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Euthanasieopfern eine Stimme geben

"Aktion Gnadentod" - unter diesem Tarnnamen wurden zwischen 1940 und 1945 in der NS-Zeit mehr als 200.000 geistig Behinderte ermordet. Der Politologe und Journalist Götz Aly stellt in "Die Belasteten" die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung.

Von Martin Ebel | 14.04.2013
    Der Holocaust hatte einen Vorläufer. Das war die "Aktion Gnadentod". Unter diesem Tarnnamen wurden zwischen 1940 und 1945 mehr als 200.000 geistig Behinderte ermordet. Ins öffentliche Bewusstsein gelangt ist nur die erste Phase dieses Verbrechens. Sie wurde am 24. August 1941 abrupt gestoppt - eben weil sie öffentlich gemacht worden war: Der Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, prangerte in drei Predigten an, was seit anderthalb Jahren in aller Stille geschah und nannte es beim Namen: Mord. Er hatte Erfolg. In dieser Phase - der Krieg gegen die Sowjetunion ging mühsam voran, die Engländer flogen Bombenangriffe auf Wohngebiete - wollten Hitler und Goebbels keine Unruhe im Reich. Sie bliesen die Aktion ab.

    Das bedeutete aber nur eine kurze Frist für das "lebensunwerte Leben", wie die NS-Ideologie den zur Vernichtung bestimmten Personenkreis umschrieb. Nach einiger Zeit ging das Morden wieder los, dezentral und noch verdeckter, in Deutschland und in besetzten Gebieten im Osten und traf bald nicht mehr nur Epileptiker und Schwachsinnige, sondern auch Tuberkulosekranke, sogenannte Arbeitsscheue, verwirrte Bewohner von Altersheimen, ja sogar Ausgebombte, die die Angst um den Verstand gebracht hatte. Sie wurden ermordet auch aus dem Grund, freie Betten zu bekommen für Verletzte der zunehmenden Bombenangriffe.

    Götz Aly, promovierter Politologe und Journalist, gehört zu den Forschern, deren Bücher zuverlässig für politische Kontroversen sorgen. Zuletzt hat er mit der These von der "Gefälligkeitsdiktatur" Aufsehen erregt, nach der die Ausplünderung der Juden einen stillen Konsens zwischen vielen Deutschen und ihrer Regierung herstellte. Auch in seinem neuen Buch fragt er, wie eine Gesellschaft beschaffen war, die humane Reflexe derart verdrängen konnte - indem sie ihre schutzbedürftigsten Mitglieder der Gaskammer, der Todesspritze oder dem Verhungern auslieferte und sich dabei noch weismachte, es sei für die armen Irren eine Erlösung.

    Aly hat diesmal auch ein persönliches Motiv: Er hat eine schwerbehinderte Tochter. Sie heißt Karline.

    "Kurz nach ihrer Geburt 1979 erkrankte sie an einer Infektion, der heute mithilfe einer Routineuntersuchung vorgebeugt wird. Karline bekam eine Gehirnentzündung und erlitt einen schweren zerebralen Schaden. Bei aller Hilfsbedürftigkeit lacht und weint sie, zeigt Freude und schlechte Laune, liebt Musik, gutes Essen, gelegentlich etwas Bier und Gäste. Doch einfach hat sie es im Leben nicht."

    Kurz nach Karlines Geburt hat Götz Aly begonnen, die Euthanasiemorde (wie er sie in dankenswerter Klarheit nennt) zu erforschen, anfangs noch gegen Widerstand und Hinhaltetaktik der Archive. Viele Täter waren damals noch am Leben und durchaus aktiv: Einer der Gutachter, der Alys Tochter eine hohe Pflegestufe bescheinigte, war - wie er erst später herausfand - einst Oberarzt an der Heidelberger Universitätskinderklinik, von der aus Kinder in die Mordanstalt Eichberg geschickt wurden. Das jetzt vorliegende Buch ist die Frucht von 32 Jahren Arbeit. Nicht die erste Publikation Alys zu dem Thema, aber eine Summe, ein Abschluss.

    Alys eigene Betroffenheit trübt ihm keineswegs den Blick. Aber nie vergisst er, dass es sich bei den zum Tode bestimmten "Fällen" um Menschen handelte, die bei aller Behinderung Freude und Schmerz fühlten, die liebenswert waren und, da sie sich nicht selbst schützen konnten, den Schutz der Gesellschaft verdienten. Es geht ihm darum, sie von Fällen zu Menschen zu machen, ihnen einen Namen zu geben, eine Stimme. Immer wieder nennt er Geburts- und Sterbedaten von Ermordeten, zitiert er Briefe, die die psychisch Kranken an ihre Angehörigen schrieben, oder Pflegenotizen ihrer Betreuer, die dem Urteil "lebensunwert" Hohn sprechen. So lesen wir etwa im "Entwicklungsbericht" über den zwölfjährigen Rolf Pfunfke:

    "Rolf ist jetzt in der Lage, einzelne Worte schlecht artikuliert, mit leiser tonloser Stimme herauszuhauchen. Seine seltenen Äußerungen sind sinnvoll, sie beziehen sich auf primitive Vorgänge seine eigene Person betreffend. Kleine Vorgänge in seiner Umgebung hat er aufgefasst, Neues aber nicht dazugelernt. Charakterlich stehen die guten gemütlichen Fähigkeiten Rolfs im Vordergrund. Er ist anhänglich, freudefähig, dankbar. Rolf ist empfindlich und will gern beachtet sein. Seine Stimmungslage ist sorglos-unbekümmert, kindlich heiter."

    Der Bericht stammt vom 15. Oktober 1940. Am 28. Oktober wurde Rolf in der Gaskammer von Brandenburg ermordet.

    Alys Stil ist konsequent sachlich, um Erklärung der Zusammenhänge, der Zuständigkeiten und der individuellen Verantwortung bemüht, sogar um Verständnis für die Nöte der Eltern oder Lebenspartner, die ihre Kranken im Stich ließen. Aber es durchzieht auch kalte Wut diese Seiten, und dieser Ton steht dem Buch nicht schlecht an.

    Drei Gruppen sind am Euthanasiemord beteiligt: Opfer, Täter und Angehörige. Die Opfer bilden den emphatischen Mittelpunkt des Buches. Die Täter werden differenziert betrachtet, bei genauer Beleuchtung ihrer Verantwortung und ihres Handlungsspielraums. Der war enorm, und oft wurde er auch genutzt. Anders als beim Holocaust gibt es für die Euthanasiemorde eine eindeutige Anweisung Hitlers, die sogar schriftlich gefasst wurde und erhalten ist. Sie wurde auf den 1. September 1939, dem Tag des Kriegsausbruchs, datiert, bestätigte bereits mündlich gegebene Befugnisse, besteht aus einem einzigen Satz und lautet:

    "Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Karl Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."

    Hitler ließ seinen Leibarzt Theo Morell eine Denkschrift zur Ausgestaltung dieser Anordnung aufsetzen. Darin findet sich auch die zynische Kalkulation, die hinter den Euthanasiemorden steht: Man will Pflegekosten sparen und sich derer entledigen, die nicht arbeitsfähig sind. Nutzlose Esser haben kein Lebensrecht im "Dritten Reich". Wörtlich rechnet Morell:

    "5000 Idioten mit Jahreskosten von je 2000 Reichsmark = 10 Millionen jährlich. Bei fünf Prozent Verzinsung entspricht das einem reservierten Kapital von 200 Millionen."

    Entsprechend gigantisch musste die "Ersparnis" bei der von ihm geschätzten 70.000 potenziellen Todeskandidaten ausfallen. Morell vermutete in seiner Denkschrift, dass von den Angehörigen kein größerer Widerstand zu erwarten sei, und empfahl, die Sache nicht öffentlich zu machen, sondern als "amtsgeheime Anordnung" durchzuziehen. Die mit der Umsetzung befassten Ärzte bestanden aber auf einem Gesetz, das sie vor etwaigen Mordanklagen schützen würde, und ein solches wurde auch formuliert - aber nie veröffentlicht.

    Am 9. Oktober 1939 wurden in der Kanzlei des Führers die Weichen für die Umsetzung der Aktion gestellt. Federführend war eine sogenannte "Zentraldienststelle T4" - genannt wegen der Adresse Tiergartenstraße 4 in Berlin, die zuerst der Kanzlei des Führers unterstand, dann der Medizinalverwaltung des Reichsinnenministeriums. Später wurde die Mordbehörde in Reichsamt für die Heil- und Pflegeanstalten umbenannt. Sie war zuständig für die "planmäßige Erfassung" der Geisteskranken, für ihren Transport von den Heilanstalten in die Mordzentren und für die Gaskammern, in denen sie ermordet wurden. Diese Mordzentren befanden sich in Grafeneck bei Reutlingen, in Brandenburg an der Havel, in Bernburg an der Saale, in Hadamar in Nordhessen, in Sonnenstein bei Pirna und im österreichischen Hartheim. Später töteten die Ärzte ihre Kranken auch in ganz normalen Krankenhäusern, mittels Spritzen, oder sie ließen sie in speziellen Anstalten einfach verhungern.

    Die Spitzen der Kommunen und der Justiz waren in die Euthanasiemorde eingeweiht; bei einem Gemeindetag mit 200 Oberbürgermeistern und bei einem Treffen der Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte wurde über die Aktion informiert, allerdings um Geheimhaltung gebeten, um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen.

    Die Entscheidung über Leben oder Tod wurde auf viele Schultern gelegt, von der erfassenden Behörde über die Direktoren der psychiatrischen Anstalten, die Leiter der Mordzentren bis hin zu einzelnen Ärzten. Jeder hatte die Möglichkeit, einen Todeskandidaten zu retten - es gehörte kein Mut dazu, es gab kein Risiko, man musste es nur wollen. Noch vor der Gaskammer saß ein Arzt und verfügte über ein letztes Vetorecht. Maria Vollweider, eine depressive Patientin, berichtete 1947 vor dem Untersuchungsrichter, wie sie in die Todesanstalt Grafeneck gebracht wurde, aber nicht in die Gaskammer musste:

    "Ich wusste zwar nicht, dass ich nach Grafeneck käme, habe aber als ziemlich sicher angenommen, dass ich mich in einem Totentransport befinde. Mit mir verlegt wurde damals ein Fräulein Emilie Huf aus Karlsruhe und die Jüdin Selma Hauser aus Mannheim. Beide wurden später dann auch in Grafeneck getötet. In Grafeneck mussten wir die Omnibusse verlassen und wurden sofort in eine lange Baracke gebracht. In dem Raum war es sehr eng, und einige Patientinnen wurden unruhig. Die anwesenden Wärter gaben solchen Patienten sofort Spritzen. Nach einigen Stunden wurde mein Name gerufen. Nach Aufruf meines Namens wurde ich durch einen langen Gang in eine andere Baracke geführt. Dort saßen hinter Tischen etwa sechs Männer, möglicherweise waren es Ärzte. Von einem dieser Männer wurde ich eingehend ausgefragt. Ich schätze, dass es etwa eine Stunde gedauert hat. Nach etwa einer Stunde kam ein Wärter, ich musste meinen Rücken freimachen und der Wärter entfernte die Nummer auf meinem Rücken. Dann wurde ich in einem Personenwagen wieder nach Zwiefalten zurückgebracht. Von all den anderen Bekannten, die mit mir nach Grafeneck gekommen waren, habe ich in Zwiefalten niemand mehr gesehen, und ich muss annehmen, dass ich die einzige Überlebende von dem ganzen Transport bin. Von dem Warteraum, in welchem ich mich so lange aufhielt, hatte die Bretterwand zum Nachbarzimmer breite Ritzen. Ich konnte durch diese feststellen, dass in dem großen Nachbarraum eine große Anzahl völlig nackter Frauen sich befand."

    Die Ärzte hatten einen breiten Ermessensspielraum. Insbesondere die klare Anweisung, auf Nachfragen der Angehörigen zu reagieren und, wenn diese den Kranken zu sich nach Hause nehmen wollten, dies zu erlauben. Auch wurden solche Insassen, nach denen öfter gefragt wurde, die Besuch erhielten etc., eher von den Todestransporten meist ausgenommen.

    So fiel den Angehörigen die Schlüsselrolle bei der Frage "Leben oder Tod" zu. Anders als beim Judenmord, der prinzipiell keine Ausnahme kannte und von einem wahnhaften Rassenhass getrieben wurde, waren die Euthanasiemorde vornehmlich durch eine Kosten-Nutzen-Rechnung motiviert. Zu den Kosten gehörte dann eben auch die Unruhe der Angehörigen, die sich schnell in ihrer Umgebung verbreiten könnte. So wichen die Täter beim geringsten Widerstand zurück. Umgekehrt bedeutet das: Wer starb, hatte keine Angehörigen oder keine, die sich für ihn einsetzten.

    Sie konnten sich dabei, nach dem perfiden Kalkül der Mordplaner, in einer Grauzone «zwischen Nichtwissenswollen und Nichtwissenmüssen» bewegen. Der Kranke wurde verlegt, kurz darauf kam dann die Nachricht von seinem überraschenden Tod - bei der Wahl der "natürlichen" Todesursache waren die Ärzte sehr erfinderisch. Auf dem Totenschein stand dann

    "Grippe, Pneumonie, Hirnlähmung, Erschöpfung, fieberhafte Bronchitis, Lungenentzündung, Herzschwäche, Darmgrippe, progressive Paralyse, Darmkatarrh, Darmverschlingung, Gesichtsfurunkel, Blutsturz, Schlaganfall, Altersschwäche, Bauchspeicheldrüsenentzündung, Angina, Blutvergiftung, Diphterie, Masern, Erschöpfung, Durchfall."

    Wenige fragten nach oder protestierten; die meisten waren erleichtert. Manche reklamierten vor allem den Nachlass - bis hin zu einer verschwundenen Goldbrücke. Manchmal wurde die Reaktion der Angehörigen vorab getestet: Man fragte sie, ob sie einer sehr riskanten Therapie zustimmen würden, bei der das Sterberisiko bei 90 Prozent liege. Die meisten gaben ihre Zustimmung.

    Im selben Sinne war übrigens eine Umfrage ausgefallen, die lange vor der Machtergreifung angestellt worden war und auf die sich Hitlers Leibarzt Morell bei seiner Euthanasie-Denkschrift ausdrücklich berief. Der Obermedizinalrat Ewald Meltzer hatte sie 1920 unter Eltern und Vormündern psychisch Kranker durchgeführt. Die Angehörigen hatten auf die Frage, ob man diese "einschlafen lassen" solle, mit großer Mehrheit zugestimmt. Nur zehn Prozent hatten das strikt abgelehnt. Viele hatten ihre prinzipielle Zustimmung noch mit dem Zusatz versehen, lieber im Ungewissen über die Todesursache bleiben zu wollen:

    Im Prinzip einverstanden; nur dürften Eltern nicht gefragt werden; es fällt ihnen doch schwer, das Todesurteil für ihr eigen Fleisch und Blut zu bestätigen. Wenn es aber hiesse, es wäre an einer x-beliebigen Krankheit gestorben, da gibt sich jeder zufrieden.

    Aus solchen Aussagen konnte, die entsprechende Ideologie vorausgesetzt (und bei Ignorierung des Hippokratischen Eides) so etwas wie ein stiller gesellschaftlicher Konsens abgeleitet werden. Wer sich diesem Konsens entzog, tat dies meist auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes, nach dem auch ein "Armer im Geiste" Gottes Kind war. In derselben Predigt, in der er die Euthanasiemorde geisselte, wetterte Bischof Galen auch gegen lockere Sitten. Umgekehrt empfanden sich die Euthanasiemörder als Vertreter einer "modernen Psychiatrie" - und sie waren es auch, so Götz Alys verblüffender Befund. Dieselben Ärzte, die ihnen anvertraute Patienten kaltblütig zu Tode brachten, entwarfen musterhafte Heilanstalten und veröffentlichten Anleitungen zum liebevollen Umgang mit Kleinkindern. Darin lag eine perverse Logik: Man wollte sich der hoffnungslosen Fälle entledigen, um Kraft und Mittel auf die therapiebaren zu konzentrieren.

    Paul Nitsche etwa, einer der führenden Organisatoren der Euthanasiemorde, der deswegen 1948 in Dresden hingerichtet wurde, war ein Reformpsychiater. Er lehnte mechanische Zwangsmittel wie Fesseln oder Zwangsjacke ab und plädierte dafür, jedem Kranken individuell gerecht zu werden. Die Pfleger sollten den Kranken freundlich begegnen und eine angenehme Atmosphäre schaffen. Dies galt aber nur für die therapierbaren Fälle. Für die anderen war der "Gnadentod" gerade recht. So zogen er und seine Kollegen, anmassend und kaltherzig, eine Grenze zwischen "lebenswert" und "lebensunwert". Von Paul Nitsche ist der Ausspruch bezeugt:

    "Es ist doch herrlich, wenn wir in den Anstalten den Ballast loswerden und nun richtige Therapie treiben können."

    Zu solchem "Ballast" gehörten auch Kinder. Deutlich mehr als zehntausend fielen dem Euthanasiemord zum Opfer. Die Kapitel, die Götz Aly ihnen widmet, sind am schwersten zu lesen und zu ertragen. Ein eigens gegründeter "Reichsausschuss" besorgte sich die Daten aller Minderjährigen, die in Heil- und Pflegeanstalten sassen, und prüfte jeden Einzelfall nach Aktenlage auf Leben oder Tod. Dann erging die Anweisung an die jeweilige Anstalt, was zu geschehen hatte - nämlich nichts oder die Verlegung in eine Spezialanstalt, wo vergast oder gespritzt wurde. Dort prüfte ein Arzt das Dossier ein letztes Mal, hob oder senkte den Daumen.

    Die Zahl der Mittäter und Mitwisser an diesem Verbrechen, das sich zum Teil im ganz normalen Klinikalltag, als Routinevorgang, vollzog, war hoch; niedrig dagegen bis gar nicht vorhanden das Unrechtsbewusstsein. Dass die entsprechenden Kinder "Reichsausschusskinder" hiessen - natürlich, weil der Ausschuss sie begutachtete, aber für uns auch mit dem Nebensinn: dass sie als Ausschuss betrachtet wurden -; dass man von "behandeln" schrieb, wenn "töten" gemeint war: Das schmerzt noch beim Lesen und zeigt einmal mehr, wie sich das Verbrechen auch die Sprache vergiftet.

    Ein besonders finsteres Kapitel betrifft die innige Zusammenarbeit der Euthanasiemörder mit dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Gehirnforschung in Berlin-Buch. Ein intensiver Daten- und Patientenverkehr sorgte dafür, dass man sich interessante Fälle oder ganze Versuchsreihen regelrecht bestellen konnte: Man forschte am kranken Kind, liess es dann töten und forschte am Gehirnpräparat weiter. Doktorarbeiten entstanden daraus. Das Max-Planck-Institut hat sich erst vor wenigen Jahren der verbrecherischen Geschichte seiner Vorgänger gestellt. Noch in den 80er-Jahren, erinnert sich der Autor, wurde ihm die Auskunft über eine Sammlung mit den Gehirnen ermordeter Kinder verweigert - mit dem grotesken Hinweis auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. Nur dass hier der Arzt zum Mörder geworden war.

    Für Götz Aly sind die Euthanasiemorde ein Testlauf für den Holocaust; sie zeigten den Spitzen des Dritten Reiches, wie reibungslos mitten in Deutschland ein Massenmord zu organisieren war. In der Duldung bzw. Mittäterschaft durch die Angehörigen sieht Aly eine "Selbstverstümmelung" der Deutschen; einen wichtigen Schritt auf ihrem Weg in die Verrohung.

    Nach dem Krieg wurden diese Toten - totgeschwiegen; wer einen kranken Angehörigen preisgegeben hatte, wollte nicht daran erinnert werden. Photos gefallener Soldaten bekamen einen Ehrenplatz im Wohnzimmer; die vergaste verrückte Tante war peinlich. Götz Aly verurteilt die Angehörigen nicht, deren Handlungsspielräume er zuvor so genau vermessen hat. Er konstatiert, stellt fest, und versucht ihrer Lage gerecht zu werden.

    "Wir Heutigen sollten uns nicht leichtfertig über die Eltern, Geschwister und Gatten erheben, die damals wankten. Sie lebten unter sehr viel schwierigeren Umständen. Anders als heute bestand, etwa im Fall der Geburt eines behinderten Kindes, keine Aussicht auf großzügige staatliche Hilfen, sondern die reale Bedrohung, dass die gesamte Familie als erblich belastet eingestuft und dauerhaft um ihre Zukunftschancen gebracht werden würde."

    So macht Götz Alys Buch über die untersuchte historische Periode hinaus auch den heutigen Leser nachdenklich. Die Einstellung des Menschen zu Behinderten, selbst zu eigenen Angehörigen, die oft eine schwere Last sind, ist ambivalent und stets gefährdet. Es kommt auf die Gesellschaft an, ob diese Ambivalenz zum Guten und Fürsorglichen ausschlägt oder ins Inhumane.


    Götz Aly: "Die Belasteten. "Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte"
    S. Fischer, Frankfurt 2013, 320 Seiten.