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Eurotunnel
Bindeglied zwischen Großbritannien und der EU?

85 Prozent aller Passagiere, die sich 40 Meter unter dem Meeresspiegel in Zügen von Calais nach Folkstone oder in die andere Richtung befördern lassen, sind Briten – aller zur Schau getragenen Abneigung gegen den Kontinent zum Trotz. Der Eurotunnel ist – jenseits der EU-Verträge – seit 22 Jahren die physikalisch stabilste Verbindung von Kontinent und Insel.

Von Sandra Pfister | 13.06.2016
    Ein deutscher ICE fährt am 13.10.2010 erstmals durch den Eurotunnel.
    Aus britischer Perspektive ist der Euro-Tunnel derzeit weniger Vision als Schwachstelle – vor allem als Einfallstor für Migranten nach einem möglichen Brexit. (picture alliance / dpa / Pascal Rossignol)
    "Ist schon ein bisschen komisch die Vorstellung, gleich unter Wasser zu fahren, ein bisschen mulmiges Gefühl. Man ist irgendwie drunter, nicht drüber."
    Der Eurotunnel verströmt den Charme einer Tiefgarage. Wer mit dem Auto hier durch will – und das sind die meisten – der fährt "huckepack" auf einem Shuttlezug. Aber erst kommt das, was Kontinentaleuropa kaum noch kennt: Passkontrollen. Wer nach England rein will, dessen Pass wird schon in Calais von britischen Grenzbeamten eingehend geprüft. Seit 13 Jahren gewähren die Franzosen den Briten dieses Privileg; mit dem Vertrag von Le Touquet wurde die britische Grenze quasi auf französischen Boden vorverlagert.
    Bis zum Bahnsteig geht es ein paar Kilometer durch ein ödes, nahezu menschenleeres Sperrgelände, gesäumt von Überwachungskameras und meterhohem Stacheldraht. Eine Vision, eingedampft auf pure Funktionalität.
    "Ich denke, das ist sehr bequem. Der Eurotunnel ist sehr leicht zu benutzen, wir fahren jetzt in einem Tag von Italien nach London und heute Abend fahren wir wieder zurück. Das ist sehr praktisch."
    Der Eurotunnel hatte viele Vorläufer
    Eine Rampe führt auf einen doppelstöckigen Shuttle-Zug, so lang wie acht Fußballfelder und innen in etwa so hübsch wie ein Baucontainer. Dann riegelt Personal in Sicherheitswesten den Durchgang zum nächsten Abteil ab, mit doppelwandigen Metalltrennwänden, Feuerschutz. 35 Minuten in einer Röhre 30 bis 75 Meter unterhalb des Meeresspiegels, das ist nichts für schwache Nerven:
    "Ich hatte früher Angst, weil ich etwas klaustrophobisch bin. Aber jetzt denke ich nicht mehr dran. Ich rede einfach die ganze Zeit, dann ist es okay. Mir gefällt das auch besser als die Fähre. Ich werde seekrank, wenn hoher Wellengang herrscht."
    Der Eurotunnel hat viele Vorläufer, 27 Versuche haben Historiker gezählt, die britischen Inseln auf "trockenem" Weg mit dem europäischen Festland zu verbinden. Es waren am Ende immer die Briten, die zurückzuckten. Seit Napoleon hatten sie Angst, ein Tunnel unter dem Ärmelkanal könnte das Einfallstor sein für eine französische Invasion. 1994 eröffneten Francois Mittérand und die Queen den Tunnel – mit einer gemeinsamen Fahrt, bei der die Queen angeblich ordentlich Druck auf den Ohren hatte.
    Albtraum für Investoren und Einfallstor für Migranten
    Der jahrhundertealte europäische Traum einer Verbindung Großbritanniens mit dem Festland war für Anleger jedoch noch bis vor Kurzem weitgehend ein Albtraum. Der Bau wurde fast doppelt so teuer wie geplant, Investoren fanden sich von Anfang an viel zu wenige. Der Betreiber des Eurotunnels stand mehrfach vor der Pleite. Hätten Francois Mittérand und Margret Thatcher den Tunnel nicht auch als politische Vision vorangetrieben, wäre er wohl niemals gebaut wurden.
    Derzeit ist er – aus britischer Perspektive - weniger Vision als Schwachstelle – vor allem als Einfallstor für Migranten nach einem möglichen Brexit. Denn noch lässt Frankreich auf seinem Boden, in Calais, britische Grenzkontrollen zu. Das ist wichtig: Denn durch die Grenzkontrolle schon auf französischem Boden haben die allermeisten Migranten damit keine Chance mehr, jemals britischen Boden zu betreten – und damit können sie dort auch keinen Asylantrag stellen. Mehr Migranten nach einem Brexit: Die Angst davor schürt auch der britische Regierungschef David Cameron.
    "Unsere Grenze verläuft technisch in Calais, nicht in Dover. Das ist gut für Großbritannien, ich will, dass das so bleibt. Deshalb haben wir Frankreich mit Zäunen geholfen, mit Grenzschützern und so weiter. Es gibt eine Menge Leute in Frankreich, die gegen diesen Vertrag sind und nur darauf warten, ihn zu zerreißen."
    Der Eurotunnel als Sinnbild der Europäischen Einigung?
    Der Eurotunnel also als Bindeglied zwischen Nationen, Sinnbild der Europäischen Einigung? Nur noch für wenige. Die meisten nutzen ihn einfach als schnellste Verbindung. Aber dass er die britischen Inseln mit dem Kontinent verbindet, bedeutet noch lange nicht, dass beide zusammengehören. Im Autozug bleibt jedenfalls jeder eher für sich – und ziemlich frei von Europäischen Visionen:
    "Wir haben ziemlich viel Geld dafür ausgeben, den Tunnel zu entwickeln. Deswegen nutzen wir ihn jetzt auch. Ich mag die Bürokratie in Brüssel nicht. Wir beschließen Gesetze, und die setzen sie außer Kraft. Die Leute verstehen nicht, was jede einzelne Nationalität ausmacht."