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Ex-Europaminister Bagis
"In diesen Zeiten braucht Europa die Türkei mehr als umgekehrt"

Egemen Bagis führt für die Türkei die Beitrittsverhandlungen mit der EU. Er plädiert für einen Neuanfang in den Beziehungen und warnt: Das Votum des EU-Parlaments, die Beitrittsverhandlungen einzufrieren, dürfe nicht zu einem Abbruch des Dialogs führen.

Von Christian Buttkereit | 25.11.2016
    Der ehemalige Europaminister Egemen Bagis im Jahr 2014 bei einer Parlamentsdebatte.
    Der ehemalige Europaminister Egemen Bagis (hier im Jahr 2014) (AFP)
    "Es gibt ein Sprichwort in der Türkei – wenn man zu lange flirtet, kann es passieren, dass einer die Lust verliert. So hoffe ich, dass die EU nicht den Fehler macht und verliert einen so berechenbaren, stabilen und demokratischen Partner", sagte Egeman Bagis, der ehemalige türkische Europaminister und Verhandlungsführer mit der EU im Gespräch mit dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul.
    Ob die Türkei das Flüchtlingsabkommen aufkündige, sollte die EU tatsächlich die Beitrittsverhandlungen einfrieren, ließ Bagis offen.
    "Es müssen alle Optionen auf den Tisch. Wir haben hier drei Millionen syrische und irakische Flüchtlinge aufgenommen und 15 Milliarden Euro investiert. Die meisten von ihnen möchten nach Europa. Und unsere Kapazitäten sind nicht unendlich. Deshalb brauchen wir Hilfe."
    Bagis gehört zum Beraterstab von Staatspräsident Erdogan
    Doch das versprochene Geld sei ebenso wenig gekommen wie die Visa-Freiheit für türkische Staatsbürger in Europa. Bagis war Europaminister und Verhandlungsführer für die Gespräche mit der EU. 2013 trat er im Zuge eines Korruptionsskandals zurück. Aktuell gehört er zum Beraterstab von Staatspräsident Erdogan. Da überrascht es wenig, dass er weder den Präsidenten noch dessen politisches Auftreten für die europäisch-türkischen Verstimmungen verantwortlich macht:
    "Die Türkei ist kein Sultanat. Präsident Erdogan gibt da nur den Frust seiner Landsleute wieder. Denn die abschätzigen Äußerungen mancher europäischer Politiker haben die Türken sehr verletzt. Der EU sollte bewusst sein, dass die Türkei seit 60 Jahren versucht, Mitglied in diesem Klub zu werden."
    Kein Wunder also, dass die Europa-Begeisterung der Türken stark nachgelassen habe. Trotzdem genieße eine Mitgliedschaft in der EU Priorität vor allen anderen denkbaren Bündnissen, etwa mit Russland oder China, sagt Bagis.
    "In diesen Zeiten braucht Europa die Türkei viel mehr als umgekehrt. Sehen sie sich die globalen Herausforderungen an. Deshalb müssen wir einen Weg finden, um unsere Differenzen auszuräumen, Brücken zu bauen anstatt die vorhandenen abzureißen. Für viele Probleme kann die Türkei Teil der Lösung werden."
    Etwa beim Thema Flüchtlinge, dem Kampf gegen die Terrormiliz IS oder Fragen der Energiesicherheit. So plant die Türkei gemeinsam mit Russland die Erdgasleitung Türkish Stream, die durchs Schwarze Meer und über die Türkei Gas bis nach Griechenland in andere europäische Länder liefern soll.
    "80 Prozent der Energiequellen, die Europa benötigt, befinden sich entweder im Süden, Osten oder Norden der Türkei. Ohne die Kooperationsbereitschaft der Türkei hat Europa keinen Zugang zu diesen Energiequellen."
    Seien es Energiefragen,– Bagis sieht viele Gründe für eine eine enge Kooperation mit anderen Staaten.
    Bagis warnte im Gespräch mit dem ARD-Hörfunkstudio Istanbul davor, den Dialog zwischen der Türkei und Europa abzubrechen. Beide Seiten brauchten einander. Bagis regte an, die EU solle über neue Formen der Kooperation nachdenken.
    "Vielleicht sollte die EU verschiedene Formen der Mitgliedschaft einführen"
    "Bisher gibt es nur EU-Beitrittskandidaten, Kandidaten, mit denen bereits verhandelt wird, und Vollmitglieder. Vielleicht sollte die EU verschiedene Formen der Mitgliedschaft einführen. Also so etwas wie die privilegierte Partnerschaft, von der Kanzlerin Merkel vor Jahren sprach."
    Damals, so sagt Bagis heute, habe er Merkels Vorschlag als Beleidigung aufgefasst. Auch weil der Vorschlag unkonkret war. Inzwischen habe sich aber auch die EU stark verändert. Nicht zuletzt der Brexit der Briten zeige, dass der Gemeinschaft etwas mehr Flexibilität guttun würde.