Dienstag, 23. April 2024

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Evangelische Kirche und DDR-Unrecht
Gedemütigt, drangsaliert, inhaftiert

Die evangelische Kirche in der DDR bot Schutzräume für Regimekritikerinnen und -kritiker. Es gab aber Kooperation mit dem SED-Staat. Die Evangelische Kirche Mitteldeutschlands bekannte sich 2017 dazu, Menschen nicht genug geschützt oder sogar verraten zu haben. Nun sollen Betroffene konkrete Hilfe bekommen.

Von Henry Bernhard | 31.05.2021
Mit Blumen erinnerten Politiker und Bürger in der Gedenkstätte Bernauer Straße an die Toten der Berliner Mauer und an den Mauerfall vor 30 Jahren
Gedenken an DDR-Unrecht in der Kirche: Die EKM will Opfer offiziell anerkennen und entschädigen (AFP / Tobias Schwarz)
Thomas Kretschmer hat in den 70er-Jahren im Augustinerkloster in Erfurt fünf Semester Theologie studiert. Bis 1978: "Ich war fünf Semester dort Student, bin exmatrikuliert worden mit fadenscheinigen Begründungen. Und ein paar Jahre später, nach ´89, haben wir in der Stasi-Akte eine Randbemerkung zu dem Thema gelesen, eine handschriftlich zugefügte Randbemerkung: ‚Wurde auf unser Betreiben aus dem Studium entfernt'."
Auch ein Studium in Jena hat vermutlich die Stasi vereitelt. Kretschmer wurde später, nach mehreren Jahren Gefängnis, unter anderem wegen Wehrkraftzersetzung, Holzbildhauer, der auch therapeutisch mit Psychiatriepatienten arbeitete. Sein Blick auf die Evangelische Kirche der DDR ist differenziert. Er habe viel Gutes erlebt, vor allem in der Offenen Arbeit mit Jugendlichen, aber auch Anbiederung.
"Es gab in der DDR-Kirche streckenweise und gegendweise so einen Pragmatismus: ‚Wir müssen mit diesem sozialistischen Staat zurechtkommen, uns arrangieren.‘ Und da wurden die richtig devot, den Staatlichen gegenüber. Also, ähnliche Geschichten, wie es das im Dritten Reich auch gab."

Ausgereisten Priestern Anstellung im Westen verweigert

Eine andere Geschichte erlebte Thomas Naumann. Er hatte in Halle Theologie studiert und wollte Pfarrer werden. Da aber seine Frau als Lehrerin durch ihr friedenspolitisches Engagement Berufsverbot erhielt, stellten sie einen Ausreiseantrag und reisten im Februar 1989 in den Westen aus.
Thomas Naumann: "Und ich habe eigentlich die Ablehnung in Hessen erlebt, also von der West-Kirche. Die Westkirche hat mir mit sehr deutlichen und brachialen Worten klargemacht, dass sie mich jetzt nicht anstellt und auch künftig nicht anstellen wird. Und zwar aus Solidarität mit den Brüdern und Schwestern in Ost-Deutschland. Also die Stasi sind wir losgeworden, aber nicht den langen Arm der ostdeutschen Kirchen und ihrer westdeutschen Solidarpartner."
Wiedervereinigung von evangelischer Kirche Ost und West: Einheit ohne Wandel
Zwei konträre deutsche Staaten mussten vor 30 Jahren zusammengebracht werden. Vieles ist gelungen. Aber der Geburtsschmerz hält an. Auch in den Kirchen. Im Januar 1990 wurde der Grundstein gelegt für die evangelische deutsche Einheit.
Vielfach haben die westdeutschen Landeskirchen den Bleibe-Imperativ der ostdeutschen Kirchen übernommen und ausgereisten Pfarrern ohne Würdigung der individuellen Umstände zeitweise oder auf Dauer eine Anstellung verweigert.
Thomas Naumann: "Der Auftrag Gottes besteht darin, dass du in der DDR zu bleiben hast. Und wenn du diesem Auftrag nicht nachkommst, dann verrätst du nicht nur die, die aushalten in der Not, sondern Gott selber. Die Vorstellung, dass jemand aufgrund freier Gewissensentscheidung auch zu einem anderen Entschluss kommt, diese Offenheit gab es nicht in der DDR-Kirche."

EKM: "Wir haben Unrecht nicht deutlich genug widersprochen"

Im Oktober 2017 veröffentlichte die EKM, die Evangelische Kirche Mitteldeutschland, ein Bußwort. Sie bekannte darin, zu schwach, zu blind, zu inkonsequent gewesen zu sein, als es galt, Christen gegen die Zudringlichkeiten des SED-Staates zu verteidigen. Unter anderem hieß es:
"Wir haben Unrecht oft nicht deutlich genug widersprochen.
Wir beklagen, dem SED-Staat nicht klarer und kompromissloser entgegengetreten zu sein. Bis heute übernehmen wir als Kirche nicht die nötige Verantwortung für Menschen, die unter Mithilfe oder nach Verrat aus kirchlichen Kreisen inhaftiert, gedemütigt, traumatisiert oder zur Ausreise gedrängt wurden."
Der Weg bis zu diesem Bekenntnis 27 Jahre nach dem Ende der DDR war schwierig, für viele zu lang, der Inhalt bis zum Schluss umstritten. Die Evangelische Kirche Mitteldeutschland verspricht am Ende, "das uns Mögliche für eine Heilung der Erinnerung und für Versöhnung tun". Für Thomas Kretschmer damals ein wichtiger Schritt der EKM.
"Ich habe den Eindruck, dass das, was ich von der Kirche gebraucht habe, also so ein Anerkenntnis – da haben die Offiziellen versagt oder die Augen zugedrückt oder politisch kalkuliert, waren nicht christlich-barmherzig –, das habe ich ein paarmal gehört, auch von offiziellen Kirchenvertretern. Damit bin ich eigentlich schon einverstanden."

Anerkennung der Opfer

Nun, dreieinhalb Jahre nach dem Bußwort, geht die EKM den nächsten Schritt und will Verantwortung konkreter machen. Opfer können sich an eine Ombudsperson wenden. Ihnen wird in Aussicht gestellt, dass ihr erlittenes Unrecht formal anerkannt wird, auch finanzielle Hilfsleistungen sind vorgesehen. Dafür stehen 500.000 Euro zur Verfügung. Für Johannes Beleites, der bei der EKM den Beirat für Versöhnung und Aufarbeitung leitet, ein wichtiges Zeichen.
"Es steht jetzt eigentlich im Vordergrund: Wie sind wir mit den Leuten umgegangen? Und wie können wir deren Lebensgeschichte auch anerkennen und auch sagen, auf was für einen Schatz an Personen diese Landeskirche eigentlich steht und gebaut ist?"
Kirchlicher Widerstand 1989
An Ost-Berliner Kirchen wurde so lange demonstriert, bis politische Gefangene freigelassen wurden. So schrieben Oppositionelle vor 30 Jahren Geschichte. Mit Mahnwachen und Kerzen und Gesangbüchern in der Hand gegen den SED-Staat – etwa an der evangelischen Zionskirche.
Beleites steht auch dem vierköpfigen Anerkennungsausschuss vor, dem von der Ombudsperson der EKM die Fälle mit Aussagen, mit Akten zugeleitet werden, um sie zu bewerten: "Es ist nicht nur so, dass sie Anträge stellen können, sondern auch die Kirche kann auf sie zugehen. Es geht nicht nur um Pfarrer, die zum Beispiel einen Ausreiseantrag gestellt haben und dann ihre Ordinationsrechte zurückgeben mussten und dadurch im Westen erst einmal für meistens so zwei bis drei Jahre gesperrt waren und nicht mehr ins Pfarramt gehen durften. Sondern es geht eben auch um Leute, die in der DDR geblieben sind und dann eben vom Theologiestudium exmatrikuliert wurden oder als Pfarrer hier drangsaliert wurden und Disziplinarstrafen bekommen haben und einfach ein schweres Leben deswegen hatten, weil sie sich für die richtige Sache eingesetzt haben, und mit dem mit dem bösen Beigeschmack, dass sie sozusagen auch sogar von der Kirche drangsaliert wurden. Und dass jetzt die Kirche sagt, damit wollen wir uns beschäftigen. Damit müssen wir uns auch beschäftigen und möglichst schnell, bevor die Leute gestorben sind, finde ich eine tolle Sache."

"Das ist Teil der Kirchengeschichte der DDR-Zeit"

Dass mit einer halben Million Euro keine entgangenen beruflichen Karrieren vieler Antragsteller entschädigt werden können, ist bei der EKM bekannt. Die Ombudsperson Hildigund Neubert, eingesetzt von der EKM, aber nicht abhängig in ihren Entscheidungen, sieht den Schwerpunkt ohnehin nicht beim Materiellen.
Hildigund Neubert bei einer Ansprache am 09.11.2019
Die DDR-Bürgerrechtlerin Hildigund Neubert wurde von der EKM als Ombudsperson eingesetzt (IMAGO / POP-EYE / Ben Kriemann)
Neubert: "Auf der einen Seite geht es darum, diese Geschichte erst mal wahrzunehmen. Dass man sagt: Das ist Teil der Kirchengeschichte der DDR-Zeit. Dass da Menschen engagiert waren im Sinne des Evangeliums oder für ihre Mitmenschen oder für die Schöpfung – wie auch immer –, dass sie aber da alleingelassen wurden. Also, sowohl dieses Engagement als eben auch der kritische Blick auf das Handeln der Kirche, dass das festgehalten wird. Ob das eine Veröffentlichung wird oder wie auch immer, das möchte ich gern mit den Betroffenen besprechen. Und sie sollen da ihre Vorstellungen auch einbringen. Also: Wahrnehmung der Geschichte, vielleicht ergibt sich auch eine Ausstellung, muss man sehen, und eben auch die Möglichkeit, Geld zu zahlen."

"Von westdeutschen Kirchen bis heute nichts zu hören"

Thomas Naumann, der im Westen nicht Pfarrer werden konnte, fand in der Wissenschaft Aufnahme. Die Initiative der EKM begrüßt er ausdrücklich und bezeichnet sie als "gelebte Versöhnung".
"30 Jahre später ist das immer noch ein vermintes Gelände. Es ist eben schwer, in der Heldengeschichtserinnerung zuzulassen, dass hier auch gravierende Fehler gemacht worden sind. Und ich stehe heute auch für eine Haltung, die fordert, dass die EKD als Ganze sich mit diesem dunklen Kapitel auseinandersetzt. Und es ist ja immer noch so, dass die Mitteldeutsche Kirche überhaupt die einzige ist, die sich offen mit dieser Vergangenheit beschäftigt, die eingesteht, dass da nicht nur Fehler passiert sind, sondern dass da auch Schuld auf sich geladen wurde. Von den westdeutschen Kirchen ist da bis heute nichts zu hören."