinere Parteien, politisch extremere Parteien und dann im Regelfall auch EU-skeptischere Parteien dann ins EU-Parlament gewählt wurden, das ist jetzt nichts völlig Neues, das ist vielleicht in seiner Intensität stärker geworden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.