Meurer: In Ihrer Fraktion, Herr Pöttering, gibt es ja unterschiedliche Ansichten über diese Frage. Warum sind Sie selbst gegen Beitrittsverhandlungen?
Pöttering: Ja, Herr Meurer, zunächst einmal muss man sagen, dass es in allen Fraktionen unterschiedliche Ansichten gibt. Das ist ja auch nicht verwunderlich, weil es sich um eine wirklich schwerwiegende Frage handelt. Meine persönliche Position ist so, dass ich wohl für Verhandlungen bin, die ja beschlossen werden am Freitag, aber eben mit einem offenen Ende. Das heißt die Verhandlungen können zu einer Mitgliedschaft oder zu einer Nicht-Mitgliedschaft oder zu einer besonderen Form der Partnerschaft führen. Dafür trete ich ein mit vielen unserer Kolleginnen und Kollegen, für eine privilegierte Partnerschaft.
Meurer: Da sagen aber Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer, auch wir wollen ergebnisoffene Verhandlungen?
Pöttering: Ja. Nur in der Konsequenz sagen sowohl Bundeskanzler Schröder wie auch Außenminister Fischer, dass sie doch die Mitgliedschaft der Türkei wollen. Hier liegt unser Akzent anders. Wir wollen als Ergebnis eine besondere Form der Kooperation, der Zusammenarbeit, keine Mitgliedschaft in den Institutionen, sondern eine enge Zusammenarbeit in Fragen der Außen-, der Sicherheitspolitik, der Wirtschaftspolitik, aber eben nicht die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, weil dieses die Europäische Union nach unserer Ansicht überfordern würde. Wir haben jetzt gerade die Erweiterung um zehn Länder gehabt. Das müssen wir zunächst einmal verkraften. Wir sind der Ansicht, die Europäische Union darf sich nicht zu Tode erweitern.
Meurer: Warum soll die EU in zehn Jahren nicht so weit sein, ein weiteres großes Land aufzunehmen?
Pöttering: Schauen Sie, die Türkei hat 70 Millionen Einwohner, sehr viele junge Menschen. Das ist sehr erfreulich, dass sie viele junge Menschen hat, und es ist bei der Geburtenentwicklung zu erwarten, dass die Türkei in 10, 15 Jahren 90, vielleicht sogar 100 Millionen Menschen hat. Die Türkei wäre dann auch von ihren Stimmen in den europäischen Institutionen das einflussreichste Land und würde gleichzeitig weitestgehend auch über die Hilfen, die der Türkei gegeben werden müssen, dann entscheiden. Das sind ja Milliarden-Summen und dieses würde die Europäische Union ganz nachdrücklich verändern, ganz abgesehen von den kulturellen Fragen.
Meurer: Würden Sie nicht in der augenblicklichen Situation der EU selbst schaden, Herr Pöttering, mit Ihrer Haltung? Wir sollten ein Interesse haben, sagen Schröder und Fischer, an einer stabilen Türkei, gerade in Zeiten von Islamismus und Terrorismus?
Pöttering: Ja, aber selbstverständlich, Herr Meurer, wollen wir starke Bindungen haben an die Türkei. Wir haben ein großes Interesse daran, dass die Türkei sich vernünftig entwickelt. Wir alle kennen auch die Fortschritte, die dort in den letzten Jahren gemacht wurden, insbesondere unter der Regierung Erdogan. Aber leider müssen wir ja auch feststellen, dass vieles nur auf dem Papier steht. Es sind Gesetze beschlossen, die aber noch nicht umgesetzt sind. Es werden noch systematisch die Menschenrechte verletzt. Wenn auch Herr Verheugen, den ich sonst sehr schätze, weil er die Erweiterung um die zehn Länder gut bewerkstelligt hat, davon spricht, es gibt keine systematische Folter mehr in der Türkei, dann ist das das Unwort des Jahres, weil dieses ja zubilligt, dass es doch umfassende Folterung in der Türkei gibt. Das heißt wir verhandeln mit einem Land, in dem die Menschenrechte massiv verletzt werden. Die Türkei anerkennt nicht Zypern. Das heißt es beginnen Verhandlungen mit 25 Ländern der Europäischen Union und ein Land von diesen 25 wird von den Türken gar nicht anerkannt. Es gibt also viele Probleme.
Meurer: Aber die Anerkennung von Zypern, Herr Pöttering, ist nicht Teil der so genannten Kopenhagener Kriterien, die darüber entscheiden, welches Land wann die Voraussetzungen erfüllt. Wenn die Türkei alle Voraussetzungen erfüllen würde, was spricht dann gegen einen Beitritt?
Pöttering: Aber Herr Meurer, gleichwohl können Sie doch mit diesem Argument, das Sie in Frageform was Zypern angeht zum Ausdruck gebracht haben, nicht in Frage stellen, dass die Türkei ein Mitgliedsland der Europäischen Union nicht anerkennt und mit diesem Land wird über den Beitritt der Türkei verhandelt. Das ist doch schon gar nicht logisch, dass die Türkei ein Land gar nicht als Existenz erklärt, mit dem aber über den Beitritt verhandelt wird.
Meurer: Sie hat aber auch dort beim Referendum auf Zypern schon großes Entgegenkommen gezeigt.
Pöttering: Gut, das ist richtig. Das muss man anerkennen. Aber gleichwohl besteht die Republik Zypern völkerrechtlich und das muss man auch anerkennen.
Ich möchte aber gerne etwas sagen zu dem Argument der Demokratieentwicklung. Natürlich wollen wir, dass die Demokratie sich in der Türkei entwickelt, aber wir können auch nicht jedes Land, von dem wir erwarten, dass es sich demokratisch entwickelt, in die Europäische Union aufnehmen. Wenn von der Bundesregierung, vom Bundeskanzler und vom Außenminister, behauptet wird, wir bräuchten sozusagen die Mitgliedschaft der Türkei, um eine Brücke zur islamischen Welt zu haben - und wir wollen ja gute Beziehungen zur islamischen Welt haben; wir wollen keinen Zusammenprall der Kulturen -, dann ist dieses Argument meines Erachtens im Hinblick auf die Türkei nicht tragfähig, weil nämlich wir nicht alle Länder, die aus der arabischen Welt gegebenenfalls in die Europäische Union wollen, aufnehmen können. Was passiert beispielsweise: wir nehmen die Türkei auf und weisen am Ende aber Algerien, Marokko, Tunesien und Libyen, wenn sie Mitglied werden wollen, zurück? Es wäre ja geradezu eine Diskriminierung der arabischen Moslems, wenn wir sie zurückweisen, aber die türkischen Moslems nicht aufnehmen.
Meurer: Wie stehen die Chancen, Herr Pöttering, dass es am Freitag noch eine spezielle Klausel in dem Beschlusstext geben wird?
Pöttering: Herr Meurer es ist ja so, dass der Beschluss der Staats- und Regierungschefs im Hinblick auf die Verhandlungen einstimmig sein muss. Wenn man diese Einstimmigkeit erreichen will, dann müssen sich alle bewegen. Wir als christdemokratische Europäische Volkspartei haben den Bundeskanzler Österreichs, Wolfgang Schüssel, gebeten, eine Formel für die EVP zu erarbeiten, die zunächst einmal innerhalb unserer Parteienfamilie der Europäischen Volkspartei tragfähig ist, also Zustimmung findet, und dann auch hoffentlich Zustimmung findet auf dem Gipfel. Wir stellen uns die Sache so vor, dass man sagt die Verhandlungen beginnen, die Verhandlungen sind ergebnisoffen und wenn sich eine Mitgliedschaft der Türkei als nicht erreichbar herausstellt, dann muss es eine andere Form der Kooperation geben, eine andere Form der Zusammenarbeit. Dieses kann dann die privilegierte Partnerschaft sein, ohne dass man diesen Ausdruck erwähnt, aber angedeutet werden sollte das in dem Beschluss.
Meurer: Wird es auch eine Klausel geben, dass ein Drittel der Mitgliedsstaaten jederzeit die Gespräche abbrechen kann?
Pöttering: Das ist ja in den Vorschlägen, die jetzt auf dem Tisch liegen. Wenn die Türkei in massiver Weise Menschenrechte weiter verletzt oder zusätzliche Menschenrechtsverletzungen hinzu kommen, dann muss es die Möglichkeit geben, die Verhandlungen zu unterbrechen. Ich denke, dass so etwas beschlossen wird.
Meurer: Der Vorsitzende der EVP-Fraktion Hans-Gert Pöttering bei uns im Deutschlandfunk. Besten Dank und auf Wiederhören Herr Pöttering!
Pöttering: Ja, auf Wiederhören Herr Meurer.