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Europawahl
Front National profitiert von den Frustrierten

Angesichts der Zustände in Frankreich sei es schockierend, aber verständlich, wenn viele Menschen den rechten Front National wählten, sagte die Schriftstellerin Gila Lustiger im Deutschlandfunk. Denn die politische Elite scheitere wirtschaftlich und erweise sich als korrupt.

Gila Lustiger im Gespräch mit Matthias Gierth | 29.05.2014
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger (dpa / Jörg Carstensen)
    Anne Raith: "Die Schuld der anderen" soll der Roman heißen, an dem die Schriftstellerin Gila Lustiger derzeit arbeitet. Im Januar kommenden Jahres soll der erscheinen. Zwei Jahre lang hat die Tochter des Historikers Arno Lustiger für ihren neuen Roman recherchiert, ist von ihrem Wohnort Paris aus in die Provinz gereist, hat mit vielen Menschen gesprochen und sich ein ziemlich gutes Bild machen können, ein ziemlich gutes Bild von dem Land, das am vergangenen Sonntagabend europaweit für eine ziemliche Bestürzung gesorgt hat: Gut 25 Prozent der Franzosen haben bei der Europawahl für den rechten Front National gestimmt, mehr als für jede andere französische Partei. Sicher, Europawahlen gelten als Protestwahlen, die Umfragen haben nichts anderes vorausgesagt, als Möglichkeit, die eigene Regierung abzustrafen. Andererseits war der Front National schon bei den Kommunalwahlen Ende März ziemlich stark. Was also erzählt uns dieses Votum über das Frankreich von heute? Wir wollen in den kommenden zehn Minuten auf Spurensuche gehen. Zuerst wollte ich von Gila Lustiger wissen, was ihr bei der ersten Hochrechnung am vergangenen Sonntagabend durch den Kopf gegangen ist.
    Gila Lustiger: Ich war erschreckt, also das ist eine fremdenfeindliche Partei, die den Austritt des Landes aus der EU und Eurozone anstrebt, xenophobisch, rassistisch, antisemitisch auch. Also ich war sehr, sehr schockiert.
    "Das ist nicht das Bürgertum, das Front National gewählt hat"
    Raith: Und auch vier Tage nach der Wahl werden die Ergebnisse ja noch analysiert und zu erklären versucht, und wir möchten heute ja auch mit Ihnen auf Spurensuche gehen. Sie leben in Paris, sind aber für Ihre Romanrecherchen durch Frankreich gereist. Was für ein Land ist Ihnen da begegnet?
    Lustiger: Ich möchte erst mal kurz darauf zu sprechen kommen, das war nämlich, was viele sich überlegt haben und analysiert haben, wer diese Front-National-Wähler eigentlich sind. 43 Prozent dieser Wähler sind ehemalige Wähler der sozialistischen und kommunistischen Partei, die sich von dieser Partei nicht mehr vertreten fühlen und die dann Front National gewählt haben. 40 Prozent sind kleinere Angestellte, und 30 Prozent verdienen den Mindestlohn. Sie sehen also, das sind sozial niedriger Gestellte. Das ist nicht das Bürgertum, das Front National gewählt hat. Aber was eigentlich noch viel wichtiger ist: In den großen Städten oder in den mittelgroßen Städten, Marseille, Toulouse und Paris vor allen Dingen, wurde Front National nicht gewählt. Da gewannen die traditionellen Parteien. Und wo sie gewählt wurden, das war außerhalb des Zentrums. Sie gehen 30 bis 40 Kilometer außerhalb der großen Zentren in die Peripherie, und da ist der Anteil manchmal über 30 Prozent.
    Raith: Haben Sie eine Erklärung dafür?
    Lustiger: Ja. Ich war vor zwei Jahren, gerade, weil ich zwei Jahre lang Recherchen für meinen neuen Roman gemacht habe, in einer dieser Stadt, die heißt Dreux, da gibt es 30 Prozent Front-National-Wähler, das ist eine ehemalige Industriestadt mit einem großen Zuzug von algerischen, muslimischen Einwanderern - aber darum geht es eigentlich nicht -, Arbeitslosigkeit, die meisten leben dort von Arbeitslosengeld, und man muss sich mal vorstellen, was das bedeutet ganz konkret für den Alltag der Leute. Ich habe da zum Beispiel mit den drei letzten Handwerkern gesprochen. Wenn Sie nämlich nur noch mit Arbeitslosengeld leben, dann leben Sie nur noch von Massenproduktion. Damit jemand seine Schuhe zum Schuster bringt, braucht man gutes Schuhwerk. Also ich habe mit dem letzten Schuster von Dreux gesprochen, ich habe mit dem letzten Fahrradreparateur von Dreux gesprochen, davor gab es neun Schuster in Dreux - und diese Leute wählen Front National. Es gibt in Dreux kein Gymnasium, drei Berufsschulen, das heißt, selbst wenn sie wollten, könnten sie es nicht hinauf schaffen. Der französische Soziologe Bourdieu spricht von den Erben, das heißt, Leute haben ökonomisches, soziales und symbolisches und kulturelles Kapital, und diese Leute haben überhaupt gar keinen Chip in ihrer Hand, die haben kein Kapital. Also sie haben weder das ökonomische Kapital, sie haben auch kein kulturelles Kapital, sie haben da überhaupt gar keine Möglichkeiten, sich zu entfalten.
    "Front National wurde von den Frustrierten gewählt"
    Raith: Und was haben die Ihnen erzählt, wie sind die denn Ihnen gegenübergetreten, also haben Sie da eine Wut gespürt, eine Resignation?
    Lustiger: Also Front National wurde von den Frustrierten gewählt, und ich würde mal sagen, in Frankreich - das kann man sich in Deutschland gar nicht vorstellen - ist die Kluft zwischen den Parisern und zum Beispiel den Leuten aus Nandy - 26 Prozent Front National, größer als die Kluft zwischen den Parisern und den Menschen aus London, Brüssel, Berlin. Verstehen Sie, was ich meine? Heute in Europa und in den großen Städten sind die Leute zusammengewachsen. Es gibt so was wie eine Weltgesellschaft, in der Wirtschaft, in der Kommunikation, in der Wissenschaft. Und diese Leute sind ausgegrenzt. Die spüren, dass sie nicht mitspielen.
    Raith: Wem oder was haben die Menschen denn die Schuld dafür gegeben oder die Verantwortung? Haben Sie da Ressentiments spüren können?
    Lustiger: Na klar. Was noch hinzugefügt werden muss, sind die ganzen Skandale der letzten Jahre. Ich weiß nicht, ob man das in Deutschland mitbekommen hat, aber in Frankreich ...
    Raith: Die politischen Skandale, meinen Sie?
    Lustiger: Korruptionsskandale. Also François Hollande, sein Wahlversprechen war ja, keine Skandale mehr, er sei Monsieur Normale, er sei einer wie alle anderen - und zwölf Monate danach hatten sie den Skandal mit dem Finanzminister Cahuzac, der den Kampf gegen die Steuerhinterziehung angesagt hat und bei dem man selber entdeckt hat, dass er Steuerhinterzieher war. Dann hatten sie Jean-Jacques Augier, das ist der Wahlkampfmanager von Hollande, bei dem man zwei Briefkastenfirmen in der Karibik - Steueroase - entdeckt hat, und davor hatten sie natürlich die Sarkozy-Skandale mit der senilen Milliardärin Bettencourt, mit dem Kosmetikkonzern L'Oréal, und die französische Chefin des Währungswirtschaftsfonds. Das Land ist gebeutelt von Skandalen. Es gibt also einen totalen Vertrauensverlust der Franzosen gegen ihre politische Elite.
    Raith: Die Konsequenz ist, dass sie sich abwenden von dieser Pariser politischen Elite hin zum Front National.
    Lustiger: Die Konsequenz ist, wenn Sie diesen Vertrauensbruch haben und dann auch noch eine ohnehin brisante Lage - 3,2 Millionen Arbeitslosigkeit ohne Besserung in Sicht -, also sie spüren diesen wirtschaftlichen Niedergang und sie denken, dass ihre Elite korrupt ist, dann kommt es zu so einer Wahl. Und ich muss auch noch hinzufügen, das ist auch noch wichtig: Ich weiß nicht, ob man in Deutschland die Rolle der "Énarques" ob man darüber informiert ist.
    Raith: Sie meinen die Kaderschmieden sozusagen, in denen alle Politiker großwerden, die ENA (École nationale d'administration, französische Verwaltungshochschule, Anm. d. Red.)
    Lustiger: Nicht nur Politiker, sondern die ganzen Wirtschaftsbosse auch. Das heißt, sie haben die ganze wirtschaftliche, politische und kulturelle Elite, die aus diesen Eliteschulen kommt, in Paris, und die Leute haben einfach das Gefühl, dass sie überhaupt keine Möglichkeit haben, aufzusteigen. Das ist auch noch ein Frustmoment für die Franzosen von unten.
    Raith: Nun hat Frankreich, Frau Lustiger, schon immer ein sehr elitäres System gepflegt, was seine politischen und wirtschaftlichen Eliten betrifft. Warum ist das jetzt ein besonderes Problem geworden?
    Lustiger: Also sie haben ein wirtschaftliches Problem, sie haben Arbeitslosigkeit, sie haben ein moralisches Problem, Korruption, und sie haben ein Land, das wirklich von einer Elite geführt wird, die aber scheitert wirtschaftlich, und die sich als korrupt entpuppt auch. Und von daher ist diese Wahl, würde ich sagen, verständlich, schockierend, aber verständlich.
    "Eliten seit Generationen unter sich"
    Raith: Das heißt, die Stärke des Front National ist in irgendeiner Weise eine logische Folge von der Schwäche der französischen Eliten?
    Lustiger: Ich würde mal sagen, von der Unfähigkeit, sich zu erneuern, das heißt, wenn die Mittelklasse und das Proletariat nicht aufsteigen können, wenn es überhaupt gar keine Möglichkeit gibt, irgendwie aufzusteigen oder seine Lebensbedingungen zu verändern, und das schon seit Jahren, seit Generationen, dann ist hier ein Problem. Also das Problem ist nicht, dass es Eliten gibt, das Problem ist nur, dass die Eliten immer, seit Generationen, unter sich bleiben.
    Raith: Und gegen dieses Nicht-Funktionieren haben die Menschen nun am vergangenen Wochenende gewählt den Front National. Haben Sie den Eindruck gehabt bei Ihren Reisen, dass sich die Menschen der gefährlichen Facetten dieser Partei, die Sie auch zu Beginn angesprochen haben, also dass sie rassistisch ist, dass sie xenophob ist, dass sie sich dieser Facetten bewusst sind, oder geht es ihnen um Protest?
    Lustiger: Natürlich sind sie sich dessen bewusst. Die Leute hassen die Elite, die Elite sitzt in Paris, die Elite ist international, um nicht zu sagen, manchmal auch kosmopolitisch. Da kommen natürlich auch sofort antisemitische Züge hoch. Viele meiner Freunde hier sind an die 1930er erinnert, das ist eine Protestwahl, aber mit allen widerlichen Untertönen der Frustrierten.
    Raith: Jetzt haben Sie uns ja eindringlich die desolate Lage beschrieben. Sind Ihnen auf Ihren Recherchereisen auch hoffnungsfrohe Momente widerfahren, also haben Sie so etwas wie einen Aufbruch gespürt irgendwo im Land?
    Lustiger: Nein. Der Aufbruch ... Das politische System muss sich erneuern. Es muss mehr neue Köpfe mit reinbekommen, es müssen Leute die Möglichkeit haben aus dem Volk mitzubestimmen, es müssen neue Leute Möglichkeit haben, in die Elite aufzusteigen. Die ganze Provinz muss vernetzt werden. Wenn Sie nur 30 Kilometer, 40 Kilometer aus Paris heraus fahren, sind Sie in einem anderen Land. Frankreich ist zentralisiert. Sie haben eine Hauptstadt, die kosmopolitisch ist, die vernetzt ist, die reich ist, dann haben Sie vier andere Städte und dann haben Sie nichts mehr.
    Raith: Was glauben Sie denn, wie es nun weitergeht nach dieser Wahl?
    Lustiger: Ich glaube, dass die Elite unfähig ist, sich zu erneuern.
    Raith: Das war also kein Warnschuss?
    Lustiger: Warnschuss schon, aber ich meine, ...
    Raith: Keiner, der gehört wird.
    Lustiger: Ja, sie müsste ihre Privilegien aufgeben, sie müsste lüften, sie müsste Selbstkritik üben, und ich sehe das momentan nicht.
    Raith: Frankreich nach der Europawahl, die Schriftstellerin Gila Lustiger war das im Gespräch mit dem Deutschlandfunk. Zwei Jahre lang hat sie das Land für ihren neuen Roman bereist, "Die Schuld der anderen" soll der heißen und im Januar kommenden Jahres erscheinen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.