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Europawahl-Kampagne
Das EU-Parlament geht in die Offensive

Bürger als Kampagnenhelfer, spezielle Internetangebote und Informationen für Journalisten: Mit der größten eigenen Wahlkampagne seiner Geschichte will das EU-Parlament die Menschen an die Europawahl-Urnen bringen. Es ist ein Balanceakt zwischen sachlicher Information und PR - und daher umstritten.

Von Mirjam Stöckel | 12.12.2018
    Ein Wähler gibt seinen Stimmzettel für die Europawahl ab
    Werbung in eigener Sache: Das EU-Parlament ruft zur Beteiligung an der Europawahl 2019 auf (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    Bohnentopf, Hähnchen mit Pommes oder Kalbfleisch mit Soße und Kartoffeln: In der Mensa-Eingangshalle der Universität Karlsruhe drängeln sich um die Mittagszeit die jungen Leute. An einem Infostand direkt neben der Eingangstür hört ein Student aufmerksam Maximiliane Eckhardt zu: "Wir fahren hier grade an Unis in ganz Deutschland und informieren kurz darüber, dass die Wahl generell ist und dass auch jüngere Leute ein Wahlrecht oder alle EU-Bürger ein Wahlrecht haben."
    Crashkurs "EU-Politik für Anfänger"
    Maximiliane Eckhardt, 27, trägt Pferdeschwanz, Jeans und einen dunkelblauen Kapuzenpulli mit dem EU-Logo - dem Kreis aus 12 gelben Sternen. "Europawahl, Sonntag, 26. Mai 2019" steht groß auf den Bannern und Plakaten hinter ihr. "Man hat eine Stimme, die man einer Partei dann geben kann. Und man wählt hier in Deutschland eben die deutschen Parteien: CDU, SPD, Grüne, Linke - die man eben kennt. Und die schließen sich dann im Europäischen Parlament mit den Vertretern aus anderen Ländern zusammen, die eine ähnliche politische Agenda haben", erklärt Eckhardt.
    Infostand zur Europawahl-Kampagne des EU-Parlaments
    Infostand zur Europawahl-Kampagne des EU-Parlaments (Deutschlandradio / Mirjam Stöckel)
    Ein Crashkurs "EU-Politik für Anfänger" von jungen Leuten für junge Leute: Die Uni-Tour, die auch in Karlsruhe Station machte, will Erst- und Zweitwähler erreichen - möglichst niederschwellig. Sie ist ein kleiner Teil der groß angelegten institutionellen Wahlkampagne des EU-Parlaments mit dem Titel "Diesmal wähle ich". Also jener Kampagne, die das Europaparlament als Einrichtung selbst organisiert.
    Politisch sei diese Kampagne neutral, betont Jaume Duch, Sprecher des Parlaments: "Wir fühlen uns verantwortlich, den Bürgern genügend Informationen zur Verfügung zu stellen - erstens zur Bedeutung der Wahl, zweitens zur Rolle des Europaparlaments und dann zu den Gründen, warum sie wählen gehen sollten."
    Die Europawahl in die Köpfe der Menschen bringen
    Der Spanier Duch - grauer Anzug, dunkle Haare und Augen, hohe Stirn - sitzt in seinem aufgeräumten Büro im Straßburger Europaparlament. 56 ist er - und exakt sein halbes Leben lang Parlamentsbeamter. Inzwischen sogar Chef der gesamten Kommunikationsabteilung. Duch und sein Team haben die Kampagnenstrategie und Hunderte Maßnahmen, Aktionen und Veranstaltungen ersonnen. Manche zentral für ganz Europa - wie der TV-Werbespot, den möglichst viele Sender ausstrahlen sollen. Vieles aber stemmen die Parlaments-Vertretungsbüros in den Mitgliedsstaaten, auch mit externen Auftragnehmern. Teile der Kampagne laufen schon seit Juni, andere beginnen kurz vor den Wahlen im kommenden Mai.
    Vor fünf Jahren lag die Wahlbeteiligung europaweit bei historisch niedrigen 42,6 Prozent. In Deutschland etwa fünf Punkte darüber. Schlusslicht waren die Slowaken mit gerade mal 13 Prozent. Diese Zahlen machen viele im Europaparlament nervös - Verwaltungsbeamte wie Duch, Abgeordnete und Mitarbeiter gleichermaßen. Wie lässt sich die Europawahl in die Köpfe möglichst vieler Menschen bringen – und bestenfalls die Wahlbeteiligung steigern? Duchs Antwort lautet: durch mehr parlamentseigene Aufklärungsarbeit - sprich: seine Kampagne.
    Zuschauer warten in Brüssel vor einer Videoleinwand, die Bilder aus dem Europäischen Parlament überträgt, auf die Ergebnisse der Europa-Wahl 2014. 
    Bei der Europa-Wahl 2014 sackte die Wahlbeteiligung auf das historische Tief von 42,6 Prozent (picture alliance / dpa / Olivier Hoslet)
    Fachleute von außerhalb sehen das ähnlich, etwa Nicolai von Ondarza, Leiter der Forschungsgruppe EU bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik: "Das Parlament hat so eine Kampagne aus meiner Sicht nötig, weil das Wissen darüber, wie das Parlament funktioniert und welche Rechte das europäische Parlament eigentlich hat, noch sehr, sehr begrenzt ist. Und das bedeutet für viele Bürger, dass sie sich vor der Wahl eigentlich erst mal informieren müssen, worüber stimme ich eigentlich ab? Und deswegen halte ich es auch für gerechtfertigt, dass das Europäische Parlament als Institution so eine Informationskampagne startet."
    Kontakt mit fast 500 Millionen Menschen aufnehmen
    Die Parlamentskampagne fügt sich ein in viele Kommunikationsanstrengungen der europäischen Institutionen seit Mitte der 2000er Jahre. So soll die EU ihren Bürgern näher kommen. Und eine länderübergreifende, europäische Öffentlichkeit für wichtige Themen entstehen. Bis heute ist dieses Ziel aber nicht erreicht. Gerade Journalisten verlangen von den Institutionen schnellere und sachliche Informationen – statt PR in eigener Sache.
    Viele in Straßburg und Brüssel sind der Ansicht, dass die Wahl im Mai 2019 darüber entscheiden wird, wohin Europa steuert. Rücken die Europäer nach dem Ausscheiden der Briten vielleicht enger zusammen? Wie stark schneiden EU-Skeptiker, Nationalisten und Populisten ab? Hält Europa an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie fest – oder setzen sich autoritäre Tendenzen durch? Bei dieser Richtungswahl zähle jede Stimme, sagt dann auch Jaume Duch: "Unser Ziel ist, Kontakt mit fast 500 Millionen Menschen aufzunehmen. Wir mussten diese Kampagne so konzipieren, dass uns dabei geholfen werden kann – denn 500 Millionen Menschen zu erreichen, das kann keine Institution alleine schaffen."
    Helfen sollen zunächst einmal Journalisten und ihre Berichterstattung. Zumindest hofft Jaume Duch das: "Die Massenmedien: Radio, Fernsehen, Online – alle Medien. Denn das ist ja der übliche Weg für viele Menschen, sich zu informieren. Nicht alle Bürger wollen direkten Kontakt zu einer EU-Institution wie dem Europaparlament. Sie lassen sich lieber von den Informationsprofis informieren, also den Medien." Und darum will die Parlamentsverwaltung ihre Journalistenkontakte bis zur Wahl besonders intensiv pflegen – so steht es in einem internen Strategiepapier, das dem Deutschlandfunk vorliegt. Etwa mit Recherchestipendien, Seminaren und Redaktionsbesuchen in allen Mitgliedsstaaten.
    Graswurzelbewegung in Gang bringen
    Erstmals spannt das EU-Parlament auch normale Bürger als Kampagnenhelfer ein. Das ist ein neuer Ansatz, abgeschaut aus den USA und Frankreich. Die Freiwilligen sollen mit Bekannten und Verwandten das Gespräch über Europathemen und die Wahl suchen - Stichwort Glaubwürdigkeitsvorsprung. Dabei hilft ihnen eine Info- und Vernetzungsplattform im Internet.
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    Überzeugungsarbeit: Maximiliane Eckhardt wirbt an der Universität Karlsruhe für die Europawahl (Deutschlandradio / Mirjam Stöckel)
    Auf die macht Maximiliane Eckhardt am Uni-Tour-Stand gerade vier Erstsemester-Studenten aufmerksam: "Schaut mal auf dieser Website vorbei – www.diesmalwähleich.eu. Die wurde eingerichtet vor allem für jüngere Leute. Da findet man Infos, da kann man sich registrieren, falls man über bestimmte Themen mehr erfahren möchte. Falls ihr Lust habt, könnt ihr uns heute schon eure Mailadresse da lassen. Dann bekommt ihr eine einmalige Erinnerungsmail vom Parlament, sonst noch nix. Genau."
    Die Studenten sind interessiert: "Wo kann man seine Email da lassen?" Über 100.000 Europäer haben sich bei diesmalwähleich.eu schon registriert. Hier gibt es einen europaweiten Terminkalender mit Wahlveranstaltungen - und Kampagnenhelfer finden Informationen zur EU und dem Parlament als Gesprächsstoff. Damit trägt jeder Freiwillige das Thema Europawahl etwas weiter ins öffentliche Bewusstsein. Geht dieses Kalkül auf, entsteht eine Graswurzelbewegung. Keine Kampagne von oben für die Bürger, sondern eine von Bürgern und mit Bürgern.
    "Europa kann ein bisschen Unterstützung brauchen"
    Im Stuttgarter Europahaus tauschen gut zwei Dutzend EU-Freunde Ideen aus, wie man Leute zur Wahl bringt. Alle wollen bei "Diesmal wähle ich" mitmachen: "Ich bin Linda, ich wohne seit sechs Jahren in Tübingen, komme eigentlich aus Dresden. Bin über Instagram auf die Kampagne aufmerksam geworden und will mich gerne engagieren und den Tag heute nutzen um zu schauen, was da so geht." - "Ich bin Danielle, komme aus Mainz. Bin, soweit ich mich erinnern kann, beim Stöbern auf Google und den Europaseiten auf die Kampagne aufmerksam geworden. Ich glaube, Europa kann ein bisschen Unterstützung brauchen."
    Die Atmosphäre ist locker, die Leute duzen sich - gemeinsame EU-Sympathie verbindet. Eingeladen zu diesem Kickoff-Event hat Tobias Winkler. Er leitet die Außenstelle des EU-Parlaments in München. Gerade berichtet ihm Danielle, wie sie Menschen zur Stimmabgabe bringen will: "Für mich persönlich jetzt würde ich auch an die Uni herantreten, versuchen, da Leute zu aktivieren, die das dann vielleicht auch alleine weitermachen, oder Unizeitschrift. Vielleicht in der Stadt einen Stand machen, Mitstreiter suchen, vielleicht auch ein Kickoff-Event, wäre ich auch bereit zu organisieren."

    "Super! Also wie gesagt - wenn du eine Kickoff-Event in Mainz machen willst, das wäre auch großartig. Wir haben es auch schon in Bars gehabt, in Cafés gehabt - nachmittags, abends, auch mal ein Sonntag früh - weil die gesagt haben: Da hat doch eigentlich jeder Zeit, nach der Kirche. Oder in vielen Städten wird auch nicht mehr in die Kirche gegangen, da ist dann vielleicht noch mehr Zeit. Das könnt ihr dann frei auswählen und wir unterstützen euch nach Kräften."
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    Ideenaustausch zur Europawahl-Kampagne im Stuttgarter Europahaus: "Ein Kickoff-Event wäre großartig." (Deutschlandradio / Mirjam Stöckel)
    Wahlkampf-Budget fast verdoppelt
    2009 und 2014 wurden die Wahlkampagnen von einer Werbe-Agentur organisiert – einheitlich für ganz Europa. Kosten: jeweils 18 Millionen Euro. Die Inanspruchnahme einer externen Kommunikationsagentur habe 2014 zu einer Reihe von Verzögerungen und einem suboptimalen Ergebnis geführt, so wird der oberste Verwaltungschef des Parlaments in einem Sitzungsprotokoll zitiert, das dem Deutschlandfunk vorliegt. Aus diesem Grund organisiert die Parlamentsverwaltung die Kampagne nun erstmals selbst.

    Inhaltlich verantwortlich ist jedoch nicht die Verwaltung, sondern das Präsidium des Parlaments, 15 stimmberechtigte Mitglieder, gewählt aus dem Kreis aller 751 Abgeordneten. Darunter Evelyne Gebhardt, SPD-Abgeordnete und gebürtige Französin: "Wir sind ja das politische Entscheidungsgremium. Wir sagen der Verwaltung, was wir wollen und wir entscheiden letztlich, was gemacht wird und was nicht gemacht wird." Gebhards sozialdemokratische S&D-Fraktion hat – wie die konservative EVP – fünf von 15 Stimmen im Präsidium. Also besonders viel Einfluss. Die institutionelle Wahlkampagne hat die Handschrift dieser beiden größten Parlamentsfraktionen – und deren breiten politischen Rückhalt. So kam auch das Budget durchs Plenum: 33 Millionen Euro, fast doppelt so viel wie bisher.
    Aber die Aufstockung sei nötig, sagt Evelyne Gebhard: "Wir haben festgestellt, dass durch diese ganzen Umwälzungen auch in der digitalen Welt mit den sozialen Medien, die aufkamen, mit den Fakenews, die immer stärker uns beschäftigen müssen, dass wir da in die Offensive gehen müssen. Bisher sind wir immer ein bisschen in der Defensive geblieben, was unsere Kampagnenarbeit angeht. Und wir haben beschlossen, wir gehen jetzt in die Offensive."
    Kritik an "neutraler Info-Kampagne"
    Doch das passt gerade Abgeordneten kleinerer Fraktionen nicht. Etwa dem Niederländer Bas Eickhout, Spitzenkandidat der Grünen für die Europawahl: "Die beiden großen Fraktionen fühlen sich natürlich bedroht durch die aktuelle politische Entwicklung: Sie verlieren an Boden. Das sehen wir in allen Ländern, auch in Deutschland. Da versuchen sie jetzt, für die Institution einzustehen, die sie aufgebaut haben."
    Doch eine neutrale Info-Kampagne sei der falsche Weg, Wähler an die Urnen zu holen, findet Eickhout. Dafür brauche es die leidenschaftliche Auseinandersetzung um Inhalte: "Das hier ist eine politische Bühne, ein politisches Haus. Ich denke, wir sollten die politische Uneinigkeit, die politischen Unterschiede in den Fraktionen aufzeigen. Dann kann ein Wähler sagen: Okay, ich stimme den Linken zu oder den Rechten oder den Grünen. Darum muss die Debatte gehen. Dazu ist ein politischer Wahlkampf nötig, der von den politischen Parteien geführt wird. Die Institution als solche sollte sich da einfach raushalten."
    Bei Abgeordneten, die die EU in ihrer Verfasstheit und Funktionsweise grundsätzlich ablehnen, stößt die Kampagne erst recht auf Kritik. Peter Lundgren von der EU-kritischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer bemängelt: Die Parlamentsmitarbeiter kommunizierten voreingenommen: "Natürlich versuchen sie, die Wähler zu beeinflussen – nämlich damit, was sie selbst für so gut und so großartig an der europäischen Zusammenarbeit halten. Nachteile, negative Aspekte werden sie mit keinem Wort erwähnen. Es ist also eine sehr, sehr einseitige Kommunikation nur über die guten Seiten der EU, und gar nicht über die schlechten."
    Zwischen sachlicher Information und PR
    Präsidiumsmitglied Evelyne Gebhardt hält dagegen: "Es ist eine Kampagne, die widerspiegelt die Mehrheiten des Europaparlaments. Das betone ich noch einmal. Die Skeptiker, die Antieuropäer, die sagen natürlich, das sei nicht neutral. Aber wir haben den Auftrag, die Mehrheitsmeinung dieses europäischen Parlaments zu vertreten. Und die Mehrheitsmeinung in diesem Parlament ist klar eine pro-europäische Mehrheit." Diese Haltung zieht sich durch die Kampagne. So steht im Strategiepapier, die Öffentlichkeitsarbeit solle sich auf die - Zitat - "Errungenschaften des Parlaments und der EU in den vergangenen Jahren fokussieren."
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    Europaabgeordnete Evelyne Gebhardt: Kampagne spiegelt die Mehrheiten des Europaparlaments wieder (dpa/Marijan Murat)
    Auch Einzelmaßnahmen der Kampagne rücken die Europäische Union bewusst in ein positives Licht: die Internetseite www.whateuropedoesforme.eu beispielsweise. Sie stellt rund 1800 EU-Projekte und Vorschriften vor, von denen die Europäer profitieren: Breitband-Internet im ländlichen Spanien, Wirtschaftsförderung in Nordschweden und Mutterschutz-Mindeststandards für alle Frauen etwa. So erzählt liest sich die EU wie eine einzige große Erfolgsgeschichte. Kapitel, die anderes erzählen würden - etwa vom schwierigen Ablösungsprozess Großbritanniens oder der völligen Zerrissenheit der Europäer in der Flüchtlingsfrage - fehlen weitgehend.
    Bei der Unitour in Karlsruhe drückt Maximiliane Eckhardt einem Studenten höheren Semesters einen Flyer in die Hand, gespickt mit Fakten zur Wahl. Vor ihr auf dem Infostand liegen aber auch weniger sachliche Broschüren. Die Titel: "60 Gründe für die EU" und "10 Gründe für Europa". – Eckhardt: "Klar, wir zeichnen mit dieser Kampagne und mit der Aufforderung zur Wahl natürlich ein positives Bild der Union. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch im Gespräch kritische Themen diskutieren oder die besprechen." Am Stand in der Karlsruher Mensa wird deutlich: Die Kampagne ist eine Gratwanderung zwischen sachlicher Information und PR in eigener Sache - mit dem Risiko der Schönfärberei. Und Schönfärberei macht bekanntlich unglaubwürdig.
    Wahlbeteiligung unter allen Umständen erhöhen
    Das sieht auch Helmut Scholz so, EU-Abgeordneter für die Linke. "Ich halte es nicht für gut, dass man nur diese pro-europäischen, diese positiv pro-europäischen Sichtweisen da einbringt." Die Kampagne dürfe Kritik und Vorbehalte der Menschen gegenüber der EU und ihren Institutionen nicht ausblenden, sagt Scholz. Um skeptische Bürger zurückzugewinnen, reichten reine Parlaments-Erfolgsgeschichten einfach nicht aus. "Sondern ich muss auch deutlich machen, wo haben wir denn Niederlagen erlitten. Wo haben wir denn keine sozusagen für die Bürger wirklich wahrnehmbaren Entscheidungen treffen können. Und warum haben wir sie nicht treffen können. Und wer ist dran schuld, dass diese Entscheidungen nicht vorgenommen wurden."

    Andere Kritiker bemängeln, dass sich die Kampagne gezielt an bestimmte Bevölkerungsgruppen richtet: junge Leute, insbesondere Studenten, sowie Manager, Lehrer und andere sogenannte Meinungsführer. Diese Gruppen bewerten die EU und das Parlament in Umfragen meist positiv, gingen aber oft nicht wählen, heißt es zur Begründung im Strategiepapier.
    Helmut Scholz, Europaabgeordneter der Linkspartei
    Sieht die Kampagne des EU-Parlaments kritisch: Helmut Scholz von der Linkspartei (Imago / Viktor Dabkowski)
    Gerade extreme Parteien mobilisierten ihre Wähler besonders gut, sagt Paul Butcher von der Brüsseler Denkfabrik European Policy Centre. Und verteidigt den Fokus des Parlaments auf EU-freundliche Wähler: "Wenn es darum geht, die Wahlbeteiligung unter allen Umständen zu erhöhen, macht es Sinn, die Anstrengungen auf diese Gruppe zu bündeln. Wenn unter den Leuten, die wählen gehen, überproportional viele EU-Skeptiker sind, führt das ansonsten zu einem Ergebnis, das nicht repräsentativ ist für die Bevölkerung der EU. Und das kann der Legitimation des Parlaments schaden."
    "Es ist eine sehr, sehr mutige Geschichte"
    Das Netzwerken der EU-Freunde im Stuttgarter Europahaus ist derweil zu Ende. Tobias Winkler von der Münchner Außenstelle des EU-Parlaments ist zufrieden, gibt aber offen zu: Die Parlamentskampagne mit ihrer Graswurzelbewegung ist ein Wagnis. "Es ist eine sehr, sehr mutige Geschichte. Wenn wir mit Vertretern vom Bundestag oder vom Landtag sprechen, schauen die uns mit großen Augen an und sagen: Das traut ihr euch als Institution? Aber ihr wisst doch nicht, kommen da vielleicht stark rechte oder stark linke Parteien, die das Ganze kapern wollen? Kommen da Fakenews rein oder kommen dort irgendwelche Störungen? Wir wissen es nicht - aber wir riskieren es."
    Dem Kampagnenteam des Parlaments bleiben bis zur Wahl noch gut fünf Monate. Erst dann lässt sich sagen, ob der Balanceakt zwischen neutraler Sachinformation und PR in eigener Sache gelungen ist. Ob sich der Mut zum Risiko auszahlt - und die Kampagne dazu beiträgt, wieder mehr Europäer an die Wahlurnen zu bringen.