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Euthanasiemorde der Nazis
Grausame Urteile über den Wert des Lebens

Nur wenige Kirchenvertreter haben öffentlich gegen die Euthanasiemorde der Nazis gekämpft. Dass die Schergen Hitlers Tausende körperlich und geistig behinderte Menschen umbrachten, wurde intern zwar kritisiert, aber nicht öffentlich verurteilt oder gar bekämpft. Heute wäre der Protest nach Ansicht von Experten erschreckenderweise wohl noch kleiner.

Von Johanna Herzing |
    Beschriftete Steine erinnern auf dem Friedhof der Gedenkstätte Hadamar in Hessen an die hier bestatteten Opfer der NS-Euthanasie-Morde. Während der NS-Zeit wurden in der "Landesheilanstalt Hadamar" 15.000 Menschen ermordet und verbrannt.
    Gedenkstätte Hadamar in Hessen. Während der NS-Zeit wurden in der "Landesheilanstalt Hadamar" 15.000 Menschen ermordet und verbrannt. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Mit Glockengeläut empfängt Hadamar seine Besucher. Eine ruhige Kleinstadt nahe dem hessischen Limburg - mit Fachwerkhäusern, einem Schloss und anderen Baudenkmälern.
    Wenige Schritte vom Bahnhof entfernt liegt auf einer Anhöhe am Stadtrand ein blassgelb gestrichener Gebäudekomplex. Unscheinbar, funktional, ein alter Klinikbau: Die frühere Landesheilanstalt Hadamar, während der NS-Zeit eine von sechs Tötungsanstalten im Rahmen des Euthanasieprogramms.
    "Das hier ist tatsächlich das zentrale Gebäude der Tötungsanstalt. Und wir befinden uns im Erdgeschoss und im Kellerbereich hat die Mordaktion stattgefunden in der Phase 1941."
    Jan Erik Schulte, Leiter der Gedenkstätte Hadamar, steht inmitten eines langen Flurs und deutet in einen hohen Raum voller Schautafeln.
    "Das war der Auskleideraum, wo die Patientinnen und Patienten ihre Kleider ablegen mussten, in der Regel einen alten Militärmantel übergeworfen bekamen und dann gingen die Patientinnen und Patienten, teilweise begleitet durch Pfleger, durch Schwestern, zum Arzt, der quasi noch mal diese Überprüfung abgeschlossen hat und auch gleichzeitig die Todesursache festlegte anhand der Aktenlage. Das heißt, er sah den Patienten, guckte noch mal in die Akte rein – soweit wir das heute rekonstruieren können – und entschied dann, welche Todesursache hinterher auf dem Todesschein erscheinen sollte."
    Nur wenige Minuten brauchte das Personal in Hadamar, um Menschen in den sogenannten Gnadentod zu schicken. Viele von ihnen waren psychisch krank oder behindert, andere schlicht unangepasst, arm, alt oder missliebig. Zwangsarbeiter und Juden hatten besonders geringe Überlebenschancen, ebenso wie alle, die nicht mehr arbeiten konnten. Unter den Euthanasie-Opfern waren auch Demenz-, und Tuberkulose-Kranke. Später dann kriegsgeschädigte Soldaten, SS-Angehörige, und durch Bombenangriffe traumatisierte Menschen.
    "Das ist der Weg in den Keller, den auch die Patientinnen und Patienten 1941 gegangen sind."
    Eine Treppe führt steil nach unten in ein Gewölbe. Es riecht muffig. In einem Seitengang versperren dicke Kordeln die beiden Zugänge zu einem kleinen gelb gefliesten Raum.
    Der einzige Protest war kirchlich motiviert
    "Was wir hier sehen können, ist die ehemalige Gaskammer. Die Fliesen, die Sie hier sehen, sind überwiegend original. Es hat aber verschiedene Veränderungen gegeben begründet durch die Nachnutzung des Raumes. Das heißt, der Abfluss, den Sie sehen, ist neu. Auch bestimmte Rohrleitungen sind neu, das Fenster zu meiner Linken ist wieder eingebaut worden. 1941 während der Mordphase gab es dieses Fenster nicht."
    Die Mordphase, sie dauerte in Hadamar – zumindest was die Gasmorde angeht – gerade mal acht Monate: von Januar bis August 1941. 10.000 Menschen - Erwachsene wie Kinder – wurden in dieser Zeit umgebracht. Das Personal in Hadamar arbeitete effizient:
    "Das ist die sogenannte Schleifbahn. Das ist halt ein bestimmter Aufstrich, Bodenaufstrich, der es ermöglicht, wenn da Wasser drauf kommt, dass eben Körper oder auch anderes leichter zu transportieren ist, weil natürlich die sogenannten 'Brenner' von der Gaskammer die Leichen transportieren mussten zu den Krematorien und das war Schwerstarbeit und musste, wenn vielleicht zwei oder große Transporte angekommen sind, das musste relativ schnell passieren."
    Nach dem Sommer 1941 wurden die Gaskammer und die Öfen zum Verbrennen der Leichen abgebaut. Hitler hatte die bis dahin zentral von Berlin aus gesteuerte sogenannte Aktion T4 im August 1941 abrupt gestoppt. Personal und Technik der Tötungsanstalten und der T4-Aktion kamen anschließend nicht selten in den Vernichtungslagern des Ostens beim Judenmord erneut zum Einsatz. Doch auch das Euthanasie-Programm war alles andere als beendet. Spätestens ein Jahr nach dem Stopp gingen die Morde weiter – jetzt im Rahmen der sogenannten dezentralen Euthanasie. Mit überdosierten Medikamenten, durch Unterernährung oder Vernachlässigung wurde bis 1945 weiter getötet. Bis Kriegsende fielen im gesamten Reich und den besetzten Gebieten etwa 200-300.000 Menschen den Euthanasiemorden zum Opfer.
    "Man kann glaube ich sagen, dass es sich im ersten halben Jahr weitgehend herumgesprochen hat."
    Beamte, Wissenschaftler, Ärzte, Politiker, Kirchenmänner, Richter und auch die Angehörigen haben direkt oder indirekt schnell von den staatlich angeordneten Morden erfahren, sagt der Historiker Götz Aly. Der einzig wirklich nennenswerte Protest, so Aly, sei christlich motiviert gewesen. Berühmt wurden die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, der im Sommer 1941 öffentlich die Euthanasie anprangerte. Doch auch vorher schon, im Juli 1940, also vor 75 Jahren, richtete etwa der evangelische Pastor Paul Gerhard Braune, Leiter einer sozialen Stiftung bei Berlin und Vizepräsident des Zentralausschusses der Inneren Mission, eine Denkschrift an Hitler:
    "Die Unverletzlichkeit des Menschenlebens ist einer der Grundpfeiler jeder staatlichen Ordnung. Wenn Tötung angeordnet werden soll, dann müssen geltende Gesetze die Grundlagen solcher Maßnahmen sein. Es ist untragbar, dass kranke Menschen fortlaufend ohne sorgfältige Prüfung und ohne jeden rechtlichen Schutz, auch ohne den Willen der Angehörigen und gesetzlichen Vertreter zu hören, aus reiner Zweckmäßigkeit beseitigt werden."
    Evangelische Kirche trug eugenische Ideologie der Nazis mit
    Doch diese kritische Nachfrage blieb eine Ausnahme – und vor allem ohne Erfolg. Besonders die evangelische Kirche trug die eugenische Ideologie der Nationalsozialisten im Grunde mit. In evangelischen Krankenhäusern etwa wurden spätestens ab 1934 entsprechend dem "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" Männer und Frauen zwangssterilisiert. Götz Aly:
    "Der Protestant war das ganze Dritte Reich hindurch im Prinzip staatsloyal. Und im Fall des Widerstands gegen die Euthanasie haben Sie es mit Pastor Braune zu tun, mit dem württembergischen Bischof Theophil Wurm, mit Pastor Bodelschwingh in Bethel. Die haben alle dasselbe gemacht: Die haben amtsintern protestiert und sie haben davon kein Wort nach außen dringen lassen. Alle diese Schreiben und Briefe des Protestes, die es auch von protestantischer Seite gegeben hat, sind amtsintern geblieben. Öffentlich wurden sie erst nach dem 8. Mai 1945. Das ist ein ganz wesentliches Versagen der evangelischen Kirche."
    Doch nicht nur die Kirche hat Chancen vertan, Hilfe unterlassen, Morde geduldet oder gar daran mitgewirkt. Das Euthanasieprogramm hatte keine gesetzliche Grundlage, war "halb-geheim", aber dennoch kursierten schnell Gerüchte. Viele Angehörige von Kranken und Behinderten hätten diese "Einladung zum Wegschauen" bereitwillig angenommen, so Götz Aly:
    "Es ist völlig klar, dass es eine eindeutige Mitverantwortung der Angehörigen gibt. Das ist vielfach untersucht worden und es lässt sich dutzend- und hundertfach belegen und dass deswegen auch nach dem Krieg in fast allen deutschen Familien verdrängt worden ist, dass sie so einen hatten. Andererseits haben wir Heutigen gar keinen Grund, wenn wir uns in diese Situation und diese Mechanik und auch wie sie ausgenützt worden ist von der politischen Führung des deutschen Reiches damals, uns über diese Menschen damals, moralisch zu erheben."
    Die materielle Not, die Auswirkungen der eugenischen und rassenbiologischen Ideologie, die sich zuspitzende Kriegslage – Kranke und Behinderte wurden bewusst und unbewusst als Last gesehen.
    Vergilbtes Papier, darauf Bleistiftzeichnungen und eine energische Sütterlin-Handschrift. Barbara Stellbrink-Kesy blättert durch ein Album, das auf dem Tisch in ihrem Berliner Arbeitszimmer liegt:
    "Also das sind diese Briefe, die ich gefunden habe. Sie sehen, hier hat sie so schön verziert, mit Zeichnungen versehen. Landesheilanstalt Weilmünster, Ober-Lahnkreis, ne Postkarte... Diese Postkarte, die ist jetzt von 1942, da geht es dann schon häufiger um Hungerphantasien und um die Bitte nach Nahrung."
    Mitte der 90er Jahre hat die Kunsttherapeutin Barbara Stellbrink-Kesy diese Briefe ihrer Großtante Irmgard Heiss gefunden: In einem alten Schrank ihres verstorbenen Vaters, gut verborgen unter einem doppelten Boden. Über die Tante war bis dato in der Familie wenig gesprochen worden. Es hieß, möglicherweise sei sie Euthanasieopfer geworden, berichtet Stellbrink-Kesy. Tatsächlich war Irmgard Heiss im Oktober 1944, geschwächt und krank durch jahrelange Internierung in verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten, an Lungentuberkulose gestorben.
    Gedenkstätten sollen an schreckliche Schicksale erinnern
    "Es hat immer wieder eigentlich Rettungsmöglichkeiten gegeben für sie. Ich habe diese Krankenakte, die von 1924 bis '44 geht, mehrmals durchforstet, aber ich habe einige Hinweise gefunden in dieser Krankenakte darauf, dass es möglich gewesen wäre, sie vor diesem Tod, den sie schließlich durchleiden musste, zu bewahren. Und die Familie spielte da eigentlich eine ebenso große Rolle wie die Psychiater."
    Dabei war der Familie offenbar bewusst, in welcher Gefahr Irmgard Heiss schwebte. Ihr Bruder, Karl Friedrich Stellbrink, gehörte zu den vier Lübecker Priestern, die Abschriften der Predigt von Galens verbreiteten, und öffentlich gegen die Euthanasie auftraten. 1943 wurden die vier Pfarrer, auch Karl Friedrich Stellbrink, von den Nazis ermordet. Und dennoch, die Familie holte Irmgard Heiss nicht dauerhaft nach Hause:
    "Weil sie auch der Meinung war, dass diese Tochter missraten war und Angst hatte, dass sie die Ehre der Familie in Mitleidenschaft zieht, dass sie den Ruf der Familie schädigt mit ihrem Verhalten."
    Berlin, Tiergartenstraße 4. Hier befand sich ab April 1940 der Amtssitz der sogenannten T4-Zentraldienststelle. Eine Art Behörde zur Erfassung der Patientinnen und Patienten in deutschen Heil- und Pflegeanstalten. Von hier aus wurden bis zum Stopp der T4-Aktion im August 1941 die Euthanasie-Morde geplant und organisiert. Gutachter entschieden anhand von Akten über Leben und Tod. An der Stelle der früheren Villa befindet sich heute ein Gedenk- und Informationsort. Touristen blicken durch die blaue Glaswand des Denkmals in der Mitte des Platzes, eine Audio- und Video-Installation liefert auf Knopfdruck Hintergrundwissen:
    "Dieser Meldebogen war ab 1939 die Grundlage für die Entscheidung über Leben und Tod von Psychiatriepatienten und Heimbewohnern."
    Christof Beyer von der Technischen Universität München steht neben dem lang gestreckten Pult mit Fotos, Biografien und Informationstexten. Gemeinsam mit einigen Kollegen hat er das Konzept für die Freiluftausstellung entwickelt.
    "Ich denke, es ist ein breites Spektrum von Arten, wie sich Angehörige verhalten können und das haben wir auch versucht hier so abzubilden, also von der tatsächlichen Bitte darum, das Leiden eines Angehörigen zu verkürzen bis hin zu offensivem Protest, den es ganz punktuell sogar auch in Form von Demonstrationen gegeben hat, der aber nicht wirkungsvoll gewesen ist."
    Mit Wertungen hält sich Beyer sehr zurück. Das Thema Euthanasie, erst in den 1980er Jahren in der Öffentlichkeit breiter diskutiert, sorgt noch immer für Kontroversen. Ärger gab es schon bei der Einweihung des T4-Denkmals im vergangenen Jahr: die Tiergartenstraße sei ein Ort der Täter. Dort, wo die Menschen umgebracht wurden, sei hingegen aus finanziellen Gründen oft kein würdiges Gedenken möglich, so die Kritiker. Beyer hat dafür Verständnis, hält einen zentralen Ort des Gedenkens und der Information aber dennoch für wichtig. In Berlin hofft er, möglichst viele Menschen zu erreichen:
    "Mein persönlicher Eindruck ist, dass viel weniger Wissen über diese Mordaktion in der Öffentlichkeit vorhanden ist, als man annehmen dürfte. Also den Begriff Euthanasie kennt jeder, T 4 – vielleicht auch schon mal gehört, aber den Umfang, die Beteiligung, die Details sowohl was den historischen Vorlauf angeht als auch die juristische Aufarbeitung angeht, das sind Dinge, die glaube ich im Bewusstsein noch nicht so verbreitet sind wie das Wissen um andere Opfergruppen."
    "Sie wollen auch alle gedenken, aber sie sind nicht bereit, dass die Opfer anerkannt werden und den anderen Opfern gleichgestellt werden – das ist ein Widerspruch in sich und das kann ich nicht unterstützen!"
    Historische Erfahrungen wirken sich bis heute politisch aus
    Für Margret Hamm vom Bund der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten ist der T4-Gedenkort eine Art politisches Feigenblatt.
    "Das ist eine Geschichte der Ausgrenzung. Das wird ja in der Politik immer gesagt, das sind sogenannte 'Vergessene Opfer' - zwar meist in Anführungsstrichelchen geschrieben, aber sie sind ganz bewusst von der Politik ausgegrenzt worden, weil man von Anfang an nicht gewillt war, diese Opfergruppe zu entschädigen und das was sie erlebt, erlitten haben und an Traumatisierungen erlebt haben oder den Verlust der Eltern durch die Ermordung, war die Politik nicht bereit anzuerkennen als NS-Verbrechen."
    Juristisch gilt das Schicksal der Euthanasie-Opfer und Zwangssterilisierten nicht als "typisches NS-Unrecht", die Betroffenen wurden dementsprechend in den 1960er Jahren nicht in das Bundesentschädigungsgesetz aufgenommen. Grundlage für diese Entscheidung waren unter anderem Gutachten von Medizinern, die während des Nationalsozialismus selbst in die Euthanasiemorde verwickelt waren. Zwar hat der Bundestag inzwischen die Grundlage für die Zwangssterilisierungen, das Erbgesundheitsgesetz, geächtet. Doch auch das geschah erst 2007, ganze 73 Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes. Die Vergangenheit ist für Margret Hamm aber noch aus anderen Gründen aktuell. Aktive Sterbehilfe lehnt sie mit Verweis auf die historische Erfahrung ab, die Pränataldiagnostik sieht sie kritisch.
    "Das ist vielleicht auch sehr konservativ, aber ich meine: Lebensrecht ist Lebensrecht! Ich würde mir nicht anmaßen wollen, da den lieben Gott zu spielen, sowohl in der letzten Lebensphase als auch beim Entstehen des Lebens."
    Ulrike Demmig kam gar nicht erst in diese Situation. Vor 43 Jahren wurde sie überraschend Mutter einer geistig behinderten Tochter, die später im Alter von 18 Jahren schizophren wurde. Erfahrungen mit Behinderten hatte Demmig da bereits: Ihre ältere Schwester wurde noch zur Nazi-Zeit mit dem Downsyndrom geboren. Der Familie gelang es allerdings, das behinderte Kind vor der Euthanasie zu bewahren.
    "Meine Mutter war 21 als sie ein Kind bekam mit Down Syndrom und das gehörte damals auch nicht zum Konzept. Meine Mutter hat es geschafft, es durch den Krieg zu bringen, also sie ist '41 geboren und das auch eben mit Lungenentzündung. Sie hat immer Ärzte gefunden, die sie unterstützt haben und das Kind gehörte ganz sicher zur Familie."
    Demmigs Schwester überlebte den Krieg und starb vor nicht allzu langer Zeit im Alter von 65 Jahren. Das Ende eines Lebens gegen viele Widerstände, der Erfolg einer solidarischen Familie. Ulrike Demmig will aber nichts schön reden:
    "Sagen wir mal so, ich habe mir kein behindertes Kind gewünscht, definitiv nicht. Ich habe eine Schwester mit Down Syndrom, eine schwerstkranke Mutter, und ich dachte irgendwo, es reicht."
    Widerstand gegen Euthanasie wäre heute wohl noch geringer
    Es gab Zeiten mit ihrer Tochter, sagt Demmig, da sei es kaum auszuhalten gewesen. Rat und Tat, ein Kölner Verein für Angehörige von psychisch Kranken, hat Ulrike Demmig schließlich dabei geholfen, sich von der eigenen Tochter etwas zu lösen, sich freier zu machen. Heute ist Demmig Vorsitzende des Vereins. Vor allem psychische Erkrankungen, sagt Demmig, sind in der heutigen Gesellschaft nach wie vor stark stigmatisiert. Amokläufe, Morde und andere monströse und unverständliche Taten: Nur so würden psychisch Kranke in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Götz Aly, der Historiker, findet zwar die staatliche Unterstützung für Kranke und Behinderte in der Bundesrepublik vorbildlich. Aber das Menschenbild unserer Gesellschaft hält er für bedenklich:
    "Das Ideal der nationalsozialistischen Gesellschaft war ein Mensch, der ein Optimum leistet, der wunderbar turnen, springen, schießen, kämpfen, angreifen kann und herrliche Häuser bauen kann und sich in seinen Berufen wirklich großartig entfaltet und der dann irgendwann möglichst schmerzfrei tot umfällt. Das sind ja Lebensmodelle, die sind heute verbreiteter als zwischen 1933 und 45."
    Leistungsdenken, Körperbeherrschung, Tüchtigkeit, aber auch Genussfreude, erotische Entfaltung, Fortschrittsglaube – all das, so Aly, haben bereits die Nationalsozialisten propagiert.
    "Also man könnte sagen, wir hätten uns in dieser Weise im Sinne von Heinrich Himmler, wenn ich's mal zuspitze, haben wir uns sehr entwickelt, diese Gesellschaft hat sich sehr viel mehr säkularisiert als sie es 1933 gewesen ist, und das bedeutet auf die Euthanasiemorde bezogen, wenn man sich klar macht, dass es den einzigen Widerstand gegen die Euthanasiemorde aus christlicher Motivation gegeben hat, dass dieses Widerstandspotenzial heute sehr viel geringer ist als es damals gewesen ist. Und es war schon damals, leider Gottes, außerordentlich klein."