Ein Experiment im Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Ein Forscherteam um den Psychologen Michael Tomasello hat in die Mitte eines Raums ein Bündel Bananen gelegt. Ein Schimpanse kommt herein, sieht die Früchte - und einen ranghöheren Schimpansen, der auch auf die Bananen schaut. Also trollt er sich und überlässt dem dominanten Tier das Feld.
Ein zweiter Versuch. Diesmal kann der ranghöhere Schimpanse die Bananen nicht direkt sehen, die Forscher haben eine Wand vor ihn gestellt. Der rangniedere Schimpanse hat aber vorher beobachten können, dass das ranghöhere Tier gesehen hat, wie die Bananen hinter die Wand gelegt wurden. Auch in diesem Versuch rührt das rangniedere Tier die Bananen nicht an.
Mit Hilfe solcher Experimente möchte Michael Tomasello die Ursprünge des Geistes bei den Menschenaffen verstehen, unserer nächsten Verwandten.
"Der rangniedere Schimpanse versteht nicht nur, was der andere Affe sehen oder nicht sehen kann. Er begreift auch, was der ranghöhere Affe weiß oder nicht weiß: Das dominante Tier kann die Bananen zwar aktuell nicht sehen, weiß aber, dass sie da sind."
Menschenaffen haben eine "individuelle Intentionalität"
Schimpansen, folgert Michael Tomasello, können sich in gewisser Weise in den Geist anderer Affen hineinversetzen und ihre Perspektive einnehmen. Sie können auch Mengen richtig einschätzen, Werkzeuge herstellen und aus Geräuschen schließen, ob sich in einem Becher Futter befindet. So erstaunlich das ist, meint Michael Tomasello, jedoch: Menschenaffen wie Schimpansen, Bonobos oder Gorillas setzen diese Fähigkeiten meist nur ein, um erfolgreich miteinander zu konkurrieren: Kann ich als erster die größte Menge an Futter ergattern? Darf ich es nehmen oder bekomme ich Probleme mit einem ranghöheren Tier? Menschliches Denken dagegen, so Tomasello, sei viel stärker an Gemeinsamkeit orientiert.
"Menschen bilden verbindliche Ziele aus, um etwas gemeinschaftlich zu tun. Wir entscheiden uns, etwas zusammen zu machen und teilen die Aufgaben auf: Der eine hat diese Rolle, der andere jene, und so weiter. Das sind kooperative Handlungen, die so bei keiner anderen Primatenart auftreten."
Tomasello nennt diese Eigenschaft des menschlichen Geistes "geteilte" oder "Wir-Intentionalität": Man entwickelt gemeinsam Absichten und einen Plan, sie umzusetzen. Im Unterschied dazu besäßen unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, nur eine sogenannte "individuelle Intentionalität". Die Tiere haben Absichten und können die Absichten und Wünsche anderer Tiere recht gut erkennen. Sie helfen sich auch manchmal gegenseitig, um an Futter zu gelangen. Aber sie arbeiten nie planmäßig auf ein gemeinsames Ziel hin zusammen. Tomasello hat diese Thesen jahrelang in vergleichenden Studien an Menschenaffen und Kleinkindern getestet. In seinem gerade erschienenen Buch "Die Naturgeschichte des menschlichen Denkens" versucht er, die Evolution des Geistes insgesamt zu verstehen: Wie kommt man vom individuellen, konkurrenzbezogenen Geist der Menschenaffen zum kollektiv orientierten menschlichen Geist? Für Tomasello beginnt diese Entwicklung mit einem ersten Schritt vor circa 400.000 Jahren Damals existierten Wildbeutergesellschaften, in denen Menschen in größeren Gruppen zusammenlebten. Um zu überleben, mussten die Menschen neue Formen der Koordination finden. Man jagte gemeinsam, sammelte gemeinsam Pflanzen und teilte die Ausbeute untereinander auf. Einfach deshalb, weil man begriff, dass man wechselseitig voneinander abhängig war.
Handle so, dass du als soziales Wesen anerkannt wirst
"Wenn ich mit anderen zusammen jage, muss ich nicht völlig altruistisch sein, also nur an das Wohl der Anderen denken. Es genügt, wenn ich mir sage, dass wir beide von der Zusammenarbeit profitieren. Wenn der andere zum Beispiel beim Jagen seinen Speer nicht mehr findet und ich ihm zeigen kann, dass er hinter einen Baum geflogen ist, hilft uns das beiden."
Nach Tomasello entwickelt sich in dieser Phase daher eine bildhafte Gestensprache. Man zeigt an, wo der Speer liegt. Oder macht eine Schlängelbewegung mit der Hand, um auf eine Schlange hinzuweisen. Gleichzeitig entwickelt sich die beim Menschenaffen angelegte Fähigkeit weiter, sich in die Perspektive anderer zu versetzen. Jetzt registriert man nicht nur was der andere weiß und denkt, sondern denk auch darüber nach, was der andere denkt, dass man selber denkt. Nur so kann man während der Jagd wirklich gemeinsam angemessen auf neue Situationen reagieren. Die Menschen beginnen sich nun auch aus der Perspektive des Anderen selbst zu beobachten und zu bewerten: Bin ich ein guter Kooperationspartner? Sind meine Gesten gut genug, damit der andere sie versteht? Für Tomasello entstehen daraus die Vorläufer moralischer Normen. Handle so, dass du in der Gruppe als soziales Wesen anerkannt wirst. Die weitere Evolution des Geistes geschieht dann in immer größer werdenden Gesellschaften, die den Rahmen direkter zwischenmenschlicher Kommunikation sprengen.
"Menschen, die zum Beispiel schon häufiger nach Knollen gegraben haben, verstehen eine bildhafte Geste, die die Grabbewegung der Hände nachahmt. Was aber ist bereits mit dem Kind, dass diese Erfahrung nicht hat? Wenn es eine gute Einbildungskraft hat, stellt es sich vielleicht vor, dass es bedeuten könnte 'Auf geht’s', 'Lasst uns zur Jagd' aufbrechen oder etwas noch Allgemeineres."
Zeichen erhalten ihre Bedeutung durch Konventionen
In komplexen Gesellschaften, in denen immer mehr Menschen miteinander kooperieren müssen, genügt es nicht, wenn die Bedeutung von Zeichen an unmittelbare gemeinsame Erfahrungen gebunden sind. Sie müssen über konkrete Situationen hinaus prinzipiell für alle verständlich sein.
"Der Weg dorthin verläuft, glaube ich, analog zu dem, was passiert, wenn Menschen bildhafte Zeichen nicht mehr unmittelbar verstehen. Die Bildhaftigkeit geht verloren und die Zeichen erhalten ihre Bedeutung einfach durch gemeinsame Festlegungen, durch Konvention."
Damit ist für Tomasello die menschliche Stufe der geteilten Intentionalität erreicht. Das Leben ruht nun auf einer großen gemeinsamen Aktivität. Die Bedeutung von Zeichen wird durch Konventionen festgelegt, es gibt Regeln für die Sprache und für gutes Argumentieren. In ähnlicher Weise werden gemeinsame Normen entwickelt, Wissensbestände weitergegeben und Institutionen errichtet, die das Wissen weiterentwickeln und das soziale Leben regeln. Natürlich gibt es egoistische Interessen und Machtkämpfe - aber all das ruht auf einem gemeinschaftlichen Hintergrund des Denkens, einem generellen "Wir".
Der Versuch Michael Tomasellos, die Evolution des menschlichen Denkens nachzuzeichnen, ist nicht frei von Spekulation. Überzeugend ist er dennoch. Denn er kann stimmig erklären, wie animalischer und menschlicher Geist zusammengehören und sich zugleich voneinander unterscheiden.