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Ex-Bundeswahlleiter: Zur Demokratie gehört auch das Recht, nicht zu wählen

"Wir wollen ja, dass die Wahl frei ist", sagt der ehemalige Bundeswahlleiter Johann Hahlen. Das bedeute auch, dass man zu Hause bleiben könne. Es sei allerdings nicht gut, dass Studien zufolge bildungsferne und einkommensschwache Menschen dazu neigten, nicht zur Wahl zu gehen.

Johann Hahlen im Gespräch mit Friedbert Meurer | 19.09.2013
    Friedbert Meurer: Zu einer erfolgreichen demokratischen Wahl gehört, dass möglichst viele auch hingehen und teilnehmen. Seit Jahren aber sinkt die Wahlbeteiligung von Wahl zu Wahl in Deutschland. Das Desinteresse könnte daher rühren, dass die Parteien sich zu ähnlich geworden sind, aber auch daran, dass Deutsche in den weniger schicken Stadtteilen sich von keiner Regierung und Opposition mehr irgendetwas versprechen. Johann Hahlen hat als Bundeswahlleiter gleich drei Bundestagswahlen organisiert: 1998, als Gerhard Schröder gewann, 2002 und dann auch noch einmal 2005. Guten Morgen, Herr Hahlen.

    Johann Hahlen: Guten Morgen, Herr Meurer.

    Meurer: Gehört zur Demokratie das Recht, nicht zu wählen?

    Hahlen: Ja selbstverständlich gehört das dazu, denn wir wollen ja, dass die Wahl frei ist. Und nur wer frei sich entscheiden kann, der kann auch sagen, nein, ich bleibe zu Hause oder ich gehe ins Wahllokal.

    Meurer: Also akzeptieren Sie es?

    Hahlen: Ja selbstverständlich.

    Meurer: Kein negativer Beigeschmack, dass jemand auf sein demokratisches Recht verzichtet?

    Hahlen: Na ja, wir waren ja zu Beginn unserer Demokratie in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren gewissermaßen ein bisschen die Vorbilder, die Musterknaben in Europa mit Wahlbeteiligungen von zweimal über 90 Prozent, was außerordentlich hoch ist. Aber mittlerweile nähern wir uns oder haben wir uns dem europäischen Durchschnitt angenähert. Nehmen Sie Frankreich, nehmen Sie Italien, nehmen Sie Großbritannien oder Spanien: Überall liegt die Wahlbeteiligung mittlerweile zwischen 70 und 75 oder höchstens 80 Prozent.

    Meurer: Warum hat das in Deutschland nachgelassen?

    Hahlen: Das ist eine schwierige Frage. Da streiten sich die Wahlforscher darum. Es gibt Untersuchungen aus jüngerer Zeit, die sagen, das scheint einmal eine Frage des Alters der Menschen zu sein. Leider gehören jüngere Leute, gerade so zwischen 18 und 30 Jahren, zu denen, deren Wahlbeteiligung am geringsten ist. Und dann scheint es auch eine Frage der Bildung und der Einkommen zu sein und man stellt fest, dass, wie man sagt, bildungsferne und einkommensschwache Menschen dazu neigen, nicht zur Wahl zu gehen. Und das ist nicht gut.

    Meurer: Es ist deswegen nicht gut, weil es die Repräsentanz ja letzten Endes verzerrt, wenn, ich sage jetzt mal, die besseren Stadtteile eine Wahlbeteiligung von 80 Prozent haben und andere Stadtteile dann nur 30 oder 40 Prozent. Ist das nicht sogar eine Gefahr für die Demokratie, wenn bestimmte Schichten gar nicht mehr repräsentativ vertreten sind?

    Hahlen: Ja, es gibt ja Wahlforscher, die sagen, unsere Demokratie droht, zu einer Zwei-Drittel-Demokratie zu werden. Ich bin nicht so skeptisch. Denn wie gesagt, die Bewegungen der Wahlbeteiligung sind unterschiedlich. In den Landtagswahlen haben wir zum Beispiel in Deutschland jetzt in einigen Bundesländern wieder einen erfreulichen Aufwärtstrend, so in Baden-Württemberg schon vor zwei Jahren, jetzt in Bayern. Und ich hoffe auch, dass vor allem in den neuen Ländern, in denen die Wahlbeteiligung ja seit der Wiedervereinigung erstaunlich gering ist, dass sie sich da doch langsam wieder oder langsam dem Durchschnitt in den alten Ländern annähert.

    Meurer: Aber das ist nur eine Hoffnung. Warum ist sie da so gering, im Osten?

    Hahlen: Das ist eine ganz schwierige Frage, zumal bei der ersten demokratischen Wahl im März 1990 in den neuen Ländern eine Wahlbeteiligung von über 93 Prozent war. So hoch war sie in Deutschland unter demokratischen Verhältnissen noch nie. Und dann ist sie bei der ersten gesamtdeutschen Wahl auf gut 77 Prozent abgesackt und in den neuen Ländern liegt sie seither immer signifikant bei Bundestagswahlen, aber auch bei Landtagswahlen, deutlich niedriger.

    Meurer: Herr Hahlen, von Ihren Erfahrungen als Bundeswahlleiter her gesehen: Wenn eher in besseren Stadtteilen die Wahlbeteiligung hoch ist, profitieren davon die bürgerlichen Parteien?

    Hahlen: Da gibt es Untersuchungen, die sagen, ja, das ist so. Das kann man an Untersuchungen ablesen, die in Köln zum Beispiel durchgeführt worden sind. Ich bin mir da aber nicht so ganz sicher, ob man das genau so festmachen kann, denn diese Untersuchungen haben genauso gezeigt, in den Stadtteilen, wo man sagt, da ist der Anteil der Arbeitslosen, der Hartz-IV-Empfänger höher, da sind dann auch die Ergebnisse von SPD und der Linkspartei auch deutlich höher.

    Meurer: Gut für die Wahlbeteiligung, Herr Hahlen, ist vermutlich das Instrument der Briefwahl. Letztes Mal hat jeder fünfte Deutsche per Brief gewählt. In Bayern jetzt bei der Landtagswahl waren es noch mehr, vermutlich am Sonntag wieder eine Steigerung. Bekommen Sie langsam Bedenken, dass die Briefwahl nicht mehr eine Ausnahme, sondern die Regel wird?

    Hahlen: Ja, die Entwicklung ist zu sehen, und man hört jetzt ja auch aus den großen Städten, dass die Nachfrage nach Briefwahlunterlagen noch mal größer geworden ist als 2009. Auf der anderen Seite muss man sehen: Unsere Gesellschaft und wir alle sind mobiler geworden, wir wollen uns auch an dem Wahltag, an dem Sonntag nicht einschränken in unserer Zeiteinteilung. Und wir müssen auch sehen: Wir werden insgesamt als Gesellschaft nicht jünger, sondern eher älter, und von daher ist die Briefwahl was Gutes. Auf der anderen Seite bin ich immer noch ein Fan davon, dass man auch einmal in vier Jahren deutlich zeigt, indem man ins Wahllokal geht: Ja, diese Demokratie ist was Gutes.

    Meurer: Muss man da nicht langsam einen Riegel vorschieben und wieder sagen, Briefwahl nur in begründeten Fällen? Das geht ja heute, ohne irgendeine Begründung abgeben zu müssen.

    Hahlen: Das war ja bis 2008 der Fall. Da musste man ja einen Grund angeben: Entweder man war krank oder man war abwesend, weil man in Urlaub war, oder aus sonstigen beruflichen Gründen. Es hat sich aber herausgestellt, bei der großen Zahl der Briefwähler – die sind ja dann direkt in die Millionen gegangen -, dass niemand diese Gründe hat nachprüfen können. Und daraufhin hat der Gesetzgeber 2008 gesagt, dann verzichte ich darauf. In der Schweiz zum Beispiel ist man ja noch viel weiter gegangen. Dort bekommt bei Volksabstimmungen jeder Bürger unaufgefordert, ohne dass er einen Antrag stellt, wie das bei uns der Fall ist, die Briefwahlunterlagen.

    Meurer: Mal zugespitzt gesagt: Könnten wir nicht gleich auch online wählen?

    Hahlen: Da hätte ich nun große Bauchschmerzen. Denn das Wahlgeheimnis ist doch ein sehr, sehr hohes Gut. Und wenn ich mir vorstelle, dass wir über das Internet, wo die Zugriffe doch allenthalben sichtbar werden, unsere Stimme abgeben sollten, davon würde ich dringend abraten.

    Meurer: Sie meinen, das fischt jemand ab und veröffentlicht dann Millionen von Daten?

    Hahlen: Das weiß ich nicht. Aber die Möglichkeit ist nicht auszuschließen. Im Übrigen ist es so, wenn ich auch hier an meinem Computer sitze: Manchmal sagt der, die Verbindung zum Server ist gegenwärtig nicht vorhanden. Wenn das am Wahltag passiert und wenn das hunderten und tausenden von Menschen passiert, dann ist das aber mit der allgemeinen Wahl dann ein Riesenproblem. Also lieber bei der Urnenwahl im Wahllokal und dem Stimmzettel bleiben.

    Meurer: Der frühere Bundeswahlleiter Johann Hahlen heute Morgen im Deutschlandfunk zum Thema Nichtwähler und zur steigenden Briefwahl in Deutschland. Danke für das Interview, Herr Hahlen, auf Wiederhören!

    Hahlen: Auf Wiederhören, Herr Meurer.


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