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Europawahlkampf
Das ungleiche Duell

Am 25. Mai ist Europawahl. Die Spitzenkandidaten der Parteien absolvieren bis zur Abstimmung ein hartes Programm. Im Wahlkampf reiht sich ein Termin an den anderen. Und das Werben um die Wählergunst beschränkt sich nicht nur auf Deutschland. Die Kandidaten sind auch in anderen europäischen Ländern unterwegs.

Von Frank Capellan und Stephan Detjen | 15.05.2014
    Ein Mann wirft Stimmzettel für die Europa- und Kommunalwahl in eine Urne
    Die Bürger können zweimal abstimmen: Für die Europa- und die Kommunalwahl (dpa/picture alliance/Bernd Wüstneck)
    Ein herzhaftes Gähnen kann sich Martin Schulz nicht verkneifen, als er in den Sitz der kleinen Propellermaschine fällt. Wahlkampf europaweit - das schlaucht! Gerade noch hat er an der Seite von SPD-Chef Gabriel der Hauptstadtpresse erklärt, warum er der richtige Mann an der Spitze der EU-Kommission wäre, nun fliegt er von Schönefeld nach Mainz. Dann Kaiserslautern und Saarbrücken, morgen Lissabon. 150 Orte will er bis zum 25. Mai besucht haben. Er nimmt es mit Humor. Mit Schulz gibt es trotz des kleinen Gähnanfalls viel Heiterkeit im Flieger: "Es könnte sein, dass ich kurz nach dem Start in einen komatösen Tiefschlaf verfalle, aus dem ich mich nicht wecken lassen."
    "Ja, können Sie mal kurz sagen - bevor das passiert - was tun sie sich eigentlich an? Terminlich? Dichter geht´s gar nicht, oder?"
    Schulz: "Nee, wenn man einen europaweiten Wahlkampf führen will, und das wollen wir ja, dann muss man ihn auch führen. Wir versuchen die Wahlkampagne zu europäisieren. Dabei ist natürlich immer noch ein Schwerpunkt auf Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen. Es ist in den letzten sechs Wochen jetzt schon ein irres Programm gewesen, aber es ist auch eine spannende Sache!"
    Aus der komatösen Pause wird nichts. Nicht nur, weil ihn neugierige Journalisten um den Schlaf bringen. Schulz muss noch mal sein Redemanuskript durcharbeiten. Er ist ein von Europa Besessener. Als 24-Stunden-Europäer wurde er einmal beschrieben. So einer schläft nicht. Schon gar nicht kurz vor einer Wahl, die den Politiker aus einfachen Verhältnissen ganz nach oben katapultieren könnte.
    Herzlicher Empfang in Mainz
    "Herzlich willkommen, Martin Schulz, du bist der Richtige, ich weiß das, herzlich willkommen hier in Rheinland-Pfalz!" Überaus freundlich ist der Empfang im kurfürstlichen Schloss zu Mainz. Betriebsräte, Gewerkschafter, Genossen. Eigentlich sind sie hier alle auf Linie. Deren Stimmen sind dem Sozialdemokrat sicher. Aber sie sind wichtige Multiplikatoren, die in den Unternehmen für die SPD werben können. Heute jubeln sie ihrem Spitzenkandidaten zu, wenn er Banken brandmarkt, die sich billiges Geld leihen und damit schon wieder zu spekulieren beginnen, wenn er die hohe Jugendarbeitslosigkeit geißelt und ankündigt, für ein sozialeres Europa zu kämpfen. "Wenn ich Kommissionspräsident werde, dann gilt ein Grundsatz: Die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen, dieser Skandal, muss in Europa abgeschafft werden. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort für Männer und Frauen", sagt Schulz.
    "Wenn ich Kommissionspräsident werde..." Mit diesem Satz beginnt der 58-Jährige in diesen Tagen so manche Wahlkampfrede. Zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder ein Sozialdemokrat an der Spitze Europas. Davon träumen die Genossen. Der Rheinländer ist Spitzenkandidat aller Sozialdemokraten und Sozialisten Europas. Sie liegen gleichauf mit den Konservativen, die mit dem Luxemburger Jean-Claude Juncker ins Rennen gehen. In Berlin regiert Sigmar Gabriel mit dessen Parteienfamilie, in Brüssel attackiert der Vizekanzler den Kandidaten seiner Regierungschefin. Und macht das gerne an der Steuerpolitik fest. Gabriel "Jeder Bäckermeister zahlt höhere Steuersätze als Google und Amazon. Das ist ein Riesenskandal. Auch da steht Jean Claude Juncker für das genaue Gegenteil. Er hat Steuerdumping zum Geschäftsmodell in Europa gemacht."
    Schulz gegen Juncker
    Schulz gegen Juncker. Die Person ist Programm. Ein ehemaliger Regierungschef gegen einen gelernten Buchhändler, der es mit viel Fleiß und Zielstrebigkeit an die Spitze des Europäischen Parlamentes gebracht hat. "Er ist wirklich ein brillanter Kopf, er passt wirklich auf diese Ebene durch seine Vielsprachigkeit und seine Art, mit dem Parlament zu kommunizieren", lobt ihn Kurt Beck, Ex-Ministerpräsident und Ex-SPD-Chef. Einer, dem auch immer wieder vorgehalten wurde, ein Provinzpolitiker zu sein.
    Wortgewandt begrüßt Martin Schulz französische Anhänger. Dann spricht er natürlich noch fließend Englisch, aber auch Italienisch und Niederländisch. Seit 20 Jahren sitzt er im Europäischen Parlament. Dass er in einfachen Verhältnissen in Würselen bei Aachen aufgewachsen ist, das macht er längst zu einer Aussage "Ich will, dass die Menschen wissen: An der Spitze der EU-Kommission steht einer, der vielleicht nicht - das wirft man mir ja oft vor - Regierungserfahrung hat, habe ich nicht! Ich war nur ein kleiner Bürgermeister in einer nordrhein-westfälischen Stadt, der aber doch gelernt hat, dass Politik kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel zum Zweck, das Leben der einfachen Menschen, die mit 1.000 Euro kalkulieren müssen, zu verbessern, jeden Tag. Wenn die wissen, an der Spitze der EU-Kommission steht einer, der weiß, wie unser Leben aussieht und sich Mühe gibt, unser Leben zu verbessern, dann kriegen wir die europäische Idee verteidigt, gerettet und verbessert!"
    Schulz wollte Profifußballer werden
    Bodenständig, und als einer der sagt, was er denkt, so gibt sich Martin Schulz gerne. Profifußballer wollte er eigentlich werden, dafür hat er sogar aufs Abitur verzichtet. Talent hatte er, aber das Knie spielte irgendwann nicht mehr mit. Der Frust war groß. Schulz begann zu trinken. Die Buchhändlerlehre schloss er ab, doch die Alkoholsucht kostete ihn den Job. Sein Bruder, ein Arzt, hilft ihm damals, sie zu überwinden. Danach wird die Politik zu seinem Leben, die Leidenschaft für den Fußball aber ist bis heute geblieben.
    Betzenberg, Kaiserslautern, Fritz-Walter-Stadion. Er darf noch einmal aufs Tor schießen. Er verwandelt nicht. Egal: Es ist eine kleine Verschnaufpause mitten im Wahlkampf, ein ganz persönlicher Wunsch geht in Erfüllung: Martin Schulz trifft Horst Eckel, 82 Jahre alt, Mitglied der legendären Weltmeister-Elf von 1954. Fachsimpeln mit einem Idol: "Das sieht man schon, dass eine ungeheure Kraft in der Mannschaft war, ungeheure Moral!" "Und Kameradschaft!" "Kameradschaft! War das wirklich so, war das so eine eingeschworene Truppe?" "Ja, das war wirklich so!" "Also ist kein Mythos, der hinterher entstanden ist? "Nein, nein." Der Zusammenhalt im Fußball hat ihn immer fasziniert. Da zieht Martin Schulz Parallelen zur Politik. Seine Mannschaft ist die SPD. "Die steht geschlossen hinter mir", meint der Spitzenkandidat und zeigt sich bescheiden: "Das habe ich im Fußball gelernt: Du brauchst manchmal eine Primaballerina, aber entscheidend ist die Mannschaft. Nicht der einzelne Spieler!"
    SPD kämpft für Schulz
    Seine Sozis kämpfen für ihn. Nur manchmal stellen sie ihn vorsichtig auf die Probe. In Saarbrücken sind es die Jusos, die ihn am Glücksrad drehen lassen: "Krieg ich dann eine Frage gestellt? Ja genau! Das sind die Jugendarbeitslosigkeitsquoten in Europa. Blamiert mich nicht!"
    Viele EU-Länder fliegen vorbei, das Rad hält bei Europa. Wie hoch ist die Quote europaweit? "Ich würde mal sagen zwischen 15 und 20 Prozent." "23,9 Prozent" Schulz: "Schlecht, hätte ich mal gesagt zwischen 20 und 25 Prozent. Nochmal: Weil der Deutschlandfunk ist ja dabei, der hat mich schon dabei beobachtet, wie ich auf dem Betzenberg keinen Elfmeter verwandelt habe." Also darf er noch mal am großen Rad drehen. Diesmal gilt es, die Jugendarbeitslosenquote von Kroatien zu benennen: "Kroatien hat mit die höchste Jugendarbeitslosigkeit in Europa. Um die 50 Prozent. Richtig: 49,2 Prozent." Die jungen Leute hier kann er begeistern. Die größte Gefahr sieht er allerdings darin, dass wieder zu viele SPD-Anhänger zu Hause bleiben könnten. Eindringlich die Mahnung bei seinen Wahlkampfreden "Die Schwarzen gehen wählen. Das machen die: Frühstück. Kirche. Wahllokal. Und bei uns ist es: Ausschlafen. Ausflug. Nicht wählen. Und die, die mir am meisten auf die Socken gehen, das sind die, die nicht wählen gehen und sich anschließend über das nicht soziale Europa beschweren. Ich kann Europa nicht sozialer machen, wenn die Sozialdemokraten nicht wählen gehen!"
    Europawahl soll darüber entscheiden, wer Präsident der Europäische Kommission wird
    Die Tatsache, dass erstmals eine Europawahl darüber entscheiden soll, wer Präsident der Europäischen Kommission wird, soll mobilisieren. Dabei ist nicht einmal ausgemacht, ob sich die Staats- und Regierungschefs am Ende wirklich an das Votum des 25. Mai gebunden fühlen. Deshalb warnt SPD-Chef Sigmar Gabriel schon mal: "Was nicht geht, ist, dass die größte Volksverdummungsaktion in der Geschichte der Europäischen Union stattfindet, nämlich Spitzenkandidaten aufzustellen in allen Parteifamilien, und hinterher wen anders zu wählen. Das wäre ein Akt, der das ohnehin labile Vertrauen zur europäischen Demokratie weiter massiv zerstören würde."
    Eine klare Ansage des deutschen Vizekanzlers an seine Chefin Angela Merkel. Die CDU-Vorsitzende soll sich bloß an das Agreement halten, wonach die Mehrheitsverhältnisse im neuen Europäischen Parlament darüber entscheiden werden, wer künftig die Kommission führen wird. Dem sozialdemokratischen Anwärter auf dieses Amt begegnen die Deutschen erst einmal überlebensgroß überall in der Republik. Die CDU plakatiert Merkel, die SPD setzt auf Schulz. Als der in der Congresshalle von Saarbrücken begrüßt wird, kann sich Heiko Maas, SPD-Landeschef und Bundesjustizminister, eine Spitze gegen den Koalitionspartner in Berlin nicht verkneifen: "Andere hängen ja Leute auf, die gar nicht zur Wahl stehen. Wir müssen unsere Kandidaten nicht verbergen, ganz im Gegenteil. Wir stellen ihn heraus, weil wir schon lange stolz auf ihn sind, lieber Martin!"
    CDU setzt auf Merkels Popularität
    In der Tat setzt die Union auch bei dieser Europawahl ganz auf die Popularität der Kanzlerin. Auf europäischer Ebene hat sich Angela Merkel erst nach langem Zögern der Mehrheit ihrer Partner in der Europäischen Volkspartei, dem Verbund der christlich-konservativen Parteien, angeschlossen und den ehemaligen luxemburgischen Premierminister Jean Claude Juncker als gemeinsamen Spitzenkandidaten ins Feld geschickt. Im deutschen Wahlkampf aber darf Juncker allenfalls eine Nebenrolle spielen. Nur vereinzelt wird der Luxemburger zu öffentlichen Auftritten gerufen, so wie neulich in Düsseldorf, als es darum, ging die deutsche Presse auf das Fernsehduell Schulz gegen Juncker einzustimmen. Auf Wahlplakaten der CDU ist Juncker gar nicht zu sehen. Der nimmt es gelassen "Ich hab mich nicht einzumischen in die Wahlkampfstrategie der nationalen Parteien. Von mir hängt auch kein Bild in Luxemburg. Meine Partei hat entschieden, dass ich in Luxemburg - wie man das salopp formuliert - nicht geklebt werde. Herr Schulz hängt auch nicht in Südfrankreich und Lettland. Es findet nicht nur Wahlkampf in Deutschland statt. Es ist eine etwas deutschlandzentrierte Begutachtung des Wahlkampfes."
    Auch Juncker präsentiert sich bei seinen Auftritten stets als Bewerber um das Amt des künftigen Kommissionspräsidenten. Niemand aber weiß so gut wie Juncker, der so lange wie kein anderer an den nächtlichen Pokerrunden um Posten und Positionen in Brüssel teilgenommen hat, dass noch längst nicht ausgemacht ist, wie die Nachfolge von Jose Manuel Barroso als Chef der EU-Kommission am Ende entschieden wird. Lassen sich die Staats- und Regierungschefs die Entscheidung über den mächtigsten Posten in Brüssel tatsächlich vom Parlament aus der Hand nehmen? Jean Claude Juncker warnt mit gutem Grund davor, dass die Europawahl der Auftakt zu einem nie dagewesenen Machtkampf zwischen Parlament und Rat werden könnte: "Europa braucht jetzt alles aber keine Konflikte zwischen Parlament und Rat. Wenn das nachher anders käme, dann stelle ich mir die Frage, ob die Menschen, die schon nicht in Massen zur den Urnen schreiten, wenn es um Europawahlen geht, nächstes Mal 2019 überhaupt noch zur Europawahl gehen."
    Keine Volksentscheidung über die europäische Exekutive
    Doch die Unionsparteien in Deutschland scheuen es, die Wahl am 25. Mai zu einer neuartigen Volksentscheidung über die Spitze der europäischen Exekutive zu machen. Neben dem europäischen Spitzenkandidaten haben die Schwesterparteien nämlich den ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten David McAllister als nationalen Spitzenkandidaten der CDU und für die CSU Markus Ferber als Frontmann in Bayern nominiert. Anders als die SPD tritt die Union auch bei der Europawahl mit Landeslisten an, so dass es auch in jedem Bundesland einen Spitzenkandidaten gibt. Eine Schar von nicht weniger als 17 Spitzenkandidaten. In der Wirklichkeit des Wahlkampfes aber laufen Kampagne und Inszenierung der Veranstaltungen nur auf eine heraus: "Angie is coming, Angie is coming."
    Orstermin im brandenburgischen Wittenberge in der Prignitz. Knapp 1.000 Menschen haben sich auf einem zugigen Platz vor der Wahlkampfbühne der CDU versammelt. Eine Band zählt die Minuten bis zum Auftritt der Kanzlerin herunter. Ein Heimspiel für Angela Merkel, die nach der Übersiedlung ihrer Eltern aus Hamburg ihre ersten Lebensjahre nicht weit von hier verbrachte. Ein Passant: "Heute geht es um Merkel, um Angela Merkel, die verehre ich sehr, die macht das gut." Der Altersdurchschnitt der Besucher dürfte bei weit über 70 Jahren liegen. Die Stadt an der Elbe hat seit der Wiedervereinigung mehr als die Hälfte seiner Einwohner verloren. Dass mit der Kanzlerin noch einer nach Wittenberge kommt, haben die gut gelaunten Senioren eher am Rande wahrgenommen. Der Name McAllister aber ist in Erinnerung. Passanten: "Kennen wir auch. Europaabgeordneter-Kandidat" "Was haben Sie schon mal gehört von ihm?" "Der war mal Ministerpräsident in Niedersachsen. Aber Sprüche zur Europawahl haben wir noch nicht gehört." Wenig später steht die Kanzlerin auf der Bühne und erklärt die Sache mit den Spitzenkandidaten, von denen immerhin zwei im Hintergrund leibhaftig zu sehen sind. "Christian Ehlers, hier für Brandenburg. David McAllister für Deutschland als Spitzenkandidat mit seinen Kollegen und Jean Claude Juncker, der erfahrene Ministerpräsident aus Luxemburg für unsere Parteienfamilie in Europa."
    Wahlkampfauftritte folgen stets der gleichen Choreographie
    Merkels Wahlkampfauftritte folgen einer stets gleichen Choreographie: Einzug auf die Bühne zu triumphaler Musik, auf dem Weg dahin Händeschütteln, ein paar Autogramme. Dann menschelt es zunächst im freundlichen Plausch mit einer Moderatorin. Merkel berichtet, in einer Tragetasche hätten ihre Eltern sie einst aus Hamburg ins väterliche Pfarrhaus in Quitzow in der Prignitz getragen. Die Moderatorin will es genauer wissen. Und Merkel zeigt dem Publikum, dass sie den alten DDR-Slang noch draufhat. Moderatorin: "Ich wüsste ja zu gern, wie diese Tragetasche ausgesehen hat. Ist das überliefert?" Merkel: "Ja, wie sie so aussah. Ich glaube, damals hat man noch Igelit gesagt. Ja, also irgendwas Plasteartiges wo'n Baby reinpasste." Dann gibt es Reden, und David McAllister darf den Auftakt machen. Am Beispiel der europäischen Haushaltspolitik werden die Unterschiede zur SPD markiert: "Wir sagen nein zur Schuldenunion. Wir wollen eine Stabilitätsunion. Alles andere wäre ungerecht für Deutschland, und dafür treten wir am 25. Mai an, um diese Frage zu beantworten!"
    Für David McAllister ist der Europawahlkampf ein politisches Comeback. Nach der knappen Wahlniederlage in Niedersachen am 20. Januar letzten Jahres hatte er sich konsequent aus seinem bisherigen Wirkungsbereich zurückgezogen. Das Amt des Oppositionsführers in Hannover überließ er dem vorherigen Fraktionschef Björn Thümmler. Wenig später gab er auch das Landtagsmandat auf. Spekulationen, er können auf ein Ministeramt in Berlin zu setzen, wies er zurück. Am Abend nach dem Auftritt in Wittenberge und einer weiteren Veranstaltung in Berlin sitzt McAllister in einem Hotelrestaurant und breitet die Arme auf Kopfhöhe aus: der Horizont sei in diesem Jahr ohne Amt, ohne Termindruck und ohne repräsentative Verpflichtungen weiter geworden: "Ich habe sehr viel gelesen, habe sehr viel mit Menschen gesprochen, die sehr viel europapolitische Erfahrungen gesammelt haben, mit Abgeordneten, mit Kommissionsbeamten, hab gesprochen mit Menschen, die die Europapolitik begleiten - wissenschaftlich wie journalistisch. Und ich bin auch viel gereist. Ich war in 15 europäischen Ländern in den letzten zwölf, dreizehn Monaten, habe viele politische Gespräche geführt mit Vertretern unserer Schwesterparteien aber auch mit anderen. Und darüber hinaus habe ich ein bisschen Französischunterricht genommen und auch ein bisschen Niederländisch gelernt."
    Besuch bei der schottischen Verwandschaft
    Vor allem in Großbritannien ist McAllister immer wieder gewesen. Mal als Gastredner im feinen Caledonian Club der Londoner Upper Class, mal bei der Verwandtschaft in Schottland. McAllisters Vater war Besatzungsoffizier in Berlin gewesen. McAllister wuchs in einer britischen Siedlung am Rande des Grunewalds auf. Schuluniformen, britischer Lebensmittelladen, für die Offiziersfamilien, Teatime im International Club. Ein Spiegel der britischen Klassengesellschaft im Nachkriegs-Berlin. David McAllister hat sich schon als Schüler für Deutschland entschieden, blickt aber bis heute mit besonderem Interesse nach Großbritannien: "Also, im Vereinigten Königsreich ist momentan viel los."
    Im September findet in Schottland ein Volksentscheid über eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich statt. Umfragen sagen einen ebenso knappen wie offenen Ausgang voraus. Auch im eigenen Bekannten- und Verwandtenkreis gingen die Meinungen weit auseinander, sagt McAllister. Deshalb wolle er sich nicht auf die eine oder andere Seite schlagen. Auch der Frage nach der eigenen Zukunft im Europaparlament weicht McAllister routiniert aus. Das Leben als Europaabgeordneter beginne am 27. Mai, in der ersten Sitzung der neugewählten EVP-Fraktion: "Da werde ich mich morgens in meinem VW-Golf setzen und die 573 Kilometer von Bad Bederkesa nach Brüssel fahren, und dann wird sich alles Weitere zeigen." Im Europaparlament wird er sich erst einmal hinten anstellen müssen. Für Spitzenposten in der EVP-Fraktion gelten altgediente und gut vernetzte Routiniers wie Manfred Weber von der CSU und Elmar Broek von der CDU als Favoriten. Doch David McAllister hat vor allem eines: Zeit. Mit 43 Jahren ist er jung genug um auf seine Chancen zu warten. Sei es in Brüssel. Sei es in einer Nach-Merkel-Ära in Berlin. Wenn man in der Union heute nach denen fragt, die einmal das Erbe der Kanzlerin antreten könnten, gehört McAllister neben von der Leyen und de Maizière zu den wenigen Namen, die immer wieder genannt werden. Für David McAllister stehen in der CDU noch viele - und echte - Spitzenkandidaturen offen.