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Ex-Radprofi Thomas Dekker
Ein Leben "unter Profis"

Er war das niederländische Radsporttalent schlechthin: Thomas Dekker, Jahrgang 1984. Durch ihn schien ein Tour-de-France-Sieg für sein Heimatland nach Jahrzehnten wieder möglich. Doch sein Leben verlief anders, als er und vor allem andere es sich vorgestellt hatten. Mit seiner Biographie hat er einen rettenden Schlussstrich unter sein altes Leben ziehen können.

Von Ralf Meutgens | 09.07.2017
    Ex-Radsportler Thomas Dekker 2014 bei der Tour Down Under.
    Ex-Radsportler Thomas Dekker 2014 bei der Tour Down Under. (Imago)
    Das alte Leben des Thomas Dekker war zuletzt dunkel. "Die Düsternis hat tausend Farben", schreibt er in seiner Autobiographie, die am 1. Juli 2017 in Deutsch erschienen ist. "Unter Profis" ist der deutsche Titel. Im Original heißt sie "Mijn gefecht". Und es war für ihn ein schwerer Kampf. Sowohl dem alten Leben, dem Leben als Radprofi, Adé zu sagen. Als auch insbesondere, dieses bisherige Leben als Buch niederzuschreiben.
    "Es war keine leichte Reise", so Thomas Dekker, "besonders nicht für meine Familie und Freunde. Es war belastend für sie, das zu lesen. Ich habe zehn Monate gebraucht, bis ich meine Geschichte geschrieben hatte, zusammen mit Thijs Zonneveld, dem holländischen Radsportjournalisten. Es gab eine Menge schlafloser Nächte, doch am Ende fühlte es sich gut an, dass ich meine Geschichte erzählt habe."
    Berufswunsch: Radprofi
    Die Geschichte beginnt für Dekker mit dem ersten Rennrad, das er mit elf Jahren geschenkt bekommt. Bis dahin ist alles, wie er es nennt "stinknormal". Die ersten Radtouren unternimmt er mit seinem Vater, sein großes Idol ist sein Landsmann und Radprofi Michael Boogerd. Er hängt als Poster über Dekkers Bett. Sein Wunsch, Radprofi zu werden, steht unverrückbar fest. Dekker durchpflügt die Jugendkategorien im Radsport von Sieg zu Sieg. Als er in der Klasse der Unter-17-jährigen fährt, liegt urplötzlich ein Brief vom Radsportteam Rabobank auf der Fußmatte. Die Einladung zu einem Mini-Trainingslager.
    Fortan gibt es für Dekker nur noch den Radsport. In der Schule sitzt er lustlos seine Zeit ab. Für ihn reine Zeitverschwendung. Er wechselt vom Gymnasium in die Realschule, bleibt sitzen, fällt durch die Abschlussprüfung und verzichtet auf die Wiederholung der Prüfung. Dafür geht es mit der Radsportkarriere umso steiler bergauf. Vom Gastfahrer des Rabobank Juniorenteams, über einen Vertrag, niederländische Meister der Junioren im Zeitfahren, erringt er im Jahre 2004, mit 20 Jahren, bei der Algarve-Rundfahrt der Radprofis Platz vier im Gesamtklassement. Einen Platz vor Lance Armstrong, der bis dahin fünf Mal die Tour de France gewonnen hatte.
    Das Jahresgehalt von Dekker beim Team Rabobank beläuft sich zu dieser Zeit auf 17.500 Euro. Im selben Jahr nimmt er im Zeitfahren an den Olympischen Spielen in Athen teil. Und sein Zimmer teilt er sich mit Michael Boogerd, der immer noch als Poster zuhause über seinem Bett hängt. "Manchmal kommt die Wahrheit ans Licht", erzählt Dekker im Interview heute, "im Radsport bleibt sie die meiste Zeit verborgen. Aus meiner Sicht ist alles in meinem Buch enthalten. Es mag für manche einige Jahre dauern, das zu erfahren und zu akzeptieren. Doch für mich war es die einzige Lösung."
    Infiziert von einer fast krankhaften Maßlosigkeit
    Alles wird anders, als ein Manager sich um die Belange von Dekker kümmert. Und um seine eigenen versteht sich. Der bestehende Vertrag als eines der hoffnungsvollsten Radsporttalente, das die Niederlande je hatte über 100.000 Euro wird aufgekündigt und verdoppelt. Dekker ist infiziert von einer fast krankhaften Maßlosigkeit. Er zieht um nach Belgien, im Profizirkus halten Alkoholexzesse, käufliche Frauen und Schlaftabletten Einzug. Doch dabei soll es nicht bleiben. Bei seiner ersten großen Rundfahrt als Neo-Profi, dem Giro d'Italia, wird ihm gnadenlos klar, dass er ohne Doping keine Chance mehr hat, mitzuhalten. Er beschreibt das bizarre Tempo berghoch. Ähnlich, wie es auch in Biographien anderer Radprofis vorkommt.
    Bekannte Dopingärzte werden genauso seine Begleiter, wie verbotene Medikamente, die teils durch gefälschte Atteste legalisiert werden. Doping mit Eigenblut in düsteren Hotelzimmern wird praktiziert. Er fällt nicht auf, bis im Jahre 2009 eine alte Blutprobe von ihm analysiert wird. Ein damals als nicht nachweisbar geltendes Medikament wird gefunden. Zwei Jahre Sperre sind die Folge. Es reißt ihm förmlich den Boden unter den Füßen weg. Er schafft es nicht mehr, an alte Leistungen anzuknüpfen. Stattdessen führt er einen zerstörerischen Kampf gegen sich selbst.
    Dekker schreibt sich seine Vergangenheit von der Seele
    Im Jahre 2013 schildert er erst der niederländischen Anti-Doping-Agentur, dann den heimischen Medien seine Zeit beim Team Rabobank. Es ist für Dekker eine Erleichterung und quasi der Beginn dieser Biographie, erzählt er: "Als ich es niederschrieb, fühlte ich es als eine Hilfe, dass zumindest alles jetzt herauskam. Ich kann jetzt mein Leben fortsetzen, mit 32 Jahren. Es war ein wichtiges Kapitel in meinem Leben und ich habe dadurch eine Menge gelitten."
    Danach fährt er zwar noch Radrennen, aber nur auf dem Papier, nicht mehr mit dem Herzen. Die Angst vor einem Leben ohne Radsport ist zu groß. Dekker lässt sich auf den Versuch ein, den Stundenweltrekord anzugreifen. Er verpasst ihn knapp. Um 271 Meter. Danach hat er es einfach satt. Das Training, die Rennen, die Schinderei und vor allem die Heuchelei. Er ruft seinen Vater an und sagt: Papa, ich höre auf. Dessen Erleichterung ist ihm anzuhören.
    Doch die Vergangenheit holt Dekker ein. Er wird massiv vom Weltradsport-Verband, UCI, gedrängt, gegen sein Idol Boogerd aussagen. Man droht ihm eine erneute Sperre an, wenn er nicht aussagt. Die UCI will Boogerd wegen Beihilfe zum Doping länger als zwei Jahre sperren. Dekker lehnt ab, er kann nicht jemanden für etwas bluten lassen, was er selbst gemacht hat. Die UCI lenkt ein und entschuldigt sich für ihr Vorgehen. Eine für Dekker unerwartete, aber versöhnliche Reaktion. Versöhnt hat sich Dekker auch mit sich selbst.
    Durch seine Biographie hat er endgültig die Vergangenheit loslassen können. Er hat alle und alles schonungslos benannt. Namen von anderen Radprofis, Ärzten, Sportlichen Leitern und Managern. Dekker hat dieses Buch nicht nur für sich geschrieben, sagt der heute 32-Jährige: "Ich habe es geschrieben, um vielleicht einigen die Augen zu öffnen, damit junge Athleten, egal aus welcher Sportart, vielleicht etwas daraus lernen können. Damit sie erkennen, dass die Entscheidungen, die man in jungen Jahren trifft, das gesamte Leben beeinflussen können. Wenn das Buch dazu ein wenig beitragen könnte, wäre ich glücklich."
    Angaben zum besprochenen Buch:
    Thomas Dekker: "Unter Profis". Covadonga Verlag Bielefeld. Erscheinungsdatum: 1. Juli 2017. Aufgezeichnet von Thijs Zonneveld. Aus dem Niederländischen übersetzt von Rainer Sprehe. 14,80 Euro.